Produktdetails
  • Verlag: Berlin Verlag
  • Seitenzahl: 172
  • Deutsch
  • Abmessung: 210mm
  • Gewicht: 288g
  • ISBN-13: 9783827003560
  • ISBN-10: 3827003563
  • Artikelnr.: 24385589
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 11.03.2000

Zaunpfahl II
Marcus Brauns Zweitling
Wer bei Nadiana nicht sofort an Breton und seine Nadia denkt, dem ist mit Marcus Brauns neuem Roman nicht zu helfen; auch sollte die Zielgruppe natürlich im Schlaf hersagen können, dass über „Stroheim”, eine der Hauptfiguren, eine dezent angedeutete Beziehung hergestellt wird zu Erich von Stroheim, dem berüchtigten kahlköpfigen Schauspieler, Regisseur, Drehbuchautor, der nicht selten dem Begriff „Kino der Grausamkeit” zugeordnet wird; womit schon wieder einen Zaunpfahl gehoben wäre, in Richtung Artaud, der Breton viel verdankt usw.
Marcus Braun, dessen Erstling Delhi letztes Jahr einiges Aufsehen erregte, betätigt in seinem zweiten Roman die Assoziatonsmaschinerie mit der Raffinesse eines vom Spätsurrealismus begeisterten Studienrats. Derart absichtsvoll und nett ausgefeilt wirkt dieses Buch, dass man Braun ständig pflichtschuldig aufmuntern möchte: gut gemeint, wirklich gut gemeint. Eine Beurteilung, die diesmal nicht den „Inhalt” meint. Nein, das Gutgemeinte bei Brauns fleissigem Zweitling ist die „Form”. Was nichts daran ändert, dass Bemühtheit, welcher Art auch immer, keinem Buch gut tut. Denn wo sich vertraute Banalität des Inhalts (eine zerredete Liebes-, Eifersuchtsgeschichte in Paris) und literarische Preziosität zu treffen versuchen, da entsteht noch immer ein schwerer Sahnekuchen (welcher Surrealist prägte dieses Bild?).
Es ist allerdings wichtig zu wissen, dass Nadiana lange vor Delhi begonnen wurde. Man kann jetzt klarer sehen, woher Braun kommt: aus dem papierraschelnden Reich der LiteraturLiteratur. Selbstverständlich war der Surrealismus eine aufregende Veranstaltung, nicht nur verglichen mit dem akademischen Kanon des 19. Jahrhunderts; „La beauté sera convulsive ou ne sera pas” hiess der Plakat-Wahlspruch, den Braun in Nadiana viel zu wenig berücksichtigt hat. Offensichtlich wollte er sich in dem vor vielen Jahren begonnenen Text noch in der Literaturgeschichte verstecken. In Delhi jongliert Braun schon waghalsig und oft brillant mit dramaturgisch-stilistischen Anleihen beim Krimi, beim Dokumentartext, beim Kolportageroman und bringt auf diese Weise ein wenig reflexiv gebrochene Welt in seinen Text. Nadiana hingegen ist, bis auf einige Kabinettstückchen, eine Enttäuschung, weil es „Obsessionen” nur behauptet, statt sie darzustellen. Keine Spur Nabokov, schade.
HANS-PETER KUNISCH
MARCUS BRAUN: Nadiana. Roman. Berlin Verlag, 2000. 173 Seiten, 29 Mark.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
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Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 17.04.2000

Leichte Hirnverschiebungen
Marcus Braun verrätselt die Kopfwelt

Die zweiunddreißig Kapitel seines Romans "Delhi", der im vorigen Jahr einiges Aufsehen erregte, hat Marcus Braun, so wird kolportiert, an den Zügen einer Kasparow-Partie entlanggetüftelt. Dass er mit diesem exotischen Beinahekrimi debütierte und nicht mit seinem früher verfertigten Opus "Nadiana", dürfte ein Schachzug des Verlags gewesen sein, der dem jungen Talent einen halbwegs leserfreundlichen Einstand sichern wollte. Drei Jahre brauchte Braun für die Bastelarbeit an "Delhi"; bei "Nadiana" waren es sieben. Was lange währt, wird nicht zwangsläufig besser, aber wer es schätzt, sich vom Schriftsteller ordentlich quälen, narren und nasführen zu lassen, dem muss das jetzt nachgereichte Werk mindestens zweieinhalb Mal so viel Lust bereiten wie das indische Mörderspiel, dessen greller Effekt sich schneller und spurloser verflüchtigte als ein Ginrausch.

In einer europäischen Eifersuchts-Etüde wie "Nadiana" fließt kein Gin, dafür Bier, Mineralwasser mit Aspirin, Milch oder Kaffee. Der wiederum schmeckt "bitter, wie jeder selbst gekochte in den entscheidenden Momenten des Lebens", und wird etwa in der Mitte des Romans von einem Herrn Stroheim getrunken, der vielleicht, vielleicht auch nicht, mit Nadja, der Geliebten des oft, aber nicht immer als Erzähler auftretenden Herrn Rosenbaum, eine heimliche Liaison unterhält. "Vermutlich treffen wir Stroheim auf der Rückfahrt", lautet der geheimnisschwangere erste Satz, mit dem Braun sein literarisches Konzept der allgemeinen Verunsicherung preisgibt. Ob Stroheim ein Traum, eine Erfindung Rosenbaums ist oder ob umgekehrt ein Schuh daraus wird, bleibt bis zum Schluss unklar. Nadja, die Vielbegehrte, ist vom Surrealisten Breton entlehnt und schon deshalb eine dubiose Erscheinung, auch wenn sie mit Nabokovs "Ada" drei Buchstaben teilt und nachgerade rilkemäßig "unsere Existenz unendlich sanft in ihren starken schlanken Händen" hält. Streckenweise wird die Erzählstimme einem gewissen - eher wohl ungewissen - Frederic überantwortet, der unter Berufung auf Descartes das Vorhandensein des übrigen Romanpersonals in Zweifel zieht, obwohl er bei Rosenbaum ein Dutzend Biere geschnorrt und Nadja einen unsittlichen Antrag gemacht hat.

Immerhin darf zunächst angenommen werden, dass eine Zugreise von Paris nach Berlin stattfindet, "fünf Personen im Abteil, Nadja und ich, gegenüber ein älteres Pärchen und Stroheim". Letzterer ist, falls er denn existiert, still in Kritzeleien vertieft, bis sein flüchtiges Füßeln mit Nadja bei ihrem Begleiter eine Eifersuchtsparanoia auslöst, die den sehr belesenen jungen Mann auf kurvenreiche Gedankenfahrt durch Erinnerungen, Projektionen und Zwangsvorstellungen schickt. Das überzeugt für die Dauer des ersten Kapitels, in dem eine Mischung aus Eisenbahn-Atmosphäre, Pariser Impressionen und erotischen Fantasien jene "leichte Verschiebung von Hirn und Welt" suggeriert, wie manch einer sie vom Dösen auf langen Zugfahrten kennt. Die Warnung vor dem, was danach folgt, wird indes gleich mitgeliefert: "Hatte ich Probleme? Das findet im Kopf statt. Nur im Kopf. Mit ihm steht und fällt alles."

In der Tat lässt sich Brauns Prosa mit einer Kasperlepuppe vergleichen, deren schwergewichtiges Haupt aus Holz, Ton oder Pappmaché an einem dünnen, schlaffen Stoffleib befestigt ist. Was der Autor im Kopf hat, nötigt uns Respekt ab: seine literarische Gelehrsamkeit und sein Zitatenrepertoire, sein mathematisch kalkulierender Formwille und der heilige Ernst, mit dem er als Musterschüler der Moderne die Zerstörung aller Gewissheiten im Hinblick auf Zeiten, Orte, Bewegungsrichtungen, Figuren und Ereignisse betreibt. Was diesem Verrätselungs-Exzess fehlt, ist freilich der Lebensstoff, der einen Zusammenhang zwischen der eifersüchtigen Erregung und der gefallsüchtigen Gedankenakrobatik herstellen könnte: Allzu deutlich wird, dass es hier nicht um eine Obsession, sondern um eine Ambition geht. Das macht die Geschichte derart hirnlastig und, wie man im Fränkischen sagen würde, darmlos, dass der Leser das Ende bestenfalls mit dem "wundgelegenen Humor" erreicht, den Rosenbaum in seinem letzten, kryptischen Brief an Stroheim erwähnt.

Warum aber sollten wir Marcus Brauns schriftstellerisches Vermögen nach einem Stadium beurteilen, das er längst überwunden hat, wie sein zweiter Versuch "Delhi" beweist? In "Nadiana" heißt es: "Die Geschmeide entstehen ja in der Provinz, um im Bad der Metropolen gehärtet zu werden, wenn Sie diesen etwas angreifbaren Stil erlauben." Braun, in Bullay an der Mosel geboren, hat in seiner Wahlheimat Berlin beste Chancen, sich auf künftige literarische Feuerproben vorzubereiten.

KRISTINA MAIDT-ZINKE.

Marcus Braun: "Nadiana". Roman. Berlin Verlag. Berlin 2000. 173 S., geb., 29,80 DM.

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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension

Wenig hat dieser Roman mit den "Fetzigkeiten" der gegenwärtigen deutschen Literatur zu tun, betont der Rezensent Andreas Nentwich. Ein labyrinthisches "Verwirrspiel" sei er, und wenn man den Versuchen Nentwichs folgt, den Plot nachzuzeichnen, kann man nur zustimmen. Die Personen werden sich im Erzählen offensichtlich selbst fiktiv, Projektionen der jeweils anderen. Alles, so der Rezensent, fügt sich zu einer "Textur der Selbstaufhebungen". Hochreflexiv sei das ganze und äußerst anspielungsreich, zwischen, um nur ein paar Assoziationen Nentwichs zu zitieren, "Poésie pure" und "Nouveau Roman", zwischen Nabokov und Roadmovie. Unüberhörbar der Respekt für den artifiziellen Ansatz, zuletzt aber wird doch die Begrenztheit aufs Nur-Virtuose konstatiert. Es fehlt, so Nentwich kurz und deutlich, der "Lebenshauch", der Roman bleibt für ihn eine "Kopfgeburt".

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