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Gewalt ist allenthalben in der Diskussion. Einerseits ist ihre Präsenz unleugbar. Andererseits gilt sie in den europäischen Gesellschaften als ein bedrohliches, doch im Kern überwundenes Phänomen. Ein von zivilen Verkehrsformen durchzogener Kontinent registriert alle Arten von Krawall, Kampf und Krieg mit Abscheu. Landläufig erblickt man Gewalt allenfalls am Rand oder jenseits der europäischen Zivilisation und vermeint, das auch geographisch und sozial festmachen zu können. Innerhalb ihrer gehe sie, wenn überhaupt, von minoritären und veralteten Kulturformen verhafteten Gruppen aus. Außerhalb…mehr

Produktbeschreibung
Gewalt ist allenthalben in der Diskussion. Einerseits ist ihre Präsenz unleugbar. Andererseits gilt sie in den europäischen Gesellschaften als ein bedrohliches, doch im Kern überwundenes Phänomen. Ein von zivilen Verkehrsformen durchzogener Kontinent registriert alle Arten von Krawall, Kampf und Krieg mit Abscheu. Landläufig erblickt man Gewalt allenfalls am Rand oder jenseits der europäischen Zivilisation und vermeint, das auch geographisch und sozial festmachen zu können. Innerhalb ihrer gehe sie, wenn überhaupt, von minoritären und veralteten Kulturformen verhafteten Gruppen aus. Außerhalb wäre sie ohnehin ein Problem von unberechenbaren bis verrückten ,Unzivilisierten'. Gewalt ist so die der Anderen. Die Nichtzugehörigen erscheinen rückständig gegenüber der europäischen Kultur, die mit Frieden und Wohlstand assoziiert wird.

Aber der Balken im eigenen Auge kann nicht verdecken, daß auch wir, im vermeintlichen Zentrum der Zivilisation, in vielen Formen der Gewalt verfallen sind. Eben das löst eine aufgeregte Debatte aus. Wir schlagen vor, in ihr die geschichtliche Dimension auszuleuchten, um so die gegenwärtigen Erscheinungen zu grundieren. Wir gehen von der These aus, daß Gewalt unbegriffen bleiben muß, wenn sie als Phänomen ohne Vergangenheit gefaßt wird. Weder individuelle noch soziale Gewalt läßt sich allein aus der Gegenwart herleiten. Wir erinneren an die gewaltträchtige europäische Geschichte. Nirgendwo hat die Menschheit eine derart destruktionsfähige und dennoch - oder gerade deswegen - erfolgreiche Zivilisation hervorgebracht. Eben deshalb, so läßt sich beunruhigend folgern, steht Gewalt auch nicht am Rand der europäischen Geschichte und Gegenwart, sondern bildet einen wesentlichen Bestandteil okzidentaler Kultur. Ohne das Bild in Gänze entfaltet haben zu können, weisen wir auf historische und soziale Prozesse hin, die bis heute wirkungsmächtig sind.

Gerhard Armanski: Es begann in Clermont. Der erste Kreuzzug und die Genese der Gewalt in Europa - Gerhard Armanski: Gewissen im Feuer. Ketzerei, Inquisition und die Folgen - Gerhard Armanski: "Denn solchem zaubrischen Geschlecht gehört nur das Feuer." Hexenwahn in der frühen Neuzeit - Gerhard Armanski: Fortuna und Furor. Die Conquista der Neuen Welt - Andreas Klinger: Formen der Gewalt im Dreißigjährigen Krieg - Michael Kaiser: Die Verstaatlichung der Gewalt - die Zeit des Absolutismus - Gerhard Armanski: Das schwarze Treibrad der Moderne. Sklaverei in der Neuzeit. Industrialisierung und Gewalt - Jens Warburg: Von der Verfleißigung der Arbeit - Jens Warburg: Der industrialisierte Tod. Kriege des 20. Jahrhunderts - Gerhard Armanski: Die Gewaltmaschine: Das Lager als Signum und Stigma des Jahrhunderts
Autorenporträt
Gerhard Armanski lehrt Sozial- und Kulturgeschichte u.a. an der Universität Osnabrück; zahlreiche Veröffentlichungen zu ausgewählten Bereichen der politischen Soziologie (u.a. öffentlicher Dienst, Militär, Tourismus); seit einigen Jahren Arbeit an einem Langzeitprojekt "Geschichte der Gewalt in Europa"; Jens Warburg, Soziologe, studierte in Frankfurt/M. Soziologie und Wirtschaftswissenschaften. Mehrere Veröffentlichungen zu den Themen Militär und Krieg; Ute Helmbold, geb. in Bremen, lebt in Essen. Sie studierte von 1980 bis 1987 Kommunikationsdesign an der Universität/GH Essen. Seit 1986 ist sie freiberuflich als Illustratorin tätig. Seit 1994 ist sie Professorin für bildhafte Darstellung an der Hochschule für Bildende Künste in Braunschweig.
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 12.02.2002

Immer Ärger mit Europa
Es herrscht Gewalt in der Zivilisation, aber gibt es auch eine Zivilisation der Gewalt? Trittsteine über den Schotter der Destruktivität
Der 11. September 2001, in all seiner Schrecklichkeit, vermittelte doch eine Gewissheit. Indem dieser Terrorakt zum „Angriff der Barbarei auf die zivilisierte Welt” erklärt wurde, bekommt der alte Gegensatz der europäisch-nordamerikanischer Zivilisation und der quasi von außen in die abendländische Kultur eindringenden Gewalt wieder Gewicht. Doch sind Kultur, Zivilisation und Gewalt wirklich unvereinbar, oder sind sie nicht vielleicht doch Geschwister, über deren Verwandtschaft man an der europäischen Kaffeetafel freilich nur ungern spricht, weil sie nicht ins selbst gemalte Familienbild passt?
Es ist Gewalt in der Zivilisation, aber gibt es auch eine „Zivilisation der Gewalt”? Solche Fragen widmet sich ein von Gerhard Armanski und Jens Warburg herausgegebener Sammelband über die „europäische Gewaltgeschichte”. Keine umfassende Theorie der Gewaltgeschichte soll vorgelegt werden, sondern „Trittsteine europäischer Destruktivität” werden vermessen, um einen Beitrag zur historischen Anthropologie des Abendlandes zu liefern.
Die europäische Gewaltgeschichte im Sinne von organisierter, weltanschaulich begründeter und lang anhaltender Gewalt beginnt mit dem Kreuzzug von 1096, in dem die selbst ernannten Gottesstreiter die Moslems und Juden zu vernichtenswerten Feinden erklärten. Nach innen richteten sich dagegen die Gewaltexzesse der Ketzer- und Hexenverfolgung, während derer durch die kirchliche und weltliche Obrigkeit ein systematisch vorgehender Strafverfolgungs- und Exekutionsapparat aufgebaut wurde.
Die weltliche Macht in Gestalt des absolutistischen Staates pazifizierte die von Glaubenskriegen zerrütteten europäischen Nationen gewaltsam und lieferte mit ihrem von Drill und Disziplin geprägten Gesellschaftsbild auch das Vorbild für die auf rationale Arbeitsteilung undZeitökonomie angewiesene Industrialisierung. Exportiert wurde das europäische Gewaltparadigma durch die Eroberung Mittel- und Südamerikas und die weitere koloniale Expansion, ebenso wie durch die neuzeitliche Sklaverei, die zugleich wiederum eine wichtige Voraussetzung der kapitalistischen Produktionsweise war. Kriege – die offensichtlichste Form der organisierten Gewalt – verheerten Europa immer wieder. Verdichtete Dauerphänomene des Krieges waren der Dreißigjährige Krieg des 17. Jahrhunderts und sein Wiedergänger, das Zeitalter der beiden Weltkriege des 20. Jahrhunderts. Alle diese Tendenzen, koloniale Eroberung, Sklavenarbeit und Feindvernichtung, tödlich rational durchgestaltet, trafen in den Konzentrationslagern des Stalinismus und vor allem des Nationalsozialismus zusammen, so dass Armanski, heftig hegelnd, in ihnen „die gewissermaßen zu sich gekommene absolute Gewalt der europäischen Geschichte” erblickt.
Überall in der Zivilisation Ritzen sieht man also die Gewalt sitzen, und dass das Wüten der Täter ebenso wie das Leiden der Opfer Spuren hinterlässt, ist offensichtlich. Dennoch legt man dieses Buch mit gemischten Gefühlen beiseite. Unspezifisch bleibt zunächst, was mit „Gewalt” gemeint sein soll: Kraft, Amtsgewalt, Gewalttätigkeit? Psychische, physische oder strukturelle Gewalt?
Der Leser muss sich das meist mühsam selbst erschließen. Etwas problematisch wirkt beispielsweise die Annahme, die „Verfleißigung der Zeit” im Zuge der Industrialisierung sei ebenso Teil der Gewaltgeschichte wie die Ketzerverfolgungen des Mittelalters und der frühen Neuzeit. In gewissem Sinne ahistorisch erscheint vor allem, dass die Kreuzzüge zum quasi voraussetzungslosen Nullpunkt der europäischen Gewaltgeschichte erklärt werden. Doch bevor die Europäer in diesem Sinne „Täter” wurden, waren sie selbst auch „Opfer”, beispielsweise des im frühen achten Jahrhundert Westeuropas erreichenden Siegeszugs des Islam oder der Ungarneinfälle im 10. Jahrhundert. Diese Reihe ließe sich beliebig fortsetzen und macht deutlich, dass die Gewaltgeschichte nur als Beziehungsgeschichte verstanden werden kann. Der europäische Gewaltexport ist ebenso wichtig wie der Gewaltimport.
Andererseits gibt es auch eine Geschichte jenseits der Gewalt, innerhalb der Gesellschaften, aber auch zwischen ihnen, wovon man hier freilich wenig erfährt. Die Auseinandersetzung mit der europäischen Gewaltgeschichte lohnt sich, darin ist Armanski zuzustimmen, nicht zuletzt wegen der Chance, den Gegenentwurf zur Gewalt stets mitzulesen. CHRISTOPHJAHR
GERHARD ARMANSKI, JENS WARBURG (Hrsg.): Der gemeine Unfrieden der Kultur. Europäische Gewaltgeschichten. Mit Illustrationen von Ute Helmbold. Verlag Königshausen und Neumann, Würzburg 2001. 240 Seiten, 25 Euro.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension

Gemischte Gefühle hinterlässt dieser Sammelband bei Rezensent Christoph Jahr, der mit dem hübschen Satz "Überall in der Zivilisation Ritzen sieht man also die Gewalt sitzen" sein halb zustimmendes und halb enttäuschtes Resümee zieht. Zustimmend, weil an der Tatsache der ausgeübten Gewalt auch im Abendland seit dem Kreuzzug von 1096 nicht zu rütteln ist. Nicht einleuchten will Jahr allerdings, warum die Herausgeber dieses Datum so abrupt und ohne Vorgeschichte setzen. Für ihn ist Gewaltgeschichte nur als Beziehungsgeschichte denkbar, bei der die erfahrene Gewalt eine ebenso große Rolle spielt wie die anderen gegenüber ausgeübte Gewalt. Unklar ist Jahr außerdem die Definition von Gewalt: Ist damit auch Amtsgewalt, oder nur physische oder gar strukturelle Gewalt gemeint, fragt er. Generell müssten sich die Leser in jedem Beitrag den Gewaltbegriff neu erarbeiten, das sei schlicht etwas mühselig. Und dass die "Verfleißigung der Zeit" in den Gewaltkanon gehört, möchte er außerdem bezweifeln.

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