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Norman Lewis führt Tagebuch über seine Zeit als Nachrichtenoffizier in Neapel, von Herbst 1943, der Landung der alliierten Truppen bei Salerno, bis zu seiner Abberufung im Herbst 1944. Er verzeichnet Gewalt, Unfähigkeit, Not, Witz, Erfindungsgeist und Verstellungskunst der Bewohner dieser fernen, "orientalischen" Stadt am Ende des großen Krieges. Seine Chronik ist eine Initiation ins Neapolitanische. Das Buch urteilt nicht, sondern beobachtet und registriert mit großer Anteilnahme und doch mit Distanz.

Produktbeschreibung
Norman Lewis führt Tagebuch über seine Zeit als Nachrichtenoffizier in Neapel, von Herbst 1943, der Landung der alliierten Truppen bei Salerno, bis zu seiner Abberufung im Herbst 1944. Er verzeichnet Gewalt, Unfähigkeit, Not, Witz, Erfindungsgeist und Verstellungskunst der Bewohner dieser fernen, "orientalischen" Stadt am Ende des großen Krieges. Seine Chronik ist eine Initiation ins Neapolitanische. Das Buch urteilt nicht, sondern beobachtet und registriert mit großer Anteilnahme und doch mit Distanz.
Autorenporträt
1908 in Essex geboren, gestorben 2003, war einer der letzten großen Reiseschriftsteller. Sein Interesse für Kulturen im Umbruch führte ihn nach Frankreich, Spanien, Italien, nach Kambodscha, Laos, Vietnam und Burma, nach Kuba sowie an den Amazonas. Er ist Verfasser mehrerer Romane und zahlreicher Reiseberichte.
Rezensionen

Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension

Maike Albath gefallen die Nüchternheit und der unbestechliche Blick des britischen Reiseschriftstellers Norman Lewis. Seine neuaufgelegten Beobachtungen aus dem Neapel des Jahres 1944 scheinen Albath von der skeptischen Haltung ihres Autors der britischen und amerikanischen Besatzungspolitik gegenüber und von der Liebe zum Süden geprägt zu sein. Vor dem Hintergrund der jüngsten Geschichte in Afghanistan, im Irak und in Syrien für Albath eine besonders aufschlussreiche Lektüre. Ob Lewis über Schwarzmarktaktivitäten schreibt oder die untergründigen Gesetze der Stadt, nie wird er überheblich oder mystifizierend, sondern bleibt humorvoll und anteilnehmend, versichert Albath, die das Buch als Ergänzung zu Curzio Malapartes Neapel-Roman "Die Haut" empfiehlt.

© Perlentaucher Medien GmbH

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 03.06.2016

Eine Contessa weiß sich zu helfen

Als englischer Offizier im kriegsversehrten Italien: Norman Lewis' Tagebuch über das Leben 1944 in Neapel zeigt mehr von der Vitalität der Stadt am Vesuv als jede Beschwörung in Reiseführern.

Es muss ein überwältigendes Gefühl für Norman Lewis gewesen sein, als er am frühen Abend des 9. September 1943 in Paestum gelandet war: "Wir sahen hinaus ins Offene auf eine Szene von unirdischer Verzauberung. Wenige hundert Yards von uns standen in einer Reihe die drei vollkommenen Tempel von Paestum, rot und glühend und großartig im letzten Sonnenlicht. Es geschah wie eine Erleuchtung, einer der großen Augenblicke des Lebens." Eindrücke des Unwirklichen und, schon im nächsten Satz, Kontraste: "Doch in dem Feld zwischen uns und dem Tempel lagen zwei gefleckte Kühe, die Beine himmelwärts." Brüche, Widersprüche, Ungleichzeitigkeiten, von denen er ein Jahr lang noch viele zu sehen bekommen wird.

Der Brite Norman Lewis, Jahrgang 1908, nimmt an der Befreiung Italiens durch die Alliierten als Nachrichtenoffizier des 312. Field Security Service teil. Das ist eine Schar von nur zwölf Freiwilligen, die als Teil der Fünften US-Armee mit dem Schiff von Algerien in den Golf von Salerno übersetzt, um sich, kaum vorbereitet und weitgehend auf sich selbst gestellt, dem Invasionskonvoi anzuschließen und nach Neapel vorzudringen. Die deutschen Truppen sind auf dem Rückzug, um einen Brückenkopf wird noch erbittert gekämpft, letzte Zerstörungen, Plünderungen und Gewalttaten finden statt. Eine "verblüffte Gleichgültigkeit" kennzeichnet die Stimmung der Zivilbevölkerung, "der apathische Faschistengruß der letzten Woche hatte sich in das apathische V-Zeichen des heutigen Tages verwandelt". Am 6. Oktober erreicht Lewis die Stadt, wo er etwas länger als ein Jahr stationiert bleibt und ein faszinierendes Tagebuch schreibt: "Neapel '44. Ein Nachrichtenoffizier im italienischen Labyrinth". Erst 1978 hat er es veröffentlicht, 1996 wurde es erstmals auf Deutsch publiziert und nun, dreizehn Jahre nach dem Tod des Autors, wieder aufgelegt.

Auch in Neapel stößt Lewis auf Ruinen, ganz andere als in Paestum: "Ruinen sind überall, die manchmal die Straßen ganz versperren, Bombenkrater und verlassene Straßenbahnen. Das Hauptproblem ist Wasser." Die Stadt ist am Boden. Zwei Luftangriffe, der letzte am 6. September, haben alle Leitungen zerschlagen. Es herrschen Durst und Hunger. Die Jagd nach Essen ist "genauso unersättlich und erfindungsreich" wie nach Liebe, und die Metzger arrangieren den Abfall so kunstfertig wie die Menschen ihr Elend: So lässt sich eine Contessa, die einen britischen Offizier heiraten möchte, von ihrer Armut nichts anmerken, als Lewis ihre Ehewürdigkeit überprüft. Das schlossähnliche Haus, die Ausstattung mit Wandteppichen und Antiquitäten und die elegante Kleidung sind nur zusammengeliehen, als sie ihn mit "königlichem Auftreten" empfängt, doch das erfährt Lewis erst vier Tage später, als er zufällig noch einmal vorbeischaut. Von einem anderen Verkleidungstrick erzählt die Geschichte "über einen gewissen hochrangigen Beamten der alliierten Militärregierung", der von der Frau eines Industriellen, den er wegen Hehlerei ins Gefängnis gebracht hat, hereingelegt wird: Die Gattin heuert eine Prostituierte an, die an ihrer Stelle, in ihren Kleidern und mit ihrem Schmuck, den Offizier aufsucht und bezirzt. Zwei Tage später ist der kriminelle Ehemann frei.

Lebenstheater, das zur Überlebenskunst wird und zum Wesen der Stadt gehört. Der Rechtsanwalt Vincente Lattarullo, den Lewis in den ersten Tagen kennenlernt, ist, auch wenn er, da Rom noch nicht befreit ist, auf seinen einträglichen Nebenberuf verzichten muss, ihr Botschafter: Auf Beerdigungen spielt er, um das Ansehen der Hinterbliebenen zu steigern, den "Onkel aus Rom", der verbreiten lässt, dass er gerade aus dem Expresszug gestiegen sei, oder im Armenviertel im Alfa Romeo mit SPQR-Plakette vorfährt. Patrizisches Gehabe und angelernter Tonfall inklusive.

Not macht erfinderisch - das gilt unter den extremen Nachkriegsbedingungen im Quadrat. Die Repräsentanten der Siegermächte werden mit einer Flut von Gerüchten, Verdächtigungen und Verleumdungen bedrängt, die sie verwirren und ihre Kräfte binden sollen, es wird geheuchelt und gelogen, dass sich die Balken biegen, und geklaut, was nicht niet- und nagelfest ist, vom Telegrafenmast bis zum Kanaldeckel, ganze Schiffe und Autobusse werden zerlegt und die Einzelteile auf dem Schwarzmarkt verschoben. Ein Orchester, das in San Carlo auftritt, steht nach einer kurzen Pause ohne Instrumente da, die Zuhörer tragen Mäntel, die aus Armeedecken geschneidert sind. Die Schattenwirtschaft und die Prostitution florieren, Recht und Gesetz werden gebeugt und umgangen, der Wunderglaube mobilisiert die Massen: "In Pomigliano haben wir einen fliegenden Mönch, der auch seine Stigmata zeigt. Der Mönch behauptet, dass er letztes Jahr gelegentlich eines Luftkampfs, der sich gerade zutrug, in den Himmel aufgestiegen sei, um den Piloten des getroffenen Flugzeugs in seinen Armen aufzufangen und ihn sicher zur Erde zu bringen. Die meisten Neapolitaner, die ich kenne - manche davon gebildete Leute -, sind überzeugt, dass diese Geschichte wahr ist", notiert Lewis am 29. März 1944. Die Fußnote hat es in sich: "Dieser Mann wurde später der gefeierte Padre Pio."

Einmal taucht kurz das "gequälte Gesicht" von Curzio Malaparte auf, zu dessen Roman "Die Haut" (1949) es Parallelen gibt, und Eugenio Reale, mit dem Lewis sich anfreundet, entwindet sich jeder Verbindlichkeit. Doch "Neapel '44" ist kein politisches Buch, auch wenn Lewis schildert, dass er mit der Untersuchung einer klandestinen Partei, "der neofaschistische Tendenzen nachgesagt werden", namens "Forza Italia!" beauftragt wird oder kriminelle Strukturen und Machenschaften beschreibt, wie sie bis heute herrschen, denn mit der Befreiung kam die Camorra aus Amerika zurück. Der Ausbruch des Vesuvs am 19. März 1944 ist für Lewis der "grandioseste und schrecklichste Anblick, den ich jemals gesehen habe" und zugleich ein Ereignis, das die "Sehnsucht nach Wundern und Heilmitteln" die kuriosesten Blüten treiben lässt.

Der Nachrichtenoffizier, der im piano nobile eines Palazzo an der Riviera di Chiaia, der vornehmen Uferpromenade, Quartier bezieht, hat auch ein Auge für die unfassbare Schönheit der Stadt, aber er hält sich nicht lange auf damit, und von ihrer Küche kriegt er, die Zeiten sind nicht danach, so wenig mit, dass sein Journal das einzige Neapel-Buch sein dürfte, in dem das Wort "Pizza" nicht vorkommt. Anarchie, organisierte Kriminalität, das Unvermögen der Verwaltung, Korruption, Sabotage, Opportunismus, Prostitution, Mord, Rufmord und Vendetta - Norman Lewis registriert Vergehen und Verbrechen genau, unbestechlich und mit trockenem Witz, und doch erscheint die Stadt nicht, wie in der Darstellung eines späteren Chronisten, als "Gomorrha" oder als eine Illustration des berühmten Diktums von Benedetto Croce, der sie 1923 "ein Paradies, bewohnt von Teufeln", genannt hat.

Einem weltläufigen, mit angelsächsischem Common Sense gesegneten Intellektuellen wie Lewis, der mit der Landessprache, wie er mehrfach einfließen lässt, auch in Feinheiten vertraut ist, musste Neapel vor allem fremd - "uneuropäisch" und "orientalisch" - vorkommen, als eine Stadt, die der Krieg "ins Mittelalter zurückgestürzt hat". Doch hält er sich mit Urteilen zurück. Darauf bedacht, Distanz zu halten, verlässt er sich auf seinen unvoreingenommenen Blick, den nüchterne Neugier und die Fähigkeit zu staunen lenken: "Neapel ist in jeder Hinsicht außerordentlich." Als Lewis am 24. Oktober 1944 erfährt, dass er nach Port Said versetzt wird, trifft ihn das "wie ein Blitz". Vier Tage zuvor erst hat er seine "große Bewunderung" für die Italiener, ihre "Menschlichkeit und Kultur" bekundet und bekannt, dass er, gäbe es die Chance, gerne als Italiener wiedergeboren würde.

Ein Jahr in Neapel. Was Norman Lewis vor mehr als zwei Generationen erlebt und notiert hat, ergibt nichts Geringeres als eine Einführung in die Seele der unergründlichen Stadt, wie sie in keinem Reiseführer steht: in die Lebensformen und Mentalität der Neapolitaner, ihre Vitalität und ihre Würde, ihre Phantasie und ihren Fatalismus, die in der vermeintlichen Stunde null unverstellt von Kitsch und Klischees zutage treten.

ANDREAS ROSSMANN

Norman Lewis: "Neapel '44." Ein Nachrichtenoffizier im italienischen Labyrinth.

Aus dem Englischen von Peter Waterhouse. Folio Verlag, Wien und Bozen, 2016. 240 S., geb., 22,90 [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 27.06.2016

Im Schatten des Vesuv
Der britische Nachrichtenoffizier Norman Lewis kam im Frühjahr 1944 nach Neapel – und schrieb ein großartiges Tagebuch
über das Ineinander von Schwarzmarkt, Wunderglauben und Vulkanausbruch in der besetzten Stadt
VON MAIKE ALBATH
Ein alter, dürrer Schrotthändler zieht im Januar 1944 mit seinem Handkarren durch die Gassen einer Kleinstadt bei Neapel und wird von einer alliierten Militärpatrouille kontrolliert. Erfreut bietet er eine Rolle Kupferdraht zum Kauf an: Er könne noch mehr beschaffen, falls Bedarf bestehe. Dass der Draht aus Telefonleitungen stammt, die von den Briten gerade erst verlegt wurden, ist ihm nicht bewusst. Der arme Mann landet im Gefängnis. Der Nachrichtenoffizier Norman Lewis, wegen seiner Italienischkenntnisse nach der Landung der Alliierten in Neapel stationiert, hält die Episode in seinem Tagebuch fest. Man zieht ihn hinzu, er sucht den klapprigen Händler im Gefängnis Poggioreale auf. Der naive Kleinganove tut ihm leid, und er bemüht sich, Einfluss zu nehmen. Umsonst. Das Gerichtsverfahren wird zur Farce, denn die Polizei kann den Angeklagten im überfüllten Poggioreale am Prozesstag schlichtweg nicht finden – er gilt als abwesend und bekommt die Höchststrafe, während seine Frau zu Hause verhungert. Die kriminellen Banden, die den Schwarzmarkt betreiben und Neapel längst wieder in der Hand haben, bleiben unangetastet.
  Mit wohltuender Nüchternheit und unbestechlichem Blick schildert Norman Lewis, Jahrgang 1908 und einer der renommiertesten britischen Reiseschriftsteller der Nachkriegszeit, die komplizierten Verhältnisse. „Neapel ’44. Ein Nachrichtenoffizier im italienischen Labyrinth“ heißt sein Tagebuch, das kurz vor der Landung der Alliierten an der italienischen Küste am 8. September 1943 beginnt und bis zu Lewis’ Abberufung am 24. Oktober 1944 reicht. Im Original erschien der Band, der die Besatzungspolitik der Briten und Amerikaner äußerst skeptisch beurteilt und zum Beispiel von Massenvergewaltigungen italienischer Frauen durch französische Kolonialtruppen berichtet, erst 1978. Damals war Lewis bereits ein berühmter Autor, hatte eine ganze Serie erfolgreicher Bücher über Spanien, Kambodscha, Vietnam, Birma und die sizilianische Mafia vorgelegt und konnte sich die unverhohlene Kritik an den Streitkräften leisten. Außerdem lag der Krieg eine Weile zurück.
  Von Graham Greene und Anthony Burgess hochverehrt, machte Lewis, der 2003 im Alter von 95 Jahren starb, kaum Aufhebens von sich. Vielleicht war er deshalb ein so guter Beobachter. Auf Deutsch erschien sein Italien-Tagebuch „Neapel ’44“, von Peter Waterhouse glänzend übersetzt, erstmals 1995. Die sorgfältig gestaltete Neuausgabe bei dem kleinen Bozener Verlag Folio ist vor dem Hintergrund der aktuellen Erfahrungen in Afghanistan, dem Irak und Syrien besonders lesenswert.
  Italien schloss am 8. September 1943 mit den Alliierten einen Waffenstillstand, und wenige Stunden später gingen in Salerno amerikanische und britische Truppen an Land. Von Sizilien aus, wo die Alliierten bereits am 10. Juli noch vor Mussolinis Sturz gelandet waren, arbeiteten sich die Truppen Richtung Festland vor. An der Küste vor Paestum brach unter den Besatzern Chaos aus: pokerspielende Feldwebel, Soldaten, die größtenteils noch nie eine Schusswaffe bedient hatten, widersprüchliche Befehle, versehentlicher Beschuss durch die eigene Armee. Die größte Belastung sei die nervliche Verfassung der jungen Bauern aus Wisconsin und Kansas, bemerkt Lewis.
  Statt Panzer und Stacheldraht finden die Männer am Strand Berge von Büromöbeln für das zukünftige Hauptquartier vor. „Ich werde nie verstehen, was die Deutschen davon abhielt, uns zu erledigen“, hält der Brite lakonisch fest. Anfang Oktober kommt er nach Neapel und ist von dem undurchschaubaren Gewimmel in der fremden Stadt sofort in den Bann geschlagen. Unter der Bevölkerung herrscht in den ersten Wochen bittere Not, auf die man aber mit Gewitztheit zu reagieren weiß.
  „Neapel ’44“ ist ein eindrucksvolles Dokument. Das liegt zum einen an dem brisanten Stoff, zum anderen an der lebendigen Erzählweise und den scharf gezeichneten Porträts. Tagaus, tagein schaut Lewis zu, wie in den an sein Büro angrenzenden Palazzi die Straße zum Wohnzimmer wird. Jede Familie trägt einen Tisch hinaus, man erledigt Hausarbeit, nimmt die kärglichen Mahlzeiten gemeinsam ein und stattet den Nachbarn Besuche ab. Jeder ist auf der Suche nach Essbarem. Der tropische Fischbestand des berühmten Aquariums ist längst verzehrt. Mütter bieten ihre gerade geschlechtsreifen Töchter feil und halten den Besatzern Preislisten unter die Nase, junge Frauen bemühen sich um Eheschließungen mit alliierten Soldaten, der Schwarzmarkt boomt. Zu allem Überfluss bricht im März 1944 auch noch der Vesuv aus und zerstört das Dorf Massa.
  Lewis schließt Freundschaft mit einer seiner zivilen Kontaktpersonen, dem verarmten Adligen Vincente Lattarullo. Der beschäftigungslose Avvocato schlägt sich als professioneller Beerdigungsgast durch, denn zu einem respektablen Begräbnis gehört in Neapel immer auch ein „Onkel aus Rom“. Lattarullo zieht seinen letzten schwarzen Anzug an, trifft mit einem pompösen Auto ein, spricht mit unverkennbar römischem Akzent und trägt seine Trauer formvollendet zur Schau. Er liefert dem staunenden Nachrichtenoffizier immer wieder Einblicke in die untergründig waltenden Gesetze der Stadt.
  Erfahrungen mit Wunderglauben gehören für Norman Lewis bald ebenso zum Alltag wie Kenntnisse über der strategischen Organisation paralleler Liebschaften, wie sie etliche Damen zu bewerkstelligen wissen. Nie trägt der Nachrichtenoffizier die moralische Überlegenheit eines Siegers zur Schau, im Gegenteil, immer wieder werden Anteilnahme und Humor spürbar. Man kann „Neapel ’44“ als erhellende Ergänzung zu Curzio Malapartes gleißendem Neapel-Roman „Die Haut“ von 1949 lesen. Aber anders als Malaparte, der das Obszöne und Makabre wie eine Offenbarung beschreibt, mystifiziert Lewis die Stadt nicht.
  Als Norman Lewis sich ernsthaft bemüht, einem einflussreichen Schwarzmarkthändler das Handwerk zu legen, beißt er auf Granit. Er kann den Übeltäter, der – wie Harry Lime in Graham Greenes „Der dritte Mann“ – im großen Stil Penicillin aus den alliierten Lieferungen entwendet und verscherbelt, zwar hinter Gitter bringen. Aber nach kurzer Zeit trifft er ihn nicht mehr in Poggioreale an – man habe ihn wegen einer Blinddarmentzündung in ein ziviles Krankenhaus verlegt, ohnehin sei der Mann nicht verhandlungsfähig. Lewis durchschaut die Machenschaften. Die Amerikaner sind nicht nur mit etlichen italo-amerikanische Soldaten nach Italien gekommen, die sich widerstandslos in das korrupte System Süditaliens einfügten, sondern sie haben hochrangige Mafiosi aus den Gefängnissen entlassen und an Schaltstellen installiert. Die einflussreichen Bosse schienen eine Alternative zum Verwaltungspersonal der Faschisten zu sein. Lucky Luciano wurde zur Schlüsselfigur, und in Neapel hat Vito Genovese eine unanfechtbare Stellung in der Militärregierung inne.
  Die Befriedung des Territoriums hatte einen hohen Preis – sie verstärkte die vorhandenen kriminelle Strukturen. Diese Erkenntnisse über die Kehrseite militärischer Befreiungszüge macht die Lektüre von „Neapel ’44“ im frühen 21. Jahrhundert besonders aufschlussreich. Dass dies Norman Lewis’ tiefer Liebe zum Süden keinen Abbruch tut, ist wohl typisch. Sollte er jemals wiedergeboren werden, dann wäre Italien das Land seiner Wahl.
„Ich werde nie verstehen, was
die Deutschen davon abhielt, uns
zu erledigen“, notiert Lewis
Einer der Schwarzhändler
verscherbelt Penicillin – wie
Harry Lime in „Der dritte Mann“
Im März 1944 steigerte der bisher letzte große Ausbruch des Vesuv die Unruhe der unmittelbaren Nachkriegszeit in Neapel, das von alliierten Truppen besetzt wurde. Der britische Nachrichtenoffizier Norman Lewis hielt die Atmosphäre in seinem Tagebuch fest. Jetzt ist eine lesenswerte Neuausgabe erschienen.
Foto: AP
  
  
Norman Lewis: Neapel ’44. Ein Nachrichtenoffizier im italienischen Labyrinth. Aus dem Englischen von Peter Waterhouse. Folio Verlag, Wien und Bozen 2016.
238 Seiten, 22,90 Euro. E-Book 16,99 Euro.
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