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Die Avantgarde-Architektur der 20er Jahre wird heute fast ausschließlich mit dem Bauhaus oder Le Corbusier assoziiert. "Neues Bauen", für konservative Zeitgenossen seinerzeit ein Schimpfwort, in seiner deutschen Sprachfassung jedoch bald international ein Begriff, beschränkte sich aber keineswegs nur auf die westlichen Metropolen. Nach der Oktoberrevolution von 1917 begann sich das junge sowjetische Rußland zu formieren und auch nach außen als radikal neu darzustellen. Neu waren schließlich auch die Bauaufgaben: Gewerkschaftshäuser und Arbeiterclubs, Kraftwerke und Fabriken, kollektive…mehr

Produktbeschreibung
Die Avantgarde-Architektur der 20er Jahre wird heute fast ausschließlich mit dem Bauhaus oder Le Corbusier assoziiert.
"Neues Bauen", für konservative Zeitgenossen seinerzeit ein Schimpfwort, in seiner deutschen Sprachfassung jedoch bald international ein Begriff, beschränkte sich aber keineswegs nur auf die westlichen Metropolen. Nach der Oktoberrevolution von 1917 begann sich das junge sowjetische Rußland zu formieren und auch nach außen als radikal neu darzustellen. Neu waren schließlich auch die Bauaufgaben: Gewerkschaftshäuser und Arbeiterclubs, Kraftwerke und Fabriken, kollektive Wohnanlagen und Sanatorien für die Werktätigen, staatliche Großkaufhäuser, Partei- und Verwaltungsbauten, ein Mausoleum für Lenin... Nicht nur in Moskau und St. Petersburg, auch im fernen Baku (Aserbaidschan), in Sochi am Schwarzen Meer oder im ukrainischen Charkow hielt die Moderne Einzug mit Bauten aus Glas, Stahl und Beton. Utopie, BauhausÄsthetik und russischer Konstruktivismus fanden sich hierin einem auch quantitativ einzigartigen Experiment, das damals weltweit Aufsehen erregte: Avantgarde pur. Wie in Deutschland endete dieses innovative Abenteuer Anfang der 30er Jahre, als die politische und akademische Reaktion die Führung in der Partei übernahm. Die Auflösung der UdSSR 1991 gab den letzten Zeugen dieses so kurzlebigen Aufbruchs in die Moderne schließlich den Rest. Bis auf wenige prominente Ausnahmen erst verunstaltet, dann vergessen und verwahrlost, wurde ein Viertel der noch existierenden Bauten in den letzten Jahren Opfer der Spekulation. Das Buch dokumentiert die Relikte dieser "verlorenen Avantgarde" in ebenso beeindruckenden wie ernüchternden Photographien, die der renommierte britische Architekturphotograph Richard Pare auf mehreren Reisen durch die ehemaligen Sowjetrepubliken in den 90er Jahren aufgenommen hat.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 06.07.2007

Die schönen und die hässlichen Gesichter des Verfalls
Die Bilder des britischen Fotografen Richard Pare öffnen uns die Augen über die legendäre Russische Avantgarde-Architektur

Dieses Buch erscheint im allerletzten Moment. Das Studentenwohnheim des Textilinstituts in Moskau befindet sich in einem erbärmlichen Zustand. Jemand hat die Fenster in dem Gebäudeteil mit den Unterkünften geklaut und den Rest nahezu entkernt. Die geschwungene Flügelkonstruktion am Haupteingang vergammelt. Wie nach einem Sonnenbrand pellt sich der Putz von Decken und Säulen, Wasserflecken verunstalten die Wände. Von dem Entwurf Iwan Nikolajew aus dem Jahre 1929 ist kaum noch etwas zu erkennen. Die radikal modernen Bauwerke der Russischen Avantgarde, entstanden in den euphorischen zwanziger Jahren, sind heute großteils vergessen, verwahrlost und verunstaltet.

Hätte nicht der britische Fotograf Richard Pare den Mut aufgebracht, die Relikte der Russischen Avantgarde-Architektur in diesem großen, unbekannten Land zu fotografieren, wir hätten es nie erfahren. Dreizehn Jahre lang ist er ihren Spuren quer durch die ehemalige Sowjetunion gefolgt. Nicht nur in den Metropolen Moskau und Sankt Petersburg hat Pare manches moderne Gebäude aus seinem Dornröschenschlaf erweckt. Bis in so ferne Gegenden wie das aserbaidschanische Baku, nach Sotschi am Schwarzen Meer, ins ukrainische Charkow und nach Jekaterinburg am Ural-Gebirge ist er gereist, um kleine Wartehäuschen zu entdecken, gemütliche Holzhaussiedlungen und zauberhafte Säulenpavillons am Meer. Einiges hätte man der Avantgarde gar nicht zugetraut.

Das "Neue Bauen" der zwanziger Jahre ist bekannt für formale Strenge, Klarheit, Funktionalismus. Schwarzweißfotografien aus der Zeit belegen es: Konstantin Melnikow, Moisei Ginsburg, die Wesnin-Brüder und El Lissitzky, sogar Le Corbusier und Erich Mendelsohn gaben der russischen Industrialisierung ein futuristisches Gesicht aus Glas, Stahl und Beton.

Diese neue Ästhetik war nach der Oktoberrevolution 1917 nicht zuletzt darauf angelegt, der bis dahin unterdrückten Bauernbevölkerung eine neue, bessere Welt zu versprechen: "Zusammen mit dem Menschen der Wissenschaft muss der Arbeiter-Künstler ein Psycho-Ingenieur, ein Psycho-Konstrukteur werden", verkündete der Schriftsteller Sergej Tretjakow 1923 und drückte damit die verbreitete Hoffnung aus, dass die Veränderung der äußeren Umgebung auch eine Veränderung ihrer Bewohner herbeiführen würde.

Für die Architekten war das eine einmalige Situation. Sie konnten mehr Projekte realisieren als irgendwo sonst auf der Welt, denn ihre innovative Lebenseinstellung schien sich, zumindest bis Mitte der dreißiger Jahre, mit der ihrer Staatsmacht zu decken. Es entstanden Arbeiterclubs und Gewerkschaftshäuser, kollektive Wohnanlagen mit Großküchen, Sanatorien, Kaufhäuser, Verwaltungsbauten. Und eben auch Wartehäuschen. Dass sich die moderne Ästhetik weit über die Metropolen hinaus verbreitet hat, dass sie fast alle Bereiche des alltäglichen Lebens ergriff und dass sie bunte und zerbrechliche Seiten hatte, das zeigen die Fotografien Richard Pares. Und sie zeigen noch etwas viel Überraschenderes.

Die Verwahrlosung, die bei den meisten Bauten der Avantgarde anzutreffen ist, hat nicht nur traurige Ansichten zur Folge. Je fortgeschrittener der Verfall, je mehr der Beton bröckelt, desto deutlicher liegen die Bautechniken zutage, die in jenen Jahren der Materialknappheit zum Einsatz kamen. Wo Stahl fehlte, wurde das Fachwerk für Dächer oder die Konstruktion für Staudämme einfach aus Holz gezimmert, nur die Hauptfugen wurden mit Stahlplatten zusammengehalten, Oberflächen verputzte man mit Gips. Dank der natürlichen Erosion sehen wir nun die Tricks, die nötig waren, um in einer chaotischen Zeit klare, geordnete Verhältnisse zu suggerieren.

Diese Bilder sind sensationell. Nicht nur, weil ihr Fotograf sich immer wieder den Gefahren des Reisens in Russland ausgesetzt hat, wo man nie weiß, ob das Taxi ins Hotel fährt oder in den Wald. Und nicht nur, weil sie uns die Augen über die Russische Avantgarde-Architektur öffnen. Sondern auch, weil sie einen Einblick in das heutige Russland gewähren.

So sehen wir neben der Vergänglichkeit der Moderne auch die anhaltende Vergangenheit, in der die neuen Russen leben. Wenn vor einem großen Kaufhaus in Moskau Frauen in bodenlangen Röcken stehen und Gemüse, Socken oder Telefonbücher verkaufen müssen, wird klar, dass alle Modernisierung nichts geholfen hat. Heute noch kommt ein Großteil der Menschen nicht ohne Selbstversorgung aus, die soziale Verantwortung des Staates reicht nicht für die ältere und ländliche Bevölkerungsschicht. Die Verantwortung gegenüber der eigenen Geschichte reicht selbst für das jüngste Kulturgut nicht aus. Ein Viertel der vermeintlich geschützten Gebäude ist in den vergangenen zehn Jahren abgerissen worden, 2006 stand in Moskau der konstruktivistische Bau der Zeitung "Prawda" - Wahrheit - in Flammen.

Das letzte Motiv des Fotobandes stellt die Behausung einer berühmten Leiche dar. Wladimir Iljitsch Lenins Mausoleum ist ein dunkler Kubus und steht mitten auf dem Roten Platz, direkt an der Kreml-Mauer, wo es jahrzehntelang Dreh- und Angelpunkt aller sowjetischen Staatsakte war. Noch immer glänzt das blutrote Steinmosaik mit dem abstrahierten Motiv der roten Fahne, als hätte es nie ein Windchen getrübt. Die Bewohner Moskaus erzählen, dass Lenin regelmäßig Besuch von einer alten Frau bekommt, die ihn pflegt. Denn seine Barthaare wachsen noch. So wie auf den Dächern und an den Türen der Avantgarde-Bauten das Gras wächst. Es wäre schön, wenn auch hier mal jemand vorbeikäme und die Gebäude pflegen würde.

MARGARETE VÖHRINGER

Richard Pare: "Verlorene Avantgarde". Russische Revolutionsarchitektur 1922 - 1932. Mit einem Vorwort von Phyllis Lambert und einer Einführung von Jean-Louis Cohen. Aus dem Englischen von Anke Kreutzer und Eberhard Kreutzer. Verlag Schirmer/Mosel, München 2007. 348 S., 375 Farb-Tafeln, geb., 78,- [Euro].

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Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 19.06.2007

Als die Avantgarde bauen durfte – Sowjetische Revolutionsarchitektur
Es ist vielleicht das erstaunlichste Kapitel der internationalen Architekturmoderne – nicht nur der vielen neuen Bautypen, sondern vor allem des stilistischen Wagemuts wegen, mit dem dieses Bauprogramm umgesetzt worden ist. Wir reden von der Russischen Revolutionsarchitektur, von den Musterbauten der Arbeiterclubs, Wohnsiedlungen, Parteizentralen, Fabriken, Kraftwerke und Kaufhäuser, die zwischen 1922 und 1932 in der Sowjetunion errichtet worden sind.
Der britische Architekturfotograf Richard Pare hat in den neunziger Jahren auf mehreren Reisen die damals noch erhaltenen Monumente aus den vitalen Aufbaujahren systematisch durchfotografiert und dabei beiläufig eine Schadenskartierung der Bauten erstellt, die für die Zukunft Schlimmes befürchten lässt.
Um den Aufbruchsgeist und den futuristischen Impuls jener Jahre zu spüren, müsste man nur die in ihrem modernistischen Elan formal so unterschiedlichen Arbeiterclub-Paläste in Moskau miteinander vergleichen. Wie etwa Konstantin Melnikow im Russakow-Arbeiterclub die drei steil nach oben steigenden Ränge des Zuschauerraums wie hochfahrende Schubladen aus der Fassade heraustreten ließ, wie er verglaste Treppentürme als Vertikalen dazwischenstellte und drei Terrassen, die durch Brücken verbunden sind, davorsetzte, das ist in seiner plastischen Komplexität ohne Beispiel. Doch nicht nur in Moskau wurde damals Kühnes gewagt. Auch in der ukrainischen Stadt Charkow errichtete man Monumentalbauten von verblüffender Modernität. Die geschickt hintereinandergestaffelten Türme, Riegel und Brücken des Gosprom-Gebäudes etwa sollten sich ursprünglich nach achtfacher Wiederholung zu einem gigantischen Kreis schließen, doch auch die drei verbliebenen Gruppen mit ihren Torbauten formieren heute noch ein eindrucksvolles Ensemble. (Richard Pare: Verlorene Avantgarde. Russische Revolutionsarchitektur 1922 - 1932. Schirmer/Mosel München, 2007, 78 Euro) G.K.
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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension

Angesichts des desolaten Zustands vieler zwischen 1922 und 1932 entstandenen Baudenkmäler der avantgardistischen Sowjetarchitektur der Moderne begrüßt Rezensent Jürgen Tietz nachdenklich diesen Bildband, der die Gebäude dieser Epoche dokumentiert und so vielleicht etwas für deren Erhaltung beträgt, wie er hofft. Beeindruckt zeigt sich der Rezensent schon bei der Einleitung des Herausgebers Richard Pare, der seine Suche nach den Architekturdenkmälern in der ehemaligen Sowjetunion atmosphärisch dicht beschreibe. Tietz blutet mitunter das Herz, wenn er in den Aufnahmen des Bandes den mitunter dramatischen Verfall der Bauten vor Augen hat, denn die Fotos lassen auch die einstige "Innovationslust" der Architekten noch ahnen, wie er betont.

© Perlentaucher Medien GmbH