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Dies ist der zweite Teil einer Trilogie, die Alban Nikolai Herbst 1998 mit dem Roman "Thetis. Anderswelt" eröffnete. An dessen Ende war die Hauptfigur Hans Erich Deters in einem furiosen Showdown vor den Gestalten seiner Fantasie aus dem Berliner "Cafe Silberstein" geflüchtet und in seiner hoch technisierten Anderswelt gelandet. Orientierungslos steht er nun in der imaginierten Megastadt "Buenos Aires", in einem panischen Szenario aus Polizei- und Krankenwagen, durcheinander rennenden Sanitätern, schaulustigen Nachtschwärmern und eigenen Phantasmen. An einem schönen Junitag war er in Berlin…mehr

Produktbeschreibung
Dies ist der zweite Teil einer Trilogie, die Alban Nikolai Herbst 1998 mit dem Roman "Thetis. Anderswelt" eröffnete. An dessen Ende war die Hauptfigur Hans Erich Deters in einem furiosen Showdown vor den Gestalten seiner Fantasie aus dem Berliner "Cafe Silberstein" geflüchtet und in seiner hoch technisierten Anderswelt gelandet. Orientierungslos steht er nun in der imaginierten Megastadt "Buenos Aires", in einem panischen Szenario aus Polizei- und Krankenwagen, durcheinander rennenden Sanitätern, schaulustigen Nachtschwärmern und eigenen Phantasmen. An einem schönen Junitag war er in Berlin losspaziert und ist über Nacht am 1. November angekommen, neun Jahre später zumal. Eine Frau spricht ihn an, er geht mit ihr, geht wieder fort, geht mit einer anderen weiter. Sein Zuhause gibt es nicht mehr, und er wird auch mit einer Lebensgeschichte konfrontiert, die seine ist und doch auch wieder nicht: er ist verheiratet, wohnt nicht dort, wo er zu wohnen glaubt, ja , er ist jemand anders. Seine Erinnerungen verschieben sich allmählich in die eines neuen, umprogrammierten Deters, doch ohne dass sich die alten löschen ließen. Und der 1. November vergeht nicht: Heute war der 1. November, gestern war der 1. November, und morgen würde abermals nicht ein, sondern derselbe 1. November sein. Also macht er sich endlich auf die Suche nach der verlorenen Dunckerstraße in Berlin, zurück in die Realität. Gibt es sie aber? Ist nicht sie selbst nur Fantasie? Und ist nicht alles Geschehen möglicherweise Teil eines großen kybernetischen Experiments?
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 09.10.2001

Flaschendrehen und andere Spiele
Im Faustregelkreis: Alban Nikolai Herbst organisiert seinen Roman selbst / Von Dietmar Dath

Wenn wir die hysterisierten Weltkulturkämpfe der jüngsten Zeit überstanden haben werden und es demnächst auch im Geistigen doch noch einmal friedlich ernst wird mit der Globalisierung, werden Schriftsteller aller Sprachräume sich bald an Schreibweisen versuchen, die man zuvor ganz anderen Regionen zurechnete. Dann wird man fragen, wer die größte Haikudichterin Lapplands ist, wie viele erfolgreiche Horrorschriftsteller Botswana besitzt und, schließlich, ob es in Deutschland eigentlich auch magische Realisten gibt. Autoren wie Cortázar oder Borges etwa, deren Texte so üppig wie verstörend sind und die sich mit jedem Satz tiefer in ihre eigenen Welten verstricken. Zur Beantwortung der letzten Frage gilt die Faustregel: An ihren Sätzen sollt ihr sie erkennen.

Denn was den Südamerikanern ihr Urwald, das ist den Deutschen ihre Grammatik - ein Wildwuchs voll gefährlicher Raubtiere, bunter Vögel und Insekten. In Alban Nikolai Herbsts neuem Roman "Buenos Aires. Anderswelt" stehen mitunter Sätze, deren amazonisches Rauschen das geschilderte Geschehen regelrecht mit sich reißt. Einer davon, im letzten Drittel des Buches daheim, lautet in voller Länge samt eigensinniger Interpunktion: "Carola Ungefugger, die niemals fähig gewesen war, auch nur einen Hauptsatz grammatikalisch korrekt ins Wortprogramm zu tippen, ausgerechnet diese Dümmste aller in Portalier schmarotzenden Nichtstuer - es gab ihrer, wie zu Zeiten feudaler Häuser, erbarmungslos viele: Lakaien Staatssekretäre, alle die Gattinnen Gatten, die bloß als solche sich in den informatisch duftenden Gärten sinekurieren durften -, hatte sich der Sprache verschrieben in ihrer großen Langeweile, vielleicht auch bloß, um vor Unglück nicht immer fetter und fetter zu werden."

Wer sich beim Lesen dieses Satzes vorkommt, als habe er von einem jener Präparate genascht, die der im letzten Jahr verstorbene Drogenprophet Terence McKenna zur "Rekonfiguration des Hirns" empfahl, liegt richtig: Eine "narkophänomenale Welt" McKennaschen Schlages ist in der Tat Schauplatz der Romanhandlung. McKennas meist bezaubernd krude, manchmal auch sehr gescheite Schriften über außerirdischen Sex, tryptamine Halluzinogene und die Resonanzen der Zeit dürften aber nur sehr wenigen Lesern vertraut sein. Herbst stellt seinem Buch eine Sentenz McKennas als Motto voran, die es für das Schicksal des gegenwärtigen Menschen hält, seine Gedanken zum Körper und seinen Körper zu Gedanken machen zu müssen.

Herbsts Nähe zu dem brillanten Exzentriker wäre auch sonst unverkennbar. "Zog Buenos Aires an mir die Vergangenheit in die Zukunft hinein?" fragt einmal jemand; sicher die kürzeste poetische Nutzanwendung von McKennas Theorien über "temporale Resonanz", die sich denken läßt. Die Geschichte spielt in einem vom andrängenden "Thetismeer" umspülten Europa beziehungsweise in dessen Spiegelung, die beide zusammengenommen eine Cyber-Stadt mit fließenden Ortsverhältnissen bilden, welche mal Anderswelt, mal Berlin, mal Buenos Aires heißt. Auch das erinnert an McKenna, nämlich an dessen Reiseberichte aus Südamerika, wo er "Forschungen zur Ethnopharmakologie der spirituellen Transformation" trieb, das heißt: mit Indios herumstreunte, die ihm pflanzliche Mittelchen verabreichten und damit sein Nervensystem durcheinanderbrachten.

Der Erfolg oder Mißerfolg eines magischen Realisten bemißt sich indes nicht allein nach der halluzinogenen Wirkung seiner Sätze und der Treue, mit der er den Spuren großer Wahnsinniger folgt. Wer ein echter Schamane des einundzwanzigsten Jahrhunderts werden will, muß vor allem durch Pracht und Vielfalt seiner Erfindungen zu bestechen wissen. Herbst hat mit "Buenos Aires" eine Metropole erfunden, die wie einst Italo Calvinos "unsichtbare Städte" eher für inwendige Zustände als für öffentliche Verkehrsmöglichkeiten steht. Dieses Buenos Aires ist ein kybernetischer Nabel der simulierten Welt, in dem sich der mal "ich", mal "Herbst", mal "Deters" und mal ganz anders genannte Erzähler bewegt wie in der "Mentopolis", die der Computerforscher Marvin Minsky als Metapher für den menschlichen Geist ersann.

"Zwar hatte ich Buenos Aires erfunden, das hieß aber nicht, daß ich mich auskannte darin", warnt die unstete Erzählerstimme, die immer wieder vom "ich" ins "er" oder ins Wahrnehmungsbündel "die Fiktionäre" abgleitet. Gibt es in diesem verflüssigten Ortskoordinaten- und Personen-Netz überhaupt Anhaltspunkte, nach denen man eine Lektüre organisieren kann? Es gibt sie; und wie es sich für magische Realisten gehört, sind sie metaphysisch. Die "Energieform" namens "Hodna" ist Herbsts allgegenwärtiges Zaubermedium zahlloser Durchgänge durch Straßen, deren Selbstdurchdringung die der Romanhandlung bedingt. Das erinnert an eine Figur aus der mathematischen Topologie, die "kleinsche Flasche" heißt: ein dreidimensionales Äquivalent des berühmten zweidimensionalen Möbiusbandes, das nur eine Seite hat, die mit sich selbst verbunden ist - unbegrenzt, aber endlich.

Bei allem Avancierten und Atemlosen in Konstruktion und Themendurchführung des Buches hat der Versuch, dennoch irgendwie zu einer Totalität zu gelangen, die ein Roman sein soll, etwas anrührend Altmodisches. Herbst weiß, daß die Simulakren seiner Zauberstadt mit den medialen Umwelten der gegenwärtigen Infosphäre schwer mithalten können und daß ein "kybernetischer Roman", wie er sein Buch nennt, im Grunde versucht, das Rad neu zu erfinden - verräterisch liest man da einmal von "Räumen, die GameCenter hießen und für die Jugend das gleiche waren wie Buenos Aires für Deters". Warum sollte, wer einen "Cyberraum" erfahren möchte, wie Herbst einmal archaisierend schreibt (warum nicht konsequent "Cyperspace"?), überhaupt ein Buch lesen, anstatt sich den Film "Final Fantasy" anzuschauen oder das gleichnamige Computerspiel zu spielen?

Der magische Realist will die "Kybernetik" so instrumentalisieren, wie die Romanciers der Hochmoderne ihren Henri Bergson, ihren Sigmund Freud oder andere abstrakte Ideenspender gebrauchten. Aber die Regelkreis- und Steuerungslehre der digitalen, elektronischen Welt ist dafür kaum geeignet - nicht, weil es per se unmöglich wäre, das Vokabular der "Kenngrößen", "Graphentheorien" und "harmonischen Linearisierungen" mit einem literarischen zu versöhnen, in dem es um "Allegorien", "Lyrismen" und "Rahmenerzählungen" gehen könnte.

Die Schwierigkeit liegt vielmehr darin, daß die Kybernetik, ähnlich wie diverse Evolutions- oder Systemtheorien, einfach keine Optik, keine Perspektive, keine Draufsicht bereitstellt, der folgend sich erzählerisches Material organisieren ließe. Kybernetik, Evolutions- und Systemtheorien liefern ja keine externen Organisationsprinzipien, die etwa "Bauplänen" entsprächen, sondern beschreiben, wie Dinge sich erfolgreich selbst organisieren. Ebendas kann ein Roman aber nicht, allem strukturalistischen und poststrukturalistischen Gerede über Texte, die irgend etwas "tun", zum Trotz, und soweit er es doch kann (nämlich auf der Ebene, auf der sich schlechthin alles irgendwie selbst organisiert, indem es nicht gleich auseinanderfällt), ist jeder Roman "kybernetisch", der gewählte Untertitel also ein schlichter Pleonasmus.

"Buenos Aires. Anderswelt" ist der zweite Band einer Trilogie und schon deshalb mit offenem Ende konzipiert. Der erste Band, "Thetis. Anderswelt", in dem sich das Weltklima katastrophisch verändert hatte und das die Anderswelt umspülende Thetismeer schon hohe Wellen schlug, führte in einen reichen Kosmos, der seinen Schöpfer jetzt durch Überfülle in die Schranken weist. Ein Autor, der sich angesichts der erwähnten technisch-medialen Herausforderer im "GameCenter" für die Form "Roman" noch einmal derart riskant in die Brust wirft, ist nicht zu beneiden - am Ende der Irrfahrt, wenn der dritte Band vollendet sein wird, aber vielleicht zu bewundern.

Alban Nikolai Herbst: "Buenos Aires. Anderswelt". Kybernetischer Roman. Berlin Verlag, Berlin 2001. 270 S., geb., 39,80 DM.

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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension

Stephan Maus hat im vorliegenden Roman zahlreiche Anleihen aus Science-Fiction-Filmen gefunden. Der Autor habe eine "fröhliche Collage von Fragmenten aus U- und E-Kultur" erstellt. Die "genaue technische Prozedur" sei zwar kompliziert in Herbsts Roman: Die Personen lebten in unterschiedlichen Galaxien, in die sie jeweils durch "Lappenschleusen" gelangten. Aber in der fiktiven Cyerspace-Welt sei alles anders: Das Ich sei ein Netzwerk, die Hauptperson stolpere von "Link zu Link". Nur zwischendurch tauche die Person in der Realität auf. Die Sprache Herbsts erinnert den Rezensenten an Wolf von Niebelschütz. Maus jubiliert: "Etwas vergleichbar Raffiniertes gibt es im deutschen Sprachraum nicht".

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