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Die Memoiren eines nach Australien ausgewanderten Erotomanen ziehen den Archivar Janez Lipnik in ihren Bann. Er beginnt, sich mit dessen Bekenntnissen näher zu befassen und gerät in den Strudel einer Geschichte, die im besetzten Jugoslawien der 1940er-Jahre ihren Ausgang nimmt.

Produktbeschreibung
Die Memoiren eines nach Australien ausgewanderten Erotomanen ziehen den Archivar Janez Lipnik in ihren Bann. Er beginnt, sich mit dessen Bekenntnissen näher zu befassen und gerät in den Strudel einer Geschichte, die im besetzten Jugoslawien der 1940er-Jahre ihren Ausgang nimmt.
Autorenporträt
Drago Jancar, geboren 1948 in Maribor. Zahlreiche Preise und Auszeichnungen, u. a.: 1993 Preseren-Preis, 1994 Europäischer Preis für Kurzprosa, 2003 Herder Preis, im Jahr 2011 wurde ihm der Prix Européen de Littérature verliehen. Seine Essays und Stücke wurden in viele Sprachen übersetzt.

Daniela Kocmut, geboren 1980 in Maribor, ab 1991 aufgewachsen in Hermagor/ mohor in Kärnten/Koro ka. Sie lebt seit 1999 in Graz als Übersetzerin und unterrichtet Slowenisch bei Urania und treffpunkt sprachen an der Universität Graz. Studium der Translationswissenschaft in Graz und Dublin. Übersetzungen hauptsächlich literarischer Texte (Deutsch, Slowenisch, Englisch, Kroatisch). Zahlreiche Veröffentlichungen literarischer Übersetzungen aus dem Slowenischen ins Deutsche (u.a. Drago Jan ar, Maru a Krese, Katarina Marin i , Veno Taufer, Marjan Tom i , Zofka Kveder). Mehrere Übersetzungsstipendien, u.a. BMUKK-Arbeitsstipendium für Übersetzung 2009. Seit 2013 Werkstattleiterin beim internationalen Übersetzungsprojekt Trans-Star Europa .
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 09.03.2011

Im Wald der Kollaborateure
Drago Jancar erinnert an die Verbrechen des Antifaschismus
Im Volksglauben der alten Slowenen, die das wälderreiche Pohorje-Gebirge besiedelten, gab es einen mächtigen Baum, der den, der ihn erkletterte, in eine andere Zeit und an einen anderen Ort versetzte. Als er ein Kind war und etwas zu sehen oder zu hören bekam, wovor ihm graute, hat der Archivar Janez Lipnik sich immer vorgestellt, er sei gerade dabei, diesen Baum zu erklettern. Und schon hörte er nicht mehr, dass der Vater, ein gebrochen aus dem Konzentrationslager heimgekehrter Mann, nach ihm grölt, damit er den betrunkenen Gefährten Partisanenlieder vorsinge; und schon sieht er nicht mehr, wie Menschen auf andere Menschen einschlagen, sie mit Tritten und Prügeln auf Lastkraftwagen werfen, die sie in den Tod fahren werden. Als Kind hatte Janez nicht nur von den Verbrechen der Nationalsozialisten erfahren, die das Leben des Vaters zerstörten, sondern auch, wie es nach dem Krieg denen erging, die als Kollaborateure galten: Zu Tausenden wurden sie in den Rog, den Urwald der Gottschee, verfrachtet und dort in die Dolinen des Karsts geschossen.
Der 1948 in Maribor geborene Drago Jancar ist der Sohn eines hohen Partisanenoffiziers, wurde als Student im Jugoslawien Titos wegen Linksabweichung inhaftiert und später zu einem der führenden Intellektuellen des Landes, die sowohl die jugoslawische Hagiographie als auch die national-slowenische Mythologie kritisch befragten. Seiner Initiative und der einiger anderer ist es zu verdanken, dass eines der dunkelsten Kapitel der neueren slowenischen Geschichte aus der Verdrängung geholt wurde: der Massenmord an den Domobranzen, den antikommunistischen Milizionären, die mit den Deutschen und Italienern kollaborierten und, als sie besiegt und entwaffnet waren, nicht vor Gericht gestellt, sondern erschlagen und im Wald ermordet wurden. Dass dabei manche zu landesverräterischen Domobranzen erklärt wurden, die es gar nicht waren, sondern von Nachbarn, Konkurrenten aus eigensüchtigen Motiven denunziert wurden, war bei einem so gesetzlosen Rachefeldzug unausweichlich.
In die düsteren Jahre, als Slowenien okkupiert war, sich viele dem kommunistischen Widerstand anschlossen, andere zu den Domobranzen gingen, führt Jancars neuer Roman „Der Baum ohne Namen“ zurück. Der Autor wartet mit einer so virtuosen Komposition des Romans auf, dass diesem gelingt, was die Legende jenem Baum im Gebirge zuspricht: Wer ihn liest, wird im selben Moment in eine andere Zeit, an einen anderen Ort versetzt. Oder besser: Er wird an verschiedene Orte und in verschiedene Zeiten versetzt, denn Jancar weiß mit spielerischer Leichtigkeit die Räume und Zeiten zu wechseln.
Ein Geschehen aus dem Jahr 1943 wird in der Erzählgegenwart von 2000 fortgesetzt, eine Geschichte, die in einem Dorf während des Zweiten Weltkriegs beginnt, wird auf der Insel Dugi otok fünfzig Jahre später, während eines anderen Krieges, an dem Jugoslawien zerfallen sollte, wieder aufgegriffen. Jancar ist ein souveräner Kompositeur, der in seinem orchestralen Romanwerk die Motive in immer neuen Variationen durchspielt. Das Buch beginnt nicht mit dem ersten, sondern dem 87. Kapitel, schreitet zum 99. fort, um dann mit dem ersten neu anzusetzen. Chronologisch werden hierauf alle Kapitel bis zum 86. Kapitel erzählt, das 100., auf das man wartet, aber gibt es nicht; den weitverzweigten Romanbau überblickend, muss es am Ende jeder Leser für sich selbst erschaffen.
Der Archivar Janez Lipnik ist sechzig, führt keine gute Ehe und langweilt sich in seinem Amt, in dem er den Kataster von Grundstücken verwalten, bei Streitigkeiten um Gemeindegrenzen in alten Folianten nachschauen und ähnlich aufregende Dinge tun muss. Eines Nachts, als er erwacht und seine Frau nicht neben ihm im Bett liegt, erkennt er, dass er sich nicht in Ljubljana befindet, sondern in einem finsteren Wald. Bei einem einsamen Haus klopft er an, eine schöne Frau öffnet ihm die Tür und lässt ihn, den sie für einen jungen Flüchtling hält, herein. Sie ist Lehrerin und wartet auf ihren Geliebten, Aleksij, den Haudegen einer antikommunistischen Miliz, die jetzt, im Jahr 1944, gerade endgültig besiegt wird.
In glänzend erzählten Episoden zeichnet Jancar das Chaos der letzten Kriegsmonate, in denen zwischen der jungen Lehrerin Zala und dem Offizier Aleksij eine tiefe Liebe blüht, von der zu erzählen in Slowenien nachgerade ein nationales Tabu war: ist es doch die Liebesgeschichte einer unpolitischen Lehrerin, die sich in einen Mann verschaut hat, der auf der falschen Seite für die schlechte Sache kämpfte.
So viel wissen wir, wenn wir bei Kapitel 99 angelangt sind. Nun geht es mit dem ersten Kapitel noch einmal von vorne an, und zwar neuerlich im steten Wechsel der erzählerischen Ebenen. Lipnik erinnert sich mit Grauen an seine düstere Kindheit, durch die nur eine einzige helle Gestalt ging, die gütige Volksschullehrerin Zala, die er geliebt hat; sie wurde aber verrückt und hat sich selbst immer wieder die Haare kahlgeschoren, eine Handlung, die sich das Kind nicht erklären konnte. Sie wiederholte damit die öffentliche Demütigung, die auch in Slowenien Frauen zuteil wurde, die ein Liebesverhältnis mit den Besatzern eingegangen waren.
Raffiniert verwebt Jancar die Biographie von Janez Lipnik mit jener der Lehrerin und endlich der des Offiziers Aleksij. Eines Tages liegt auf seinem Schreibtisch im Amt nämlich ein Päckchen aus Australien, das der greise Präsident eines slowenischen Kulturvereins aus dem fernen Melbourne an das Archiv der Stadt Ljubljana adressierte. Der Verein steht mit dem nahenden Tod des Präsidenten vor dem Hinscheiden, und das Päckchen, für den er noch einen Aufbewahrungsort suchte, enthält die ungelenken, aber detailgenauen Aufzeichnungen eines verstorbenen slowenischen Emigranten, die den Titel „Women of my life“ tragen.
Es handelt sich um die akribische Liste eines Erotomanen, der jede seiner zahlreichen Liebschaften exakt verzeichnet, mit Datum, näheren Beschreibungen der Geliebten und Anmerkungen zur Spezifik der sexuellen Begegnung versehen hat. Die Lektüre, an und für sich schon interessanter, als es die ewigen alten Urkunden sind, wird für Lipnik zur Reise in die eigene Vergangenheit. Je genauer er den Nachlass des Erotomanen durchforscht, umso mehr verdichten sich die Indizien, dass es sich bei ihm um den Geliebten jener Lehrerin gehandelt hat, die später mit geschorenem Haupt durch die Stadt gejagt wurde, um einen Offizier namens Aleksij, der wundersam auf einem Motorrad der Einkesselung seiner Truppe durch die Partisanen entrann.
Sich zu erinnern, ist für Lipnik, der doch von Berufs wegen mit den Dokumenten der Vergangenheit zu tun hat, nicht leicht: „In der Vergangenheit gibt es viele Dinge, für die es besser wäre, dass sie dort bleiben, wo sie sind. Wenn man nach der Vergangenheit zu fragen beginnt, gefährdet man die eigene Zukunft.“ Und doch beginnt er tief in das Grauen hinabzutauchen, das er seit der Kindheit verdrängt, aber eben nicht wirklich vergessen hat: „Eine dunkle Menge mitten am helllichten Tag, eine dunkle Menge verschwommener Gesichter, ein wimmelndes Spalier bestehend aus einer Menschenmasse, das eine andere Menschenmasse eingekreist hatte, die verschreckten Gesichter von lauter jungen Burschen von bäuerlichem Aussehen.“ Wie sich der „gerechte Volkszorn“ an den Verrätern entlädt, das schildert Jancar über etliche Seiten hin, die schwer zu ertragen sind.
Europa hat kein gemeinsames Selbstbild, weil es geteilte, einander widersprechende Erinnerungen hat. Was in Deutschland oder Österreich nach 1945 lange fehlte, nämlich eine alltägliche politische Kultur, die sich als „antifaschistisch“ begriffen hätte, war in den kommunistisch gewordenen Staaten gewissermaßen offizielle Doktrin. Jancar, dessen Leben schon vom Elternhaus her zuerst vom Kampf gegen den Faschismus geprägt wurde, wagt den unbestechlichen Blick auf das, was da und dort im Namen eines staatsoffiziellen Antifaschismus an Verbrechen verübt und gerechtfertigt wurde. Dass er einem geschichtlichen Revisionismus das Wort redete, davon kann nicht die Rede sein. Er hat nicht weniger als einen epochalen europäischen Roman geschrieben, der formal brillant, thematisch unerbittlich einen Beitrag dazu leistet, dass Europa vielleicht eines Tages eine gemeinsame Erinnerung hat.
KARL-MARKUS GAUSS
DRAGO JANCAR: Der Baum ohne Namen. Roman. Aus dem Slowenischen von Daniela Kocmut. Folio Verlag, Bozen und Wien 2010. 329 Seiten, 22,90 Euro.
Der Zweite Weltkrieg und
der Zerfall Jugoslawiens werden
hier ineinander gespiegelt
„Eine dunkle Menge mitten am
helllichten Tag, eine dunkle Menge
verschwommener Gesichter“
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension

Dies ist der Weg zu einer gemeinsamen europäischen Erinnerung, findet Rezensent Karl-Markus Gauß. Das Buch des in Maribor geborenen Drago Jancar, der unter Tito als Linksabweichler inhaftiert und später zur führenden intellektuellen Figur seines Landes wurde, hält er für thematisch mutig, unerbittlich, formal brillant und epochal. Auch wenn Gauß die Erinnerungen der Erzählerfigur, des alten Archivars Lipnik an das dunkelste Kapitel der jüngeren slowenischen Geschichte, den Massenmord an den Domobranzen, vermeintlichen Nazikollaborateuren, nur schwer erträgt, so scheint ihm Jancars erzählerisches, kompositorisches Vermögen doch schlicht überwältigend. Im dauernden Wechsel der Erzählebenen, der Orte und Zeiten (zwischen 1943 und der Erzähgegenwart von 2000) zeigt sich der Autor für Gauß als geschickter Kompositeur eines wahrhaft orchestralen Romanwerks.

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