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Krise und Neuorientierung: Peter Weiss' bislang unpubliziertes Tagebuch aus dem Jahr 1960 in einer kritischen Edition.Zum 90. Geburtstag (8.11.2006) und 25. Todestag (10.5.2007) von Peter WeissDas ursprünglich nicht für die Veröffentlichung vorgesehene Tagebuch entstand zwischen Juli und Dezember 1960, als Weiss in Kopenhagen den Dokumentarfilm Hinter den Fassaden drehte. Es ist das Dokument einer künstlerischen und privaten Krise. Schonungslos gegenüber sich selbst und anderen analysiert Weiss seine Situation. Im Fokus seiner Reflexionen steht seine Lebensgemeinschaft mit der Keramikerin und…mehr

Produktbeschreibung
Krise und Neuorientierung: Peter Weiss' bislang unpubliziertes Tagebuch aus dem Jahr 1960 in einer kritischen Edition.Zum 90. Geburtstag (8.11.2006) und 25. Todestag (10.5.2007) von Peter WeissDas ursprünglich nicht für die Veröffentlichung vorgesehene Tagebuch entstand zwischen Juli und Dezember 1960, als Weiss in Kopenhagen den Dokumentarfilm Hinter den Fassaden drehte. Es ist das Dokument einer künstlerischen und privaten Krise. Schonungslos gegenüber sich selbst und anderen analysiert Weiss seine Situation. Im Fokus seiner Reflexionen steht seine Lebensgemeinschaft mit der Keramikerin und Bühnenbildnerin Gunilla Palmstierna, die von seinen zahlreichen Affären überschattet wird. Darüber hinaus beschäftigt den Künstler die Frage, welchen künstlerischen Weg er fortan beschreiten soll: Da ist die zermürbende und aufregende Arbeit am Dokumentarfilm, es gibt Skizzen zu einem Theaterstück und für ein neues autobiographisches Werk - und die Aussicht auf literarischen Erfolg, die ihmder Suhrkamp Verlag gerade eröffnet hat. »Das Kopenhagener Journal« dokumentiert die Krisensituation eines Künstlers, der mit der »Ermittlung« später Weltruhm erlangen sollte.
Autorenporträt
Peter Weiss (1916-1982) emigrierte 1935 mit seiner Familie über England und die Tschechoslowakei nach Schweden. 1937/38 Studium der Malerei an der Prager Kunstakademie. Erste Publikationen in den vierziger Jahren in Schweden. Erste deutsche Buchveröffentlichung 1960. Internationaler Erfolg als Dramatiker (1964). 1975-81 Veröffentlichung der Trilogie »Die Ästhetik des Widerstands«.

Rainer Gerlach, geb. 1951, ist Germanist und Historiker. Er hat bereits zahlreiche Bücher zu Peter Weiss veröffentlicht.
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 22.12.2006

Besser als eine Psychoanalyse wäre die Revolution
Zwischen Seelenpein und politischem Bewusstsein: Peter Weiss’ „Kopenhagener Journal”
Es gab Zeiten, in denen selbstorganisierte Seminare monatelang über „Die Ästhetik des Widerstands” von Peter Weiss diskutierten, den neben Uwe Johnsons „Jahrestagen” wohl letzten deutschen Versuch, ein Geschichtspanorama, die Totalität der Welt in einem Großroman einzufangen. Der 1982 gestorbene Peter Weiss gehörte lange unbestritten zu den bedeutendsten Gegenwartsautoren. Mittlerweile scheint er überhaupt nicht mehr aktuell zu sein. Das hat wohl etwas mit einem politischen Kurzschluss zu tun, mit der vagen Erinnerung, dass Peter Weiss es mit dem Sozialismus äußerst ernst meinte (auch wenn die Liaison mit der DDR unglücklich endete).
Doch er arbeitete dabei an einem ästhetischen Programm, das sehr zeitgenössisch anmutet: Er war wahrhaft „interdisziplinär”, agierte früh im Sinne von Cross culture, bewegte sich zwischen verschiedenen Sprachen und Kunstgattungen. In seinen Anfängen begriff er sich als bildender Künstler, in den fünfziger Jahren machte er sich als Experimentalfilmer einen Namen, und in den Sechzigern revolutionierte er mit seinem „Marat/Sade” fast auf einen Schlag das deutsche Theater. Daneben reflektierte er, als deutscher Jude, in literarischen Texten seine Sozialisation und sein Leben im schwedischen Exil. Ein Schlüsseltext dieser vielschichtigen Persönlichkeit, dieser exemplarischen künstlerischen Gestalt des zwanzigsten Jahrhunderts liegt nun zum ersten Mal vor: sein „Kopenhagener Journal” aus dem Jahr 1960.
Es war eine Zeit des Übergangs, des Suchens und Sich-Verlierens privater wie öffentlicher Art. 1960 erschien „Der Schatten des Körpers des Kutschers”, Weiss’ deutschsprachiges Debüt, im Suhrkamp Verlag; er arbeitete auch schon seit geraumer Zeit an den autobiographischen Texten „Abschied von den Eltern” und „Fluchtpunkt”, die kurz danach herauskamen und ihn berühmt machten. Weiss war 44 Jahre alt, lebte in Stockholm, hielt sich aber für ein paar Monate in Kopenhagen auf, wo er den Dokumentarfilm „Hinter den Fassaden” drehte, eine Sozialstudie über das anonyme Leben in der Vorstadt. Es war noch nicht klar, dass dies sein letzter Film sein würde. Die Trennung von seiner langjährigen Freundin, Gunilla Palmstierna, lag ein Jahr zurück, es gab erste Wieder-Annäherungen, durchbrochen von einigen kurzen Affären in Kopenhagen. All das mischt sich im Journal und ergibt ein Mosaik, das nicht nur die persönliche Situation von Peter Weiss, sondern auch die Atmosphäre der damaligen Zeit, die Alltagsgefühle, die Debatten über Kunst und Literatur erfasst.
Aus der intimen Werkstatt
Einzelne Passagen aus diesem Journal hat Weiss schon bald herausgelöst und gesondert veröffentlicht, vor allem in den „Notizbüchern”. Das sind die offenkundig „künstlerisch” wichtigen Teile, Reflexionen über den Dokumentarfilm beispielsweise oder ein Prosaversuch über den Briefträger Ferdinand Cheval, der in jahrzehntelanger Obsession abseits der Öffentlichkeit einen Pilgerort für die spätere surrealistische Bewegung schuf, sein „Palais Idéal”, ein bizarres architektonisches Gebilde mit organischen, pflanzlichen und sakralen Formen; Weiss sieht darin eine phänomenale Manifestation des menschlichen Unbewussten. Hier liegen auch Berührungspunkte mit seinem eigenen, vollständigen „Kopenhagener Journal”: Von höchstem Erkenntniswert ist hier nämlich die Verbindung zwischen den intimen, sich selbst schonungslos offenbarenden Abschnitten und sublimen, analytischen Prosastücken. Es handelt sich um eine eigenartige Mischung aus Tagebuch und Werkstattband – mit einer Ästhetik des Fragments, aber auch mit Passagen dezidierter Unbedingtheit.
Die politische Radikalisierung von Peter Weiss durch den Frankfurter Auschwitz-Prozess und durch den Vietnam-Krieg ist in diesem Tagebuch bereits erahnbar. Es macht aber vor allem deutlich, vor welchen persönlichen Voraussetzungen sie stattfindet. Der Weg zur marxistischen Gesellschaftsanalyse hat für ihn ganz konsequent bei der Psychoanalyse seinen Ausgangspunkt. Die Parallelführung dieser beiden Erkenntnismethoden, die in der Bundesrepublik der späten sechziger und siebziger Jahre akademische Breitenwirkung erlangte, ist hier idealtypisch zu studieren. Weiss hatte seine eigene Psychoanalyse 1950 abgeschlossen, seine autobiographischen Projekte fußen auf dieser Erfahrung und klammern sie nicht etwa aus. Es gibt in den Kopenhagener Notizen Überlegungen zur Psychoanalyse, wie sie luzider kaum zu lesen sind. Hier ist ein Widerstreit zu erkennen zwischen den bürgerlich-individualistischen Problemen, von denen sich Weiss befreien will und denen er sich doch zugehörig fühlt, und dem beginnenden gesellschaftlichen Engagement, das durch die Studien in den Kopenhagener Vororten intensiviert wird.
„Wir gehen zur Instanz des Analytikers”, schreibt Weiss, „anstatt uns gegen die Gesellschaft, deren Repräsentant der Analytiker ist, zu wenden. Weil wir die Kraft zur Revolte nicht aufbringen, erkennen wir unsere Gebrochenheit an”. Der Dokumentarfilm, den Weiss gerade dreht, scheint derlei Erkenntnisse zu befördern – andererseits schreibt Weiss zu dieser Zeit immer noch an seinen autobiographischen Texten, die den bürgerlichen Familienroman bis ins Kleinste verfolgen. Er äußert die aggressiven Sätze zur Psychoanalyse in einem Streitgespräch, das er im „Journal” referiert, stimmt aber letztlich doch seinem Gegenüber zu, der sagt: „Ich gehe zum Analytiker, weil ich weiß, dass ich den Konflikten allein nicht auf den Grund kommen kann. Der Analytiker ist objektives Bewusstsein. Der Analytiker macht mich, bei meinen Eröffnungen, auf Nuancen des Ausdrucks aufmerksam, die mir selbst entgehen würden.”
In seinem Dokumentarfilm führt Weiss die surrealen Formen seiner frühen Experimentalfilme in etwas gesellschaftlich Konkretes über. Den Kameraeinstellungen ist ihre Herkunft anzumerken: Karge, moderne, leere Räume werden hier entworfen, und man spürt, dass Weiss in seinen bildnerischen Anfängen eine kafkaeske Ästhetik aufnahm. In ersten Skizzen findet sich dieselbe Art von Figurenzeichnungen, die man von Kafka kennt – in den Text hineinverwobene, verlorene Strichgestalten.
Der geschmackssichere Bürger
In seinem „Journal” stehen solch formale filmische Überlegungen jedoch ziemlich abrupt neben politischen, polemischen Reflexionen, die bereits wie Vorboten der in den sechziger Jahren aktualisierten Entfremdungs-Theorie von Marx wirken. „Personen, in Schablonen gepresst. Sie haben ja von Anfang an gelernt, sich zu fügen, sich anzupassen. Alle diese Räume, in denen nicht ein einziger Gegenstand zu finden ist, der von Schönheit oder Eigenart spricht. Diese Fülle von Topfgewächsen, Wandranken, Familienfotos, schauerlichen Bildern, Teppichen, Tapeten, Vasen, Figürchen, Lampen und Möbelstücken, die alle den Anschein einer Atmosphäre von Geborgenheit und Gemütlichkeit geben wollen und die doch nur von einer bodenlosen Ängstlichkeit und einem Eingekerkertsein sprechen. Es wird immer wieder betont, wie wohl man sich hier fühle.”
Die Verbindung von bürgerlicher, geschmackssicherer Überlegenheit und aufklärerischem Impetus fällt auf – ein intellektuelles Selbstbewusstsein, das noch nicht durch die Zwänge der sich entwickelnden Medien- und Quotendemokratie zynisch geworden ist. Peter Weiss wird sich bis zuletzt der Arbeiterklasse vor allem ästhetisch nähern. Die privaten Wirrnisse, in denen er sich zu dieser Zeit befindet, stehen zu den abgeklärt formulierten gesellschaftlichen und ästhetischen Überlegungen in einem spannungsreichen Verhältnis. Es war die Zeit, als es die „Pille” noch nicht gab („Gunilla glaubt, ich habe sie befruchtet”), und die Sexualnot, von der Weiss spricht, hat etwas für einen 44-Jährigen konsternierend Bedrängendes.
Doch gerade darin ist dieses Tagebuch auch Ausdruck eines literarischen Bekenntnisses: Schreiben ist eine Rücksichtslosigkeit sich selbst gegenüber, es ist der Versuch einer Tabula rasa, einer Befreiung. Verblüffend wirkt auch die Zerrissenheit zwischen dem bewussten Genuss eines Stockhausen-Konzerts und der Lust am Jazz von Jerry Mulligan: Vor der zu dieser Zeit virulent werdenden abgedichteten ästhetischen Theorie Adornos wird sie zu einem aufregenden künstlerischen Zeugnis der Offenheit und des Suchens. Das „Kopenhagener Journal” ist ein spannendes zeitgeschichtliches Laboratorium. HELMUT BÖTTIGER
PETER WEISS: Das Kopenhagener Journal. Kritische Ausgabe. Herausgegeben von Rainer Gerlach und Jürgen Schutte. Wallstein Verlag, Göttingen 2006. 205 Seiten, 24 Euro.
Zu den misslungenen Versuchen von Peter Weiss, als Filmemacher zu bestehen und trotzdem Geld zu verdienen, gehört der teilweise pornografische Film „Je t’aime. Schwedinnen in Paris” von 1961. Die drei hier reproduzierten, bislang unbekannten Fotografien stammen vom Set. Foto: Christer Strömholm
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Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension

Anregend und "spannend" hat Ina Hartwig diese Aufzeichnungen von Peter Weiss gefunden. Denn hier könne man nicht nur die Entstehung von Literatur beobachten wie bei anderen Schriftstellertagebüchern auch. Weiss behandle schon 1960 die Themen, die 1967 und 1968 an die Oberfläche kommen werden, darunter die psychologische Selbstbefragung und die Diskussion der Klassengesellschaft aus der Boheme heraus. Darüberhinaus erblickt Hartwig in den "drängenden, nah am Unterbewusstsein lavierenden" Notizen, an der ihr die Offenheit und Schonungslosigkeit von Weiss sich selbst gegenüber imponiert, das Zeugnis einer sich herausbildenden, "fast experimentell zu nennenden männlichen Sensibilität".

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