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Wenn die Band 'Unheilig' singt: "Kein Augenblick ist je verloren, wenn er im Herzen weiterlebt" oder Mark Foster zu Geigenklängen intoniert "Ich geh auf Reisen. Ich mach alles das, was ich verpasst hab. Ich lass alles hinter mir. Hab was Großes im Visier", dann sind wir am Puls unserer Zeit. Die Utopie von einem echten, wahren Leben treibt uns um - manchmal in erschreckend abgedroschenen Phrasen.
Von Shabby-Chic über Extremsport bis Rückzug - wir sind auf der Jagd nach dem echten Gefühl. Die einen ziehen sich in ihre Eigenheim-Idyllen zurück, heiraten in einem Traum von Weiß und pflegen
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Produktbeschreibung
Wenn die Band 'Unheilig' singt: "Kein Augenblick ist je verloren, wenn er im Herzen weiterlebt" oder Mark Foster zu Geigenklängen intoniert "Ich geh auf Reisen. Ich mach alles das, was ich verpasst hab. Ich lass alles hinter mir. Hab was Großes im Visier", dann sind wir am Puls unserer Zeit. Die Utopie von einem echten, wahren Leben treibt uns um - manchmal in erschreckend abgedroschenen Phrasen.

Von Shabby-Chic über Extremsport bis Rückzug - wir sind auf der Jagd nach dem echten Gefühl. Die einen ziehen sich in ihre Eigenheim-Idyllen zurück, heiraten in einem Traum von Weiß und pflegen ihren Dialekt. Die anderen suchen ruhelos das Glück in der Ferne - mithilfe von Eventtourismus oder gar im militärischen Kampf für das vermeintlich Gute.

Christian Saehrendt sucht nach der Kraft hinter all diesen paradoxen Fluchtbewegungen - und stellt fest: Wir leben in einer Epoche der Neo-Romantik, die wie vor gut 200 Jahren als Folge einer tiefgreifenden Entfremdung zu verstehen ist.
Autorenporträt
CHRISTIAN SAEHRENDT, geboren 1968 in Kassel, ist Historiker und Kunsthistoriker und wurde 2002 an der RuprechtKarls-Universität Heidelberg promoviert. Er lebt in Berlin und am Thuner See in der Schweiz. Bei DuMont erschienen u. a. 2015 'Gefühlige Zeiten. Die zwanghafte Sehnsucht nach dem Echten' sowie seine gemeinsam mit Steen T. Kittl verfassten Bücher 'Das kann ich auch!' (2007/2013), 'Das sagt mir was!' (2008), 'Geier am Grabe van Goghs' (2010), 'Du hast die Haare schön!' (2014), 'Ist das Kunst oder kann das weg? Vom wahren Wert der Kunst' (2016).
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 27.11.2015

Im Zweifel für das Posthorn?
Kommerzromantik: Christian Saehrendt über unsere Sehnsucht nach dem Echten

Seit das "Sommermärchen 2006" sich als möglicherweise gar nicht echte Fußballromantik herausgestellt hat, stellen Empörung, aber auch Trauer sich ein, die Erinnerung an die Begeisterung von damals bekommt einen schalen Beigeschmack. In Christian Saehrendts Buch "Gefühlige Zeiten" soll es um solche unguten Gefühle gehen, wie sie die Verschmelzung von Romantik und Kommerz produzieren kann. In unserer "kalten, verwalteten" Welt, so die zentrale These, sei die Sehnsucht nach dem Authentischen so groß wie nie, befeuert vom Flackern unserer zum ständigen Realitätsabgleich bereitgehaltenen Smartphones.

Für Saehrendt bedeutet diese Sehnsucht: Die Romantik ist zurück. Diese wird konfrontiert mit einem Kapitalismus, der den nach dem wahren Leben Suchenden eine Fülle an vermeintlichen Verwirklichungsmöglichkeiten anbietet und ihn damit schier in die Verzweiflung treibt. Abgelegene Inseln, Freizeitparks, Hochzeiten, Kunstmessen und Performances lockten mit dem Versprechen, Vergnügen und nebenbei noch sich selbst zu finden. Saehrendt will dem Leser helfen, sich einen Weg durch diesen Glücksdschungel zu bahnen. Wobei er allen "neoromantischen Ausbruchsversuchen" erbärmliche Erfolgsaussichten attestiert.

Die Romantiker verkennt der Autor dabei völlig. Deren Glück besteht nämlich nicht darin, ihre Sehnsucht zu befriedigen, sondern sie lebendig und damit hungrig zu erhalten. Insofern wird kein Romantiker romantischer sein als derjenige, der im stets neu verführenden, niemals aber erfüllenden Kapitalismus lebt. Beispiel Fernweh: Bei Eichendorff heißt es noch: "Es schienen so golden die Sterne, / Am Fenster ich einsam stand / Und hörte aus weiter Ferne / Ein Posthorn im stillen Land." Früher evozierte der Klang des Posthorns noch eine wenig kartographierte Ferne.

Doch in der globalisierten Welt findet man unabhängig von der Distanz, die man zurücklegt, immer seltener Echtheit und Ursprünglichkeit. Deswegen würden Traditionen und Erinnerungsorte erfunden, um den sehnsüchtigen Touristen entgegenzukommen, ironischerweise auf Kosten der verlangten Authentizität. Kulleraugen-Heidi und teure Uhren - die Schweiz stünde wie kein anderes Land für kommerzialisierte Romantik. Dabei sei nicht mal die Zeichentrick-Heidi, die wir als urschweizerisch empfinden, "echt", sondern ein Stück schweizerisch-japanischer Hybridkultur.

Die Schweiz-Begeisterung, die vor allem Asiaten pflegen, findet buchstäblich ihren Gipfel in dem originalgetreuen Nachbau des Ortes Interlaken als Yintelagen in China. Dort können auch weniger Wohlhabende für kleineres Geld europäische Traditionen nachleben; sich neben Plastikkühen auf grünen Wiesen ablichten lassen, Lindt-Schokolade essen und Dampfeisenbahn fahren. Die Camp-Ästhetik solcher disneylandhaften Orte ist wenig romantisch und sicher nicht authentisch. Ist der Wunsch nach Echtheit also global und so echt, dass er sich sogar mit dem Falschen abfindet? Oder fehlt Saehrendt nicht möglicherweise ein wenig sozialanthropologisches Rüstzeug, um Phänomene wie die japanische Heidi verstehen zu können? Für ihn jedenfalls muss das Fernweh an der "staged authenticity" der Tourismusindustrie scheitern.

Selbst der letzte Rückzugsort des Romantikers, die Liebe, das Gefühl, das sich vermeintlich durch keine Kraft der Welt begrenzen oder lenken lässt, bietet für Saehrendt kein Obdach mehr. Online-Apps wie Tinder böten dem Liebessuchenden die Möglichkeit, im Vorhinein das Konterfei des potentiellen Datingpartners auf materielle Gegebenheiten abzusuchen. Außerdem erhöhten sie den Druck zu performen: Im digitalen Reich der unbegrenzten Kennenlernmöglichkeiten sei der Einzelne austauschbar. An das Individuum würden die gleichen Anforderungen wie an ein Betriebssystem gestellt: Wer sich nicht weiterentwickeln lasse, werde aussortiert. Das liegt auch daran, dass man bei Tinder eher den Funken sexueller Leidenschaft sucht. Daher ist auch zu bezweifeln, ob Saehrendt mit dem vordergründig ökonomischen Interesse der Liebesuchenden richtigliegt. Bei Tinder hofft man eben nicht, einen Lebenspartner zu finden, sondern überlässt sich seiner Neugier, die einem stets neue Überraschungen beschert.

Saehrendt führt seine Leser durch die Wunderkammer der Gegenwart. Man lernt die Blüten ihrer Kultur kennen, ob es sich nun eben um Yintelagen handelt oder das morbide japanische Ritual "seizenso", bei dem man zu Lebzeiten der eigenen Trauerfeier beiwohnt. Man würde sich allerdings weniger raunenden Kulturpessimismus wünschen. Die Romantik 2.0 kommt stets schlecht weg. Da drängt sich der Verdacht auf, dass die Perspektive des Autors eher von Gegenwartsangst als von Zukunftshoffnung geprägt ist. Und man würde sich eine größere begriffliche Schärfe wünschen; stattdessen bleibt der Leser seinem eigenen Wissen und Verständnis von Romantik, Neoromantik, Authentizität überlassen. Obwohl Saehrendt dem Sehnsucht produzierenden Kapitalismus den Kampf ansagt, erinnern viele seiner Formulierungen an Werbetexte. Es ist alliterierend-polemisch von "Ghettos der Gefühligkeit", "Bionade-Biedermeierheimen" und dem "liegenden Lebensstil lässiger Lounge-Logierer" die Rede.

Fazit? "Wie Junkies gieren wir nach dem nächsten Schuss Authentizität, egal, wie gestreckt der Stoff mittlerweile ist. Diesen Kreislauf gilt es zu durchbrechen. Kalter Entzug ist angesagt." Und danach? Saehrendt ruft die "Neue Wurschtigkeit" aus und meint, man solle sich und seine romantischen Bedürfnisse nicht allzu ernst nehmen. Man wird das Gefühl nicht los, dass ihm das Thema seines Buchs gegen Ende selbst gleichgültig geworden ist.

SHOU AZIZ

Christian Saehrendt:

"Gefühlige Zeiten". Die zwanghafte Sehnsucht nach dem Echten.

DuMont Buchverlag, Köln 2015. 254 S., geb., 19,99 [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension

Rezensent Oliver Pfohlmann hat Christian Saehrendts Zeitgeistdiagnose offenbar mit einigem Gewinn gelesen, etliche Formulierungen des Kunsthistorikers webt der Rezensent in seine Besprechung ein. So mache der Autor eine "Sehnsucht nach Geschichtlichkeit" in der heutigen, medialisierten Welt aus, die sich in Phänomenen wie Vintage-Wahn und Retro-Schick äußere - zugleich aber eine "Sehnsucht nach dem Echten", der vielbeschworenen Authentizität. Scheinbar wahrhaftige Ereignisse wie Hochzeiten würden exzessiv zelebriert, Pilgerreisen erfreuten sich neuer Beliebtheit. "Kenntnisreich" und "desillusionierend" stelle Saehrendt seine Diagnose, befindet der Kritiker und lobt vor allem das letzte Kapitel. Hier zeige der Autor Parallelen auf zwischen der Kriegsbegeisterung junger Männer vor einhundert Jahren und jenen Jugendlichen, die sich heute dem IS anschließen. Dass Saehrendt für eine Entromantisierung plädiert, überrascht Pfohlmann nicht, letztlich gipfele das Buch in einem "fröhlichen Zynismus".

© Perlentaucher Medien GmbH
"Der Kunsthistoriker Christian Saehrendt ordnet in seinem witzig geschriebenen und spannend analysierenden Buch Trends unserer Zeit in einen übergeordneten Kontext ein."
Bettina Fraschke, HESSISCHE/ NIEDERSÄCHSISCHE ALLGEMEINE

"Für Christian Saehrendt ist der moderne Mensch ein Romantiker, der sich nach echter Liebe, unberührter Natur und wahrer Freiheit sehnt, weil er sich selbst fremd geworden ist."
Thomas Schindler, ARD MORGENMAGAZIN

"Eines kann Saehrendt dank scharfer Beobachtung und feiner, niemals verachtender Ironie selbst zu seinem Sehnsuchtsthema beitragen: Das Lesevergnügen ist echt."
FALTER

"Ein Buch, das zum Nachdenken anregt, auch wenn es keine Lösung bietet."
Jochen Rack, SWR2

"Eine lesenswerte Gegenwartsdiagnose."
Birgit Ruf, NÜRNBERGER NACHRICHTEN

"Kluge, flott zu lesende Diagnose der Gegenwart und ihrer zwanghaften Suche nach dem Echten."
Birgit Ruf, NÜRNBERGER NACHRICHTEN

"Kapitelweise untersucht Saehrendt die wichtigsten dieser Ausbruchsversuche in Kunst, Unterhaltung und Tourismus kenntnisreich mit einem kühlen, desillusionierenden Blick."
Oliver Pfohlmann, PFÄLZISCHER MERKUR