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Die Beichte, das "Bußsakrament", dient der Vergebung der Sünden - das ist gläubigen Christen zu allen Zeiten gepredigt worden. In Wahrheit, so zeigt John Cornwell in seinem aufrüttelnden Buch, ist sie bis heute ein zentrales Unterdrückungsinstrument der katholischen Kirche geblieben. Nicht nur vermittelt sie schon Kindern die Welt als Sündenpfuhl - in ihrem Freiraum wurde systematischer Missbrauch überhaupt erst möglich. Als Papst Pius X. im Jahr 1905 das Mindestalter für die Beichte auf sieben Jahre herabsetzte, begann ein großes Menschenexperiment: Kinder wurden seitdem systematisch in Scham…mehr

Produktbeschreibung
Die Beichte, das "Bußsakrament", dient der Vergebung der Sünden - das ist gläubigen Christen zu allen Zeiten gepredigt worden. In Wahrheit, so zeigt John Cornwell in seinem aufrüttelnden Buch, ist sie bis heute ein zentrales Unterdrückungsinstrument der katholischen Kirche geblieben. Nicht nur vermittelt sie schon Kindern die Welt als Sündenpfuhl - in ihrem Freiraum wurde systematischer Missbrauch überhaupt erst möglich.
Als Papst Pius X. im Jahr 1905 das Mindestalter für die Beichte auf sieben Jahre herabsetzte, begann ein großes Menschenexperiment: Kinder wurden seitdem systematisch in Scham und Schrecken gehalten. Die Furcht vor Sünde, Fegefeuer und ewiger Verdammnis schuf bei Generationen von Gläubigen ein Lebensgefühl der Angst. Es war kein Zufall, dass manche dieser Sünden Formen von Ungehorsam gegenüber den kirchlichen Autoritäten umfassten.
Vor allem aber hat die Beichte das Verhältnis vieler Gläubiger und katholischer Amtsträger zur Sexualität nachhaltig geprägt. Die Folgen sind bis heute spürbar in einer Epoche von Säkularisierung und sexueller Befreiung haben gerade der Freiraum der Beichte und das Konzept der Sünde dem Missbrauch von Kindern Vorschub geleistet.
John Cornwell, selbst Katholik und einer der führenden Vatikanexperten, zeigt auf der Grundlage eigener Erfahrungen und vieler konkreter Beispiele, wie sehr die Beichte zum Repressionsinstrument geworden ist - und warum sie offiziell wieder mehr in den Mittelpunkt des Glaubens rücken soll. Ein sehr persönliches, leidenschaftliches Buch - und ein dunkles Kapitel abendländischer Kulturgeschichte.
Autorenporträt
John Cornwell, geboren 1940, ist Fellow am Jesus College in Cambridge und forscht am dortigen "Centre for Advanced Religious and Theological Studies".

Helmut Dierlamm, geboren 1955, übersetzt vor allem Sachbücher und Biografien aus dem Englischen, darunter Werke von Francis Fukuyama, Barack Obama, Desmond Tutu, Henry Kissinger und Tony Blair.
Rezensionen

Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension

Wie viel Macht die Kirche über die ihr anvertrauten Seelen hat, vermag Rudolf Neumaier nach der Lektüre von John Cornwells Abrechnungsschrift zu erahnen. Dabei ist Cornwells Auflistung der Missbrauchsfälle im 20. Jahrhundert bis heute das entscheidende Kriterium für den Rezensenten. Die Abscheu gegen den Klerikalkatholizismus, der selbst regelmäßig nur "Baubescheide der Seele" veröffentlicht, wächst bei ihm mit jeder Seite. Wenn Cornwell allerdings die Beichte als Instrument für den Missbrauch darzustellen versucht, geht der Rezensent nicht mit. Dass pädokriminelle Priester wirklich den Beichtstuhl als Machtinstrument nötig gehabt haben sollen, um Opfer zu finden, mag er nicht glauben. Düster genug sind Cornwells Schilderungen von Priesterseminaren und mittelalterlichen Ordenshäusern auch ohne Hinweis auf die Beichte.

© Perlentaucher Medien GmbH

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 26.03.2014

Eine ermordete Seele klagt an

Der Ire John Cornwell wollte katholischer Priester werden. Dann wurde er von seinem Beichtvater missbraucht. Nun revanchiert er sich mit einer wütenden Polemik.

Der Klappentext verspricht eine "Geschichte von Macht und Unterdrückung. Die Beichte, das ,Bußsakrament', dient der Vergebung der Sünden. Das ist gläubigen Christen zu allen Zeiten gepredigt worden. In Wahrheit, so zeigt John Cornwell in seinem aufrüttelnden Buch, ist sie stets auch ein zentrales Machtinstrument der katholischen Kirche gewesen. Nicht nur vermittelt sie schon Kindern die Welt als Sündenpfuhl - in ihrem Freiraum wurde systematischer Missbrauch erst möglich."

Wer also eine sine ira et studio vorgetragene gelehrte Analyse lesen möchte, greife lieber zu anderen Werken. Wer aber Freude an einer heftigen, stark autobiographisch gefärbten Polemik über das Thema Beichte sucht, wer schon immer der Meinung war, dass es ohne den Beichtstuhl auch keinen Kindesmissbrauch gäbe, wer den Argwohn hegte, dass sich hier "lüsternen Beichtvätern die Gelegenheit bot, sich unbeobachtet an schwache Frauen heranzumachen und sie zu verführen", der wird einen mit zahlreichen pikanten Anekdoten gespickten und gut geschriebenen Text finden, der seine Auffassung stützt.

Wer schließlich vermutet, Pius X., die bête noire des Autors, habe mit Hilfe von "Umberto Benigni, einem korpulenten, energiegeladenen Brillenträger", ein Spionagenetz aufgebaut, das eine "moderne Spielart der Inquisition" war, eine Organisation, deren "größtenteils kriminelle Aktivitäten" der Denunziation von "modernistischen", liberalen Theologen oder Historikern dienten, der wird sich bestätigt fühlen. Über Pius X. erfährt man: "Er schnupfte Tabak und rauchte Zigarren. Frühe Wochenschauen zeigen einen mittelgroßen Mann mit langsamen Bewegungen, der einen großen Bauch vor sich herschiebt und eine Art wachsame Trägheit ausstrahlt. Sein Gesicht war faltenlos, seine Augen schwermütig. Sein üppiges Haupthaar war schon in seiner Jugend weiß geworden. Doch unter der frommen, onkelhaften Oberfläche verbarg sich auch ein durchaus herrischer Zug."

Vor allem aber war er antiintellektuell und reaktionär. In die Geschichte der Beichte ist er nach Cornwell deshalb negativ eingegangen, weil er durchsetzte, dass Kinder schon im Alter von sieben Jahren beichten mussten und nicht wie vorher erst mit zwölf oder dreizehn. Der Grund dafür war, dass Pius Kinder für sexuelle Subjekte hielt. Man kann über die Maßnahme des Papstes und seine kinderpsychologische These streiten. Immerhin war er damit in Übereinstimmung mit einem seiner berühmtesten Zeitgenossen, der sich zu dieser Frage geäußert hat, wenn man auch sagen darf, dass Freuds Psychoanalyse nicht zur Weckung des Schuldbewusstseins, sondern zur Heilung von dessen traumatischen Folgen diente. Generell ist das Problem - zumal in Deutschland - sicher nicht eine Überdosis an Schuldbewusstsein, wenn man sich auch fragen muss, ob es immer auf die adäquaten Gegenstände bezogen ist. Vielleicht entspricht unserer "Unfähigkeit zu trauern" auch eine "Unfähigkeit zu bereuen".

Cornwells Arbeit reiht sich - wider Willen - ein in eine lange Tradition antikatholischer oder doch antiklerikaler Studien, obwohl der Autor sich gelegentlich davon abzusetzen sucht. Nicht immer mit Erfolg: Es handelt sich oft um ganz ähnliche Diskursstrukturen, die freilich sehr unterschiedlichen Motiven entspringen. Er will natürlich nicht die "Geschichte aus den Schauermärchen des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts" über die Beichte fortsetzen, auch nicht die in Deutschland aus der Polemik gegen den angeblichen Ultramontanismus der katholischen Kirche gespeiste Literatur des Kulturkampfes. Erst recht nicht die (von ihm gar nicht erwähnten) gegen Missbrauch im Beichtstuhl wetternden Arbeiten nationalsozialistischer Autoren, die sich auf die Akten der in den dreißiger Jahren geführten Prozesse gegen katholische Geistliche stützen - wie etwa Franz Roses Buch "Mönche vor Gericht. Eine Darstellung entarteten Klosterlebens nach Dokumenten und Akten" (1939).

Das Paradebeispiel für die Versklavung des individuellen Gewissens war sehr häufig die Beichte, speziell die Verknüpfung von Bekenntnis sexueller Sünden, zölibatärer Lebensform der Beichtväter und der Androhung drastischer Höllenstrafen für den nicht bußfertigen Sünder, zumal die Sünderin. Kritisiert wurden die Ängstigung von Kindern und Frauen und immer wieder die Erschleichung sexueller Kontakte. Schon die Einführung des Beichtstuhls als Instrument der räumlichen Distanzierung von Beichtvater und Beichtkind sollte dieser Gefahr ein Hindernis entgegensetzen, aber die Schaffung dieser "Black Box" hatte teilweise eher kontraproduktive Wirkungen.

Die Konzentration der nachtridentinischen katholischen Moraltheologie auf die Sexualität und zusätzlich auf die Gefahren der Onanie wird hervorgehoben und durch eine Fülle kritischer Kommentare belegt. Immerhin ist die hier von Cornwell und vielen anderen monierte Obsession gerade auch in völlig atheistischen Milieus ebenso verbreitet gewesen. Die psychiatrischen und psychologischen Warnungen vor den Gefahren der Masturbation seit dem achtzehnten Jahrhundert füllen Bände. Auch das von Cornwell angeführte Filmbeispiel, Michael Hanekes "Das weiße Band", wo ein evangelischer Pfarrer seinem Sohn nächtlich die Hände fesselt, um ihn vor den potentiell tödlichen Wirkungen der "Selbstbefleckung" zu schützen, spielt sich eben nicht im katholischen Milieu ab. Ohnehin ist die Auffassung, die Protestanten seien in sexualibus laxer gewesen als die Katholiken, eine Mär.

Der Autor, Jahrgang 1940, in einer irischen katholischen Familie aufgewachsen und seit früher Kindheit dem Beichtritual "unterworfen", tritt mit achtzehn Jahren in ein Priesterseminar ein. Die "dichte Beschreibung" dieses Milieus als einer "totalen Institution" im Sinne Goffmans gehört zu den gelungensten Passagen des Buches.

Cornwell wird selbst Opfer sexueller Übergriffe durch seinen Beichtvater: "Er fragte, ob er meinen Penis sehen und anfassen könne, um nachzuschauen, ob ich eine der ,bekannten Fehlbildungen' hätte, die zu übermäßig häufigen Erektionen führten. Masturbieren sei nichts Schlimmes, meinte er, aber es schade der Gesundheit, wenn man es zu oft mache. Ich war fünf Jahre zuvor in einer öffentlichen Toilette von einem Mann missbraucht worden, der sich mit ähnlichen Vertraulichkeiten an mich herangemacht hatte. Pater McCallum hatte sich das falsche Opfer ausgesucht. Ich stand auf und verließ den Raum."

Einige Zeit später verlässt er auch das Seminar und die Kirche. Das ganze dritte Kapitel des Buches enthält nun Beispiele der zitierten Art, die mit bisweilen penetranter Detailliertheit vorgetragen werden. Man könnte fast von moralisierendem pornographischem Positivismus sprechen. Ihr Ausgangspunkt sind die in jüngster Zeit bekanntgewordenen Fälle von Missbrauch, Verführung und Vergewaltigung in der katholischen Kirche der ganzen Welt. Die Aufzählung ist tatsächlich höchst erschütternd, zumal es dabei an Vertuschungsversuchen des Episkopats und höchster Stellen im Vatikan nicht gefehlt hat. Die Frage ist allerdings, ob die Ursache des Übels richtig ausgemacht wird.

Das persönliche Beispiel des Autors zeigt ja, dass Missbrauch kein kriminelles Monopol der katholischen Kirche war oder ist und dass er auch dort nicht strikt an die Beichte gekoppelt war. Das ist ihm auch durchaus bewusst. Aber der Missbrauch durch Priester erscheint ihm als besonders grausam, weil er eine Art "Seelenmord" darstellt: "Wenn Geistliche Kinder missbrauchen, hat das oftmals weiterreichende Folgen als die emotionalen und psychischen Verletzungen, wie sie die Opfer und ihre Familien bei sexuellem Missbrauch ohnehin schon erfahren. Ein solcher Übergriff auf ein junges Gemeindemitglied verletzt das Vertrauensverhältnis zwischen dem spirituellen Kind und seinem geistlichen Vater (...). Deshalb ist der sexuelle Missbrauch von Kindern durch Priester mit entsprechenden Fällen in der übrigen Bevölkerung kaum zu vergleichen."

Ob aber das Trauma bei Missbrauch durch den leiblichen Vater wirklich so viel geringer ist als beim spirituellen? Problematisch scheint auch die Annahme Cornwells, die plötzliche Häufung von Missbrauchsfällen in den späten sechziger und siebziger Jahren hänge damit zusammen, dass hier sexuell unaufgeklärte und unerfahrene Priester plötzlich mit den sexuellen Emanzipationstheorien der linken "sexuellen Befreiungsbewegung" konfrontiert worden seien.

Als unbefangener Leser, der sich soziologisch und historisch mit dem Thema der Beichte befasst hat, legt man das Werk mit zwiespältigen Gefühlen aus der Hand. Vieles ist "irgendwie" richtig gesehen und bisweilen sogar sehr scharfsinnig beobachtet. Häufig überwiegt aber der Eindruck, alles sei auch irgendwie "schief". Fast immer ist man geneigt, alle Einschätzungen entschieden mit "Jein" zu kommentieren.

ALOIS HAHN

John Cornwell: "Die Beichte". Eine dunkle Geschichte. Aus dem Englischen von Helmut Dierlamm und Enrico Heinemann. Berlin Verlag, Berlin 2014. 320 S., geb., 22,99 [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 25.06.2014

Verschmutzte
Seelen
John Cornwells Anklageschrift „Die Beichte“
rechnet mit Dogmatismus und Missbrauch ab
VON RUDOLF NEUMAIER
Die Bibel ist zu dünn, um die Pflichten eines Katholiken darzustellen. Ergänzend braucht es nicht nur päpstliche Dekrete, sondern auch Amtsblätter. Sie kommen direkt aus den Verwaltungsbehörden der Bistümer, den Ordinariaten. Verlautbarungen in Amtsblättern sind oft formuliert wie Baubescheide aus dem Landratsamt, dennoch dienen sie der Seelsorge. Großes Wort: Seelsorge. Ein guter Katholik orientiert sich zum Heil seiner Seele an den Instruktionen im Amtsblatt, sie stellen nun mal Gottes Willen dar, dessen Verkündigung die Kirche exklusiv für sich in Anspruch nimmt. Wer gegen die Vorgaben verstößt, hat eine schwere Sünde am Hals.
Man sollte neben der Lektüre von John Cornwells Buch „Die Beichte“ keine Amtsblätter lesen. In einem Amtsblatt des Bistums Regensburg steht die Anordnung: „Jeder Gläubige ist verpflichtet, seine schweren Sünden wenigstens einmal im Jahr zu bekennen.“ Und zwar in einer Beichte. Unterschrieben hat die „Weisung zur kirchlichen Bußpraxis“ Bischof Voderholzer selbst. Im Februar 2014. An der Beichte kommt ein Katholik nicht vorbei. Außer er nimmt eine schwere Sünde in Kauf, früher bekannt als Todsünde. Und damit sind wir im tiefen Mittelalter der Kirche, genaugenommen im 20. Jahrhundert, in das John Cornwell taucht. Es ist eine düstere Zeit in der Kirchengeschichte. So düster, dass sich Cornwells Blick arg trübte. Ob sie überwunden ist, muss noch offen bleiben.
Die Dramaturgie dieses Buches steuert geradewegs auf den Skandal zu: die Fälle von sexuellem Missbrauch, für die der Katholizismus im 20. Jahrhundert verantwortlich war, die ihn aber erst erschütterten, als sie sich vor ein paar Jahren nicht mehr vertuschen ließen. Cornwell suggeriert, die Geschichte der Beichte sei eine Geschichte des Missbrauchs, und umgekehrt. Eine eigenwillige Sichtweise. Zu eigenwillig, um gründlich mit der Kirche abzurechnen – und das will Cornwell. Doch er erhebt ein Symptom zur Ursache.
John Cornwell, Jahrgang 1940, ist Mitglied des altehrwürdigen Jesus College von Cambridge. Während sein älterer Bruder unter dem Namen John Le Carré erfolgreich Thriller verfasst, gibt er selbst neben seiner Wissenschaft die „Kunst des investigativen Journalismus“ sowie „kreatives Schreiben“ als Hauptinteressen an. Seine Recherchen in der Kirchengeschichte als investigativ zu bezeichnen, wäre übertrieben, leidlich kreativ ist Cornwell allenfalls da, wo es ihm darum geht, Verfehlungen Geistlicher mit seinem Titelkracher in Zusammenhang zu bringen: mit der Beichte. Immerhin blickt er selbst auf eine Opfervergangenheit: John Cornwell lebte im Priesterseminar, als ihn ein vorgesetzter Geistlicher bei der Beichte aufforderte, seinen Penis vorzuführen. Cornwell tat es nicht. Priester wurde er auch nicht.
Die Beichte zählt zu den großen katholischen Faszinosa. Das hängt vor allem mit dem Umstand zusammen, dass in der Beichte Geheimnisse verhandelt werden. Cornwell bezieht die Sünden fast ausschließlich auf Intimitäten. Fast so häufig wie um die Beichte selbst geht es um Sex. Sex zwischen Patres und Novizen in mittelalterlichen Ordenshäusern, Sex zwischen Pönitentinnen und Beichtvätern, als vor 500 Jahren der Beichtstuhl noch nicht eingeführt war, Sex in Priesterseminaren, sexuelle Gewalt in den Pfarrhäusern des 20. Jahrhunderts.
Wer Geheimnisse kennt, hat Macht über sein Gegenüber. Diese These – das Bußsakrament als Machtinstrument – ist fundamental für Cornwells Kirchenkritik. Verbindlich zum Sakrament erklärt wurde die Beichte erst im Jahr 1215 unter Papst Innozenz III. Jeder Christ musste fortan einmal pro Jahr beichten. Wer das unterließ, bekam kein kirchliches Begräbnis. Mit dieser Maßnahme versuchte Innozenz die Probleme in den Griff zu bekommen, die die Kirche zu dieser Zeit mit Ketzern hatte.
Bei Cornwell kann man eine Angst des katholischen Klerus um die eigene Rolle als Gottes exklusive Instanz auf Erden mitverfolgen. Das macht das Buch interessant. Wenn die Kirche strengere Regeln für dieses Sakrament einführte, war dies auch Ausdruck von Verstocktheit. Am deutlichsten wurde das unter Papst Pius X. vor ziemlich genau hundert Jahren.
Pius X., den die reaktionärsten Traditionalisten der Kirche heute vergöttern, fungiert in Cornwells Abrechnung als Urheber allen Übels, das sich seit seinem Pontifikat in Pfarrhäusern und Priesterseminaren zutrug. Die Enzykliken „Lamentabili sane exitu“ und „Pascendi dominici gregis“ dieses Papstes lesen sich wie Verordnungen totalitärer Regime. Wo zaghaft ein Geist der Aufklärung vorgedrungen war, wurden die Priester wieder auf Linie getrimmt – die passende Philosophie dazu kam aus dem Mittelalter, die Scholastik. Pius ordnete an, Geistliche zu verfolgen, die Sätze wie diesen auszusprechen wagten: „Die Dogmen, welche die Kirche als Offenbarungen hinstellt, sind keine vom Himmel gefallenen Wahrheiten, sondern eine Auslegung der religiösen Tatsachen, welche sich der menschliche Verstand mit mühsamer Anstrengung errungen hat.“ Es galt, das eigene Denken auszuschalten, wenn man eine Kirche betrat.
Selbstverständlich verschärfte dieser Religionsdiktator auch die Bußregeln. Unter anderem mussten von nun an schon siebenjährige Kinder zur Beichte antreten – für John Cornwell der Ursprung zahlreicher späterer Missbrauchsfälle. Die Beichtsituation mag das Anbahnen ihrer Verbrechen erleichtert haben – aber benötigten die pädokriminellen Priester wirklich einen Beichtstuhl, um Opfer zu finden?
Der Priesternachwuchs wurde nach Pius X. strenger denn je der Welt entfremdet, ehe er auf sie losgelassen wurde. Als Vorbilder präsentierten ihm die Bischöfe bizarre Figuren: Asketen, die all ihr menschliches Verlangen per Gebet niedergerungen oder nachts auf dem kalten Kirchenboden geschlafen hatten, um Versuchungen im Zaum zu halten. Wie verklemmt junge Geistliche waren, als sie nach der Weihe in einer Pfarrei eingesetzt wurden, kann man durch John Cornwells Schilderungen des Seminarlebens erahnen. Die Burschen mussten die strengen moraltheologischen Lehrsätze von Henry Davis verinnerlichen. In Deutschland las man unter anderem den Tübinger Moraltheologen Otto Schilling, einen Neuscholastiker mit Anschauungen, die wohl schon zu seiner Zeit skurrile Züge hatten. Den Priesteranwärtern trichterte er Regeln ein wie diese: „Tänze können als erlaubt nur gelten, wenn sie weder an sich noch nach den Umständen, wobei besonders die Forderung ehrbarer Kleidung sowie die Forderung nach besonderer Aufsicht in Betracht kommt, noch nach der Individualität tadelnswert sind.“
Solche Männer sollten also Seelsorge betreiben. Sie hatten bei Schilling über „widernatürliche Unzuchtssünden“ wie der „pollutio nocturna“ (nächtliche Besudelung) gelernt, und nun sollten sie, wie es im „Lehrbuch der Moraltheologie“ hieß, als Beichtväter „im Interesse der Seelenleitung“ eruieren, ob der Beichtende den Samenerguss im Schlaf selbst verschuldet hatte. Durch vorbereitende Gedanken. Das wäre nach Schillings Berechnung als eine schwere Sünde einzustufen gewesen.
Die Kirche hatte in der Zeit, die Cornwell beschreibt, ein gewaltiges Problem mit Sexualität. Jeder einzelne Missbrauchsfall, den er auflistet, schürt Abscheu gegen einen Klerikalkatholizismus, der die Täter nicht nur einsetzte, sondern auch beharrlich vor der weltlichen Justiz abschirmte.
Der Autor nimmt sich in seiner Anklageschrift die Beichte vor. Um sexuellen Missbrauch anzuprangern, bietet sie eine etwas flache Angriffsfläche. Aber: Das Anliegen, mit einer totalen Institution abzurechnen, rechtfertigt den Ansatz. Wer wie die Kirche und ihre Hierarchen für sich in Anspruch nimmt, Seelen von Sünden reinigen zu können, hat auch Macht über sie. Gefährlich viel Macht.
Das Buch führt uns ins tiefe
Mittelalter der Kirche, genau
genommen ins 20. Jahrhundert
Beim Neuscholastiker Otto
Schilling erfuhr man, wann Tänze
als erlaubt gelten durften
 
  
  
John Cornwell: Die Beichte. Eine dunkle Geschichte. Aus dem Englischen von Helmut Dierlamm und Enrico Heinemann. Berlin Verlag, Berlin 2014. 320 Seiten, 22,99 Euro. E-Book 16,99 Euro.
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"Provokant wird Cornwells Studie zur Geschichte und zur Gegenwart dadurch, dass er Papst Pius X. und sein Dekret "Quam singulari" in den Mittelpunkt seiner Abhandlung stellt. In ihm bestimmte Pius X. 1910, dass jeder Katholik von nun an einmal in der Woche, statt wie früher einmal im Jahr, zur Beichte gehen müsse. Und noch viel dramatischer: Pius X. führte damit die Kinderbeichte und die Erstkommunion für die erst Siebenjährigen ein. Zu Recht spricht Cornwell von einem "der gewagtesten Experimente an Kindern, die je im Namen des Christentums verordnet wurden".", taz, Brigitte Werneburg, 05.02.2014