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Produktdetails
  • Verlag: Springer Spektrum
  • Seitenzahl: 818
  • Deutsch
  • Abmessung: 250mm
  • Gewicht: 1775g
  • ISBN-13: 9783827404725
  • ISBN-10: 382740472X
  • Artikelnr.: 25266332
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 13.12.2000

Das zahlt Ihnen keine Kasse
Dafür ohne Gegenanzeigen und Gebrauchsvorschriften: Roy Porters vorbildliche Medizingeschichte erhöht den Pulsschlag der Disziplin

"Die Medicin aber bedarf einer historischen Kenntnis mehr, als jede andere Wissenschaft, und die Erlebnisse der jüngsten Zeit haben es mehr als eindringlich gepredigt, wie die jetzige unerhörte Vernachlässigung der Geschichte der Medicin sich zu rächen weiß." Doch wer schert sich heute noch um die mahnenden Worte Rudolf Virchows aus dem Jahre 1849. Sicherlich nicht die medizinischen Fakultäten, die ein medizinhistorisches Institut nach dem anderen schließen oder in eine Klippschule für medizinische Ethik umwandeln.

Als eigenständiges Fach scheint die Medizingeschichte in Deutschland ausgedient zu haben - eine Entwicklung, an der die Medizinhistoriker nicht ganz unschuldig sind, denn sie haben es versäumt, ihre Forschungen nicht nur einem immer stärker naturwissenschaftlich und praxisorientierten Fachpublikum, sondern auch einer breiteren Öffentlichkeit plausibel zu machen. So überrascht es nicht, daß wenige Jahre nach Erscheinen der englischen Originalausgabe eine fulminante Weltgeschichte der Heilkunst aus der Feder eines englischen Sozial- und Medizinhistorikers nun auch auf deutsch vorliegt.

Wer die Forschungen Roy Porters kennt, reibt sich vielleicht zunächst ein wenig verwundert die Augen, daß dieser sich mit seinem Opus magnum auf ein Gebiet begibt, das bislang vorwiegend von der traditionellen Medizingeschichtsschreibung behandelt worden ist. Sein Name stand bisher für innovative Ansätze, wie etwa für eine Geschichte der Medizin "von unten" (Patientengeschichte) oder für die lange Zeit vernachlässigte Geschichte des medizinischen Außenseitertums (der "Quacksalber"). Und nun ausgerechnet das: eine Geschichte des Ärztestandes und des medizinischen Fortschritts! Porters einfache wie überzeugende Erklärung dafür lautet: "Es gibt einen guten Grund, Gewinner in den Vordergrund zu stellen - nicht weil sie ,am besten sind' oder ,recht haben', sondern weil sie mächtig sind."

Die Darstellung zeichnet sich dadurch aus, daß Porters Blick sich nicht nur auf Europa richtet, sondern auch die indische oder chinesische Medizin mit einbezieht. Angesichts dieser globalen Perspektive ist es zu bedauern, daß die deutsche medizinhistorische Forschung nur am Rande wahrgenommen wird. Allerdings ist zumindest über die "Lichtgestalten" der deutschen Medizin des späten neunzehnten und frühen zwanzigsten Jahrhunderts (Koch, Virchow, Ehrlich und andere) genügend auf englisch publiziert worden. Und an anglo-amerikanischen Forschungen zur Medizin im Nationalsozialismus herrscht ebenfalls kein Mangel.

Medizinische Entdeckungen werden bei Porter ausführlich behandelt. Als zwei amerikanische Kliniker kürzlich eine Rangliste derselben vorlegten, zählten sie zu den zehn wichtigsten Leistungen im einzelnen: das anatomische Hauptwerk von Andreas Vesalius (1543), Anton van Leeuwenhoeks mikroskopische Beobachtungen (1676), William Harveys Beschreibung des Blutkreislaufs (1628), die Anwendung der Kuhpockenimpfung durch Edward Jenner (1796), die Einführung der Anästhesie in den vierziger Jahren des achtzehnten Jahrhunderts, Charles Darwins Abstammungslehre (1859), Joseph Listers Erfindung eines antiseptischen Operationsverfahrens (1865), die bakteriologischen Forschungen von Robert Koch und Louis Pasteur in den achtziger Jahren des neunzehnten Jahrhunderts, die Entdeckung der Röntgenstrahlung durch Wilhelm Conrad Röntgen (1895) und auch Freuds Psychoanalyse.

Es ist das Verdienst Porters, daß er auf diese unzweifelhaften Pionierleistungen zwar ausführlich eingeht, darüber hinaus aber den Kontext, in dem sich diese Erfindungen oder Entdeckungen abgespielt haben, deutlich werden läßt. In diesem Zusammenhang verdient das Kapitel über die Labormedizin des neunzehnten Jahrhunderts Erwähnung. Porter zeichnet den langen Weg von der Grundlagenforschung im Labor hin zum klinischen Einsatz neuer Meß- und Testverfahren. Meist vergingen dabei mehrere Jahrzehnte. Anders im Fall der Messung des Blutdrucks: Nachdem Scipione Riva-Rocci 1896 eine aufblasbare Gummimanschette entwickelt hatte, die man um den Oberarm legte und so lange aufpumpte, bis der Puls verschwand, um dann beim Ablassen der Luft wieder aufzutauchen, vergingen nur einige Jahre, bis sich diese Art der indirekten Blutdruckmessung als klinisches Verfahren durchsetzte.

Doch nicht nur solchen größeren oder kleineren Fortschritten, deren Zahl im zwanzigsten Jahrhundert kaum noch zu überblicken ist, gilt das Augenmerk des Autors. Er zeigt auf, daß sich schon früh ein Widerstand gegen die zunehmende Spezialisierung in der Medizin regte, wenngleich sich der Trend nicht aufhalten ließ. Bereits Virchow, einer der Wegbereiter der naturwissenschaftlichen Medizin, hatte vor etwas mehr als hundert Jahren erklärt: "Mag man das Übermaß des jetzt herrschenden Specialismus beklagen, aber es läßt sich durch künstliche Mittel nicht beschränken. Vielleicht wird man aus der Erfahrung lernen, daß auch der Specialismus seine Grenzen haben muß." Inzwischen scheint man auf solche Warnungen wieder zu hören, zumindest in der Bundesrepublik, wo die Allgemeinmedizin lange Zeit sträflich vernachlässigt wurde und man sich schließlich wunderte, daß die Patienten einen Bogen um den (aus der Sicht der Krankenkassen recht preiswerten) Hausarzt machten und statt dessen scharenweise die viel teureren Spezialisten aufsuchen oder es gar mit alternativer Medizin versuchen.

Roy Porter wäre nicht Roy Porter, wenn sich nicht gegen Ende seiner gut strukturierten, gekonnt erzählten und flüssig übersetzten Geschichte der Heilkunst (gleichsam als Antidot gegen einen allzu naiven Fortschrittsglauben) die Sozialgeschichte der Medizin wieder durch die Hintertüre einschleichen würde. Außer dem Kapitel "Medizin, Staat und Gesellschaft" sei vor allem seine nüchterne Bilanz einer über viertausendjährigen Medizingeschichte jedem Arzt und jedem Patienten zur Lektüre wärmstens empfohlen.

ROBERT JÜTTE

Roy Porter: "Die Kunst des Heilens". Eine medizinische Geschichte der Menschheit von der Antike bis heute. Aus dem Englischen übersetzt von Jorunn Wissmann. Mit einem Geleitwort von Dietrich von Engelhardt. Spektrum Akademischer Verlag, Heidelberg, Berlin 2000. 818 S., Abb., geb., 98,- DM.

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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Robert Jütte beklagt zunächst den traurigen Zustand der deutschen Medizingeschichte, die daran allerdings wegen mangelnder Popularität ihrer Arbeiten selbst Mitschuld trage, um dann mit großer Geste auf diese "fulminante Weltgeschichte" der Medizin hinzuweisen, die aus der Feder eines britischen Historikers stammt. Im Grunde lobt Jütte alles an dem Band: dass die chinesische und indische Medizin gewürdigt werden ebenso wie die Darstellungen der großen Fortschritte der europäischen Medizingeschichte, die aber zugleich immer auch in einen allgemeinen und sozialgeschichtlichen Kontext eingebettet würden. Deutschland kommt Jütte ein wenig zu kurz, aber andererseits, so merkt er an, fehle es nicht an großen Darstellungen der deutschen Medizingeschichte und der Medizin in der Nazizeit. Lob spendet Jütte dem Autor auch dafür, dass seine Bilanz nach 4000 Jahren Medizingeschichte "nüchtern" ausfällt. Nicht nur den Ärzten, sondern auch den Patienten legt Jütte das Buch abschließend ans Herz.

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