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Am 17. Oktober 1910, dem Geburtstag seiner Mutter, schießt sich Carlo Michelstaedter mit dreiundzwanzig Jahren in Görz ein Loch in den Kopf und ist sofort tot. Egyd Gstättner schickt, fast ein Jahrhundert danach, einen ambitionierten Schriftsteller auf die Spur der rätselhaften Tat und ihrer Vorgeschichte und verwebt so die historische Gestalt mit der Gegenwart. Er stößt auf Briefe des schwärmerischen, talentierten jungen Mannes, in denen dieser seinem besten Freund sein Leid klagt, vollzieht dessen Reisen von Wien über Görz bis Florenz nach und findet so immer tiefer in die Psyche des…mehr

Produktbeschreibung
Am 17. Oktober 1910, dem Geburtstag seiner Mutter, schießt sich Carlo Michelstaedter mit dreiundzwanzig Jahren in Görz ein Loch in den Kopf und ist sofort tot. Egyd Gstättner schickt, fast ein Jahrhundert danach, einen ambitionierten Schriftsteller auf die Spur der rätselhaften Tat und ihrer Vorgeschichte und verwebt so die historische Gestalt mit der Gegenwart. Er stößt auf Briefe des schwärmerischen, talentierten jungen Mannes, in denen dieser seinem besten Freund sein Leid klagt, vollzieht dessen Reisen von Wien über Görz bis Florenz nach und findet so immer tiefer in die Psyche des verkappten Zeichners und Philosophen. Es ist das Psychogramm eines Gefangenen seiner selbst, den seine Sehnsüchte und seine Sinnsuche ebenso überfordern wie die übermächtige Mutter. Je mehr sich der Schriftsteller aus dem Jetzt in den Philosophen von damals hineinlebt, umso mehr vermischen sich die Erzählungen - und am Ende scheint es, als habe Carlo Michelstaedter keine andere Wahl gehabt, als sich umzubringen.Egyd Gstättner lässt in seinem raffinierten und zugleich vergnüglichen Künstlerroman spielerisch die Grenzen zwischen Heute und Gestern verschwimmen. Mit ironischen Seitenhieben auf ein sehr heutiges Leben und klug gewählten Episoden aus dem Leben des realen Carlo Michelstaedter zwischen Groteske und Tragik entfaltet sich so ein fesselnder Gegenwartsroman, der die Vergangenheit als sinnreiche Folie verwendet.Ein geistreicher, fesselnder Roman über ein vielversprechendes Künstlerleben und zu große Erwartungen.
Autorenporträt
Egyd Gstättner, geboren 1962, lebt als freier Autor in seiner Heimatstadt Klagenfurt. Ständige Publikationen in »Kleine Zeitung« und »Die Presse« sowie in vielen anderen nationalen und internationalen Medien. Zahlreiche Preise und Auszeichnungen. Im Picus Verlag erschienen unter anderem »Ein Endsommernachtsalbtraum«, »Das Geisterschiff«, »Am Fuß des Wörthersees«, »Das Freudenhaus« (2015), »Karl Kraus lernt Dummdeutsch« (2016) sowie »Wiener Fenstersturz« (2017). »Die Familie des Teufels. Allein gegen die Literaturgeschichte« erschien 2018, 2019 erschien »Mein Leben als Hofnarr. Es ist verdammt hart, Egyd Gstättner zu sein«. Im Frühjahr 2020 erscheint »Klagenfurt. Was der Tourist sehen sollte«. members.aon.at/gstaettner
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 19.02.2009

Die Kugel der Empfindsamkeit
„Ich löschte mich aus”: Egyd Gstättners Roman über den italienischen Dichter und Philosophen Carlo Michelstaedter
Außerhalb Italiens ist der in jungen Jahren durch eigene Hand verstorbene Philosoph, Dichter, Maler und Zeichner Carlo Michelstaedter (1887-1910) wohl nur den aufmerksamen Lesern der Romane und Essays des Triester Schriftstellers und Literaturprofessors Claudio Magris bekannt. In Magris’ Erzählung „Ein anderes Meer” aus dem Jahr 1992 ist Michelstädter der große und ferne Abwesende, der von seinem nach Argentinien ausgewanderten Jugendfreund Enrico Mreule als „Buddha des Westens” verehrt wird. „Carlo”, heißt es dort, „ist das empfindsame Bewusstsein des Jahrhunderts.”
Das sind starke Worte über einen jungen Mann, der sich aus seinem Säkulum, kaum dass es begonnen hatte, schon wieder davonmachte und den noch kommenden Katastrophen entging: Millionenfacher Tod erwartete Michelstaedters Generation auf den Schlachtfeldern des Ersten Weltkriegs – und ein besonders grauenhaftes lag direkt vor dem Haus seiner Familie im damals noch österreichisch-ungarischen Görz an den Ufern des Grenzflusses Isonzo. Auch blieb Carlo, der einer jüdischen Familie entstammte, das Schicksal erspart, das noch seine ältere Schwester und sogar die Mutter im hohen Alter traf: nach Auschwitz deportiert zu werden und in der Gaskammer umzukommen.
Magris’ Urteil über Michelstaedter bezieht seine Rechtfertigung aus einem kleinen und unauffälligen, aber offenbar unter starkem Herzklopfen geschriebenen Werk, das Carlo seiner letzten Tat vorausschickte: Noch in der Nacht stellte er seine am Studienort Florenz begonnene Dissertation fertig, verzierte das Titelblatt mit der Zeichnung einer Öllampe, kritzelte dazu die Worte „io mi spensi” („ich löschte mich aus”) und schoss sich am nächsten Morgen eine Kugel in den Kopf, aus einer Pistole, die ihm der Freund Enrico vor der Einschiffung nach Buenos Aires zur Aufbewahrung hinterlassen hatte. Der postum veröffentlichte, 1999 im Frankfurter Verlag Neue Kritik auch ins Deutsche übersetzte Traktat „Überzeugung und Rhetorik” ist wohl eine der merkwürdigsten Dissertationen, die je verfasst wurden, eine aus dem Geist Schopenhauers, Ibsens und der Lebensphilosophie verfasste Abrechnung mit allem nachplatonischen abendländischen Denken, eine flammende Bekenntnisschrift an der Grenze zur Poesie.
Das ist auch der Stoff, aus dem der Roman „Der Mensch kann nicht fliegen” des rund drei Generationen später in Kärnten geborenen und in der Grenzstadt Klagenfurt lebenden Schriftstellers Egyd Gstättner gestrickt ist: Carlo Michelstaedter – aus dessen Leben nur spärliche Nachrichten überliefert sind, die er seinen Eltern in Briefen aus Florenz mitteilte – ist der Held, der in fiktiv wiederaufgefundenen, brieflich an seinen Florentiner Mentor gerichteten Monologen philosophiert und auf sein kurzes Leben zurückschaut. „Nie” aber, so lässt Gstättner seinen Michelstaedter sagen, würde er „einen historischen Roman schreiben” oder auch nur „eine historische Figur ihre Geschichte erzählen” lassen, weil er sich in dieser Figur dann nur selbst bespiegeln würde.
Gstättner hingegen kennt diese Scheu nicht und stellt seinem historischen Helden einen geplagten Gegenwartsautor als Alter Ego seiner selbst zur Seite: Auf der Route der einstigen k. u. k. Südbahn von Wien über Klagenfurt durch Slowenien über Görz und Grado nach Triest und weiter auf der istrischen Halbinsel macht dieser sich auf die Suche nach Carlo Michelstaedter und rückt ihm dabei so dicht auf die Pelle, dass beider Perspektiven sich am Ende kaum noch voneinander unterscheiden lassen.
Herausgekommen ist der Roman eines, eigentlich zweier Intellektueller, die an ihren mitteleuropäischen, von Mythen schwangeren und Melancholien gesättigten Schauplätzen unter dem Kardinalproblem aller Geistesmenschen leiden, dass das Denken nur selten den Weg zum Handeln und zur Tat findet. Bei Gstättner, dessen Erzähler die Motive und Antriebe seines historischen Helden gar zu genau zu durchschauen glaubt, changiert diese schon so oft – von den Tagebüchern des jungen Georg Lukács bis zu den Romanen von Robert Menasse – inszenierte und parodistisch reinszenierte Geschichte zwischen überlieferter Tragödie und deren grotesker Kolportage.
Lang ist die Literaturschlange, die dieser Roman im Gepäck hat. Auch Sigmund Freud ist dabei, der dem jungen Michelstaedter auf der Wiener Berggasse über den Weg läuft. Da sich die Schlange bei ihren terrestrischen wie gewässernahen Unternehmungen aber beständig in den eigenen Schwanz beißt, kommt sie nicht so recht vom Fleck und leidet nur um so mehr unter der traurigen Schwere eines Seins, das – wie in Carlo Michelstaedters Fall – allein im Verfassen von Gedichten und im unentwegten Skizzieren und Zeichnen, Kritzeln und Schreiben ein wenig Linderung und Erleichterung erfährt. Fliegen aber, das kann auch die Literaturschlange nicht, und so bleibt dieser Roman, dem man auch seinen sardonischen Witz nicht immer so recht abnehmen mag, ein irgendwie zähes, ledernes Konstrukt.
Um so mehr, wenn man darin einen Satz liest, der kurz nach dem Erscheinen des Buchs fast wörtlich in der Dankesrede des Büchnerpreisträger 2008 wiederkehrte: „Die Selbstmordgedanken sind mein Lebensmittel”, lässt Gstättner seinen Michelstaedter sagen, woraus bei Josef Winkler – auch er in Klagenfurt lebend – ein eleganteres „Der Selbstmord war mein täglich Brot” wurde. Tu felix Austria! „In deinem Lager Österreich” – da wollen wir speisen, da wollen wir das Fleisch der Schlange verzehren.
VOLKER BREIDECKER
EGYD GSTÄTTNER: Der Mensch kann nicht fliegen – der letzte Tag des Carlo Michelstaedter. Roman. Picus Verlag, Wien 2008, 222 Seiten, 19.90 Euro.
Carlo Michelstaedter Foto: Biblioteca Civica di Gorizia
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.sz-content.de
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension

Ohne Freude hat sich Volker Breidecker durch Egyd Gstättners Roman über den Philosophen, Dichter und Maler Carlo Michelstaedter gekämpft. Michelstaedter wurde 1887 geboren und nahm sich 1910 das Leben, nachdem er die nach Einschätzung des Rezensenten "merkwürdigste" Dissertation aller Zeiten geschrieben hatte. Gstättner lässt nun einen Gegenwartsautor, der wie Michelstaedter an den Melancholien der Geistesmenschen leidet, dem Leben der historischen Figur nachspüren, wobei er für den Geschmack Breideckers allzu intimen Einblick in die inneren Beweggründe des jungen Philosophen zu haben meint. Diesem doppelten Intellektuellenroman kann der Rezensent auch deshalb nicht viel abgewinnen, weil er seiner Meinung nach mit allzu viel Literatur belastet ist, was ihn zu einer ziemlich "zähen" Lektüre mache. Und selbst der "sardonische Witz", mit dem Gstättner seine Geschichte unterlegt, vermag den Rezensenten nicht von diesem Roman zu überzeugen.

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