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Produktdetails
  • Transfer Europa Bd.25
  • Verlag: Folio, Wien
  • 2000.
  • Seitenzahl: 315
  • Deutsch
  • Abmessung: 27mm x 142mm x 215mm
  • Gewicht: 526g
  • ISBN-13: 9783852561202
  • ISBN-10: 3852561205
  • Artikelnr.: 08488956
Autorenporträt
Miljenko Jergovic, geboren 1966 in Sarajevo, lebt in Zagreb. Er arbeitet als Schriftsteller und politischer Kolumnist und ist einer der großen europäischen Gegenwartsautoren. Sein Werk ist in zahlreiche Sprachen übersetzt.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 12.12.2000

Da am Taxistand kein Taxi stand, bellte der Hund
Miljenko Jergovic schreibt über Krieg und Frieden / Von Karl-Markus Gauß

Miljenko Jergovic hat noch keine Erzählung veröffentlicht, die länger als zehn Seiten wäre, aber er ist alles andere als ein literarischer Minimalist. Er kapriziert sich auf die kleine Form, doch hat er den zupackenden Griff des großen Epikers, der aufs Ganze geht: "Als ich geboren wurde, bellte auf dem Flur der Entbindungsanstalt ein Hund" beginnt die erste Erzählung seines neuen Buches, und mit Geringerem als Geburt und Tod, Liebe und Haß, Krieg und Frieden beschäftigt er sich in ihm nicht. Ohne Scheu vor großen Gefühlen und hohem Stil verschränkt er in seinen literarischen Bildern den Himmel und das Elend auf Erden, die Engel und den mickerigen Alltag. Wer würde heute eine Kurzgeschichte noch so beginnen? "Der Himmel über Surcin war tief und schwer. Auf die Wolken hatten sich, irgendwo hoch oben, betrunkene Engel gesetzt, die jetzt etwas feierten, ohne zu merken, daß sie tiefer und tiefer sanken und daß sie sich im nächsten Moment auf der Erde wiederfinden würden, zwischen den Furchen, wo die Vojvodina begann und wo die vergessenen Kürbisse erfroren."

In dieser Geschichte erzählt Jergovic von Marina, die in Vancouver im Exil lebt und, eben kanadische Staatsbürgerin geworden, nach Serbien fährt, um ihre Eltern zu besuchen. Die wohnen, als Strandgut des jugoslawischen Zerfallskrieges von Sarajevo nach Belgrad geschwemmt, in ihren Erinnerungen und in einem Provisorium, das endgültig geworden ist. Marina fährt in eine Stadt, die sie nicht kennt und die doch zu ihrem fernen Zuhause geworden ist, weil dort ihre Eltern leben und "ihre Sachen waren, jene Sachen, die sie nicht mehr brauchte oder nie gebraucht hatte, die man aber nicht wegwarf, und wo die sind, da ist des Menschen Zuhause". Erzählt wird der gar nicht außergewöhnliche Lebensweg von drei gar nicht außergewöhnlichen Menschen, doch um ihnen gerecht zu werden - wie viele Dinge müssen da berücksichtigt werden, wie viele historische Wendungen, Verhängnisse, Niederlagen! Der Erzähler muß tatsächlich Himmel und Erde in Bewegung setzen, vom Krieg und Frieden auf dem Balkan berichten, Liebe und Haß vermessen, damit es ihm gelingt, auf neun gedrängten Seiten zu beweisen, daß im unscheinbaren Leben dieser Menschen alles ist, was das große Welttheater ausmacht.

Miljenko Jergovic, 1966 in Sarajevo geboren, seit 1993 in Zagreb lebend, ist mit großartigen Erzählungen aus dem belagerten, beschossenen Sarajevo bekannt geworden, die 1994 auf kroatisch und 1996 auf deutsch unter dem Titel "Sarajevo Marlboro" erschienen und in viele Sprachen übersetzt wurden. Der fälschlich als Roman ausgegebene Prosazyklus "Karivani" stellte 1997 die meisterliche Fähigkeit des Autors, im Einzelschicksal Geschichte zu fassen und im prägnanten Detail die ganze Tragödie zu spiegeln, neuerlich unter Beweis. "Mama Leone" vereint jetzt auf über 300 Seiten zwei Zyklen, die recht unterschiedlich sind und von Anspruch wie Länge auch gesondert veröffentlicht hätten werden können.

Der erste Teil ist nach dem ersten Satz der ersten Erzählung betitelt, heißt also "Als ich geboren wurde, bellte auf dem Flur der Entbindungsanstalt ein Hund", und bietet das Panorama einer Kindheit, die sich gegen die abstruse Normalität der Erwachsenen zu behaupten sucht. Die 21 Erzählungen sind in der Ich-Form und einem Präsens gehalten, das an das mündliche Erzählen von Kindern anklingt und sich deren Begabung, frei zu assoziieren und gedanklich weit zu springen, kunstvoll zunutze macht. Aus der Perspektive von Kindern zu erzählen ist bekanntlich ein heikles Unterfangen. Allzu leicht wird dem heranwachsenden Erzähler ein Wissen auferlegt, das er noch nicht haben kann, oder umgekehrt erzählerisch eine Naivität suggeriert, die konstruiert und erkünstelt ist. Jergovic entgeht der einen wie der anderen Gefahr, indem er sich einen Ich-Erzähler schafft, der mit seiner Altklugheit die Wächter der Kindheit nervt und die Leser erfreut. Dieser Junge, der in den siebziger und achtziger Jahren die Welt der Eltern, Tanten, Großeltern mit wachen Sinnen erforscht, hat die Gabe, die Dinge umzudrehen: Die Konventionen, auf die es im Erziehungsprozeß eingeübt werden soll, offenbaren sich ihm in ihrer Abgründigkeit, das Verbotene, Geheime, Vertuschte wiederum empfindet er als etwas Alltägliches, mit dem er vertrauten Umgang pflegt.

Die Gestalten der Kindheit sind bald überlebensgroß, bald so klein, daß sie zu Spielzeug in die Kiste passen. Der Großvater führt einen heroischen Kampf gegen den Tod, der ihn jeden Monat hinterrücks mit Erstickungsanfällen zu erledigen sucht, und lehrt den Enkel, was es mit der Angst auf sich hat. Denn der Großvater ist furchtlos und angsterfüllt zugleich. Er fürchtet weder Tod noch Schmerz, aber den Doktor und die Medizin. Als es mit dem kranken Zahn gar zu schlimm wird, muß der Nachbar ihn herausziehen: "ohne Spritze", verlangt der Großvater. "Aber Herr Rejc, wir sind doch nicht im Mittelalter", wendet der Nachbar ein. "Das ist nicht wichtig, welches Jahrhundert wir haben", beendet der Großvater die Debatte und läßt sich den Zahn ohne Betäubung ziehen.

Den Enkel wundert das nicht im geringsten, nicht der Mut und nicht die Ängstlichkeit des Großvaters. Für das, was Erwachsenen seltsam vorkommt, hat er volles Verständnis; was diesen für selbstverständlich gilt, hört hingegen nicht auf, ihn zu befremden. Aus lauter bitterkomischen Erzählungen baut Jergovic den autobiographischen Roman einer Kindheit, in der das Glück und das Entsetzen dicht beieinanderlagen. Es ist eine Kindheit, deren Orte in Bosnien exakt umrissen werden, die aber, recht besehen, diese Orte nach ihrem eigenen Maß verändert hat. Jeder Kindheit, führt Jergovic auf rührende wie bewegende Weise vor Augen, eignet die Kraft, ihre Umgebung zu verwandeln und den Alltag zum Wunder zu machen.

Der zweite Teil des Buches, "An diesem Tag endete eine Kindheitsgeschichte", schlägt einen anderen Ton an und hat, in distanzierter Er-Form und im Präteritum erzählt, nicht mit dem Wunder, sondern der Entzauberung zu tun. In zwölf geradezu klassisch angelegten Kurzgeschichten macht das historische Verhängnis die Lebenspläne kleiner Leute zunichte. Diese Geschichten spielen in Alabama, Vancouver, Mestre oder in der deutschen Provinz, in Zügen, Wartehallen, Flugzeugen, und ihre Helden sind Vertriebene, Davongekommene, die ihrer eigenen Vergangenheit entfremdet sind und sich daher in der Gegenwart nur schwer zu behaupten wissen. Um neu zu beginnen, müßten sie eine Geschichte haben, die sie als die ihre akzeptieren könnten. Jene Marina, die aus Vancouver nach Belgrad, in die fremde Stadt, nach Hause fliegt, von betrunkenen Engeln begleitet, findet ihre Geschichte in dem alt und taub gewordenen Hund, den sie einst als Kind geschenkt bekommen hat. Mit Astor geht sie durch eine Stadt, die sie nicht kennt, geleitet von einem Hund, der sie nach so vielen Jahren nicht mehr erkennt. Es ist der Hund, der sie zu begreifen lehrt, daß die Vergangenheit vergangen ist.

Miljenko Jergovic: "Mama Leone". Erzählungen. Aus dem Kroatischen (Bosnischen) übersetzt von Klaus Detlef Olaf und anderen. Folio-Verlag, Wien und Bozen 2000. 315 S., geb., 38,- DM.

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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension

Hingerissen ist Christiane Zintzen von den Erzählungen des jungen bosnisch-kroatischen Erzählers Miljenko Jergovic, Jahrgang 1966. Ein "Meister der ersten und letzten Sätze", die den Leser in die Geschichten dieses Episodenromans hineinsaugen und die Rezensentin das Buch offenbar haben verschlingen lassen. Sie schreibt, der Autor bediene sich des Kunstgriffs, aus der Kinderperspektive zu schreiben, wunderbarerweise aber ohne diesen Blick zu infantilisieren. In motivisch miteinander verflochtenen Erzählungen, die sich keiner geschichtlichen Chronologie und keinem chronologischen Erzählen verpflichtet fühlen, wird das Ende einer Kindheit und ein vom Krieg zerstörtes Beziehungsgefüge thematisiert. Für die Rezensentin ist Jergovics Art des rhapsodischen Erzählens hochmodern und grotesk und spannend zugleich.

© Perlentaucher Medien GmbH