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"Poetisch und kraftvoll erzählt, ohne Klischees, realistisch und historisch genau. Ein Buch, in dem ich die Erzählungen meines Großvaters wiedererkenne, das die Welt und die Sprache meiner ostpreußischen Vorfahren lebendig werden läßt."Klaus Bednarz Das Bild einer Zeit, einer Landschaft, menschlicher Schicksale: Die Lebensgeschichte der Bewohner von sieben Höfen des kleinen Dorfes Neu-Kermuschienen in Ostpreußen in den Jahren von 1914 bis 1944, von der ersten bis zur zweiten, endgültigen Flucht. Ein viel stimmiges Requiem auf eine versunkene Welt, zusammengetragen aus den Erzählungen der Leute…mehr

Produktbeschreibung
"Poetisch und kraftvoll erzählt, ohne Klischees, realistisch und historisch genau. Ein Buch, in dem ich die Erzählungen meines Großvaters wiedererkenne, das die Welt und die Sprache meiner ostpreußischen Vorfahren lebendig werden läßt."Klaus Bednarz
Das Bild einer Zeit, einer Landschaft, menschlicher Schicksale: Die Lebensgeschichte der Bewohner von sieben Höfen des kleinen Dorfes Neu-Kermuschienen in Ostpreußen in den Jahren von 1914 bis 1944, von der ersten bis zur zweiten, endgültigen Flucht. Ein viel stimmiges Requiem auf eine versunkene Welt, zusammengetragen aus den Erzählungen der Leute und verdichtet in einer Arbeit von zwanzig Jahren.
Dieses Buch ist ein Mirakel: die Auferstehung einer versunkenen Welt, deren Bilder für immer vergangen, deren Stimmen für immer verweht zu sein schienen.Klaus Jürgen Liedtke erweckte sie nach zwanzig langen Jahren des Zuhörens, des Aufschreibens, des Sammelns und Sortierens wieder zum Leben, in einer großen Erzählung über Heimat, Flucht und Vertreibung, zusammengewebt aus tausend kleinen Geschichten, in der Schwebe zwischen Fakten und Fiktionen. Wir sehen die Menschen der sieben Höfe eines ostpreußischen Dorfes, Kermuschienen hieß es, wir hören den unverkennbaren Tonfall ihrer Sprache, nehmen ihre Züge wahr, folgen ihren Geschicken von der ersten Flucht im Herbst 1914, als die Armee des Zaren über das Land hereinbrach, bis zur zweiten und letzten Flucht im Januar 1945, als die Rote Armee jenen Winkel der Welt eroberte, bis danach die Häuser zerfielen und die Regungen menschlichen Daseins spärlich wurden. Die Idee des Buches sei"im Grunde eine absurde", sagte Liedtke, nämlich das"Unmögliche zu versuchen". Es ist ihm geglückt. Er hat die kleinegroße Welt, von der nur noch"einige Grund mauern blieben, Scherben, Brocken von menschlichem Leben", in die Gegenwart herübergeholt.
Autorenporträt
Klaus-Jürgen Liedtke, geboren 1950 in Südtondern. Die erste eigenständige Lyrikveröffentlichung erfolgte 1991. Einen Namen hat sich Liedkte als literarischer Übersetzer aus dem Schwedischen und Finnlandschwedischen gemacht; er erhielt 1993 den "Natur- och -Kultur-Übersetzerpreis" der Schwedischen Akademie und 2016 den "Mikael Lybeck-Preis".
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 20.02.2009

In den Urwäldern der Erinnerung
Emma, Ernst und Wilhelmine aus Neu-Kermuschienen: Klaus-Jürgen Liedtke lässt die Leute über Ostpreußen reden
Literatur gestaltet Erfahrung, und zwar in grundsätzlich anderer, direkterer, persönlicherer Weise als die empirischen Wissenschaften das tun; besonders ist ihr, spätestens seit dem Siegeszug des realistischen Romans, der Bereich der gesellschaftlichen Erfahrung zugewiesen. Als gängiges Modell dafür können die „Buddenbrooks” gelten: Da nimmt ein Autor, was er kennt, verfremdet die Namen und schaltet sodann mit dem Material, wie es ihm gut dünkt. Das Ergebnis ist als Kunstwerk wie als Quelle seiner Zeit unendlich ergiebig; aber man sollte nicht das Ausmaß der Metamorphose übersehen, durch die es zu dem wurde, was es schließlich ist. Wie bei jeder großen Kraft bleibt auch hier der Anteil der Gewalt unverkennbar. Man weiß, dass nicht alle Personen, die sich in den „Buddenbrooks” wiederfanden, glücklich darüber waren. Vielmehr grollten sie Thomas Mann, dass er sie lebendigen Leibes zu Figuren auf seinem Schachbrett umfunktionierte.
Klaus-Jürgen Liedtke will es anders machen. Er entstammt einer ostpreußischen Familie; in der Herkunft deutet sich an, wie sehr ihm die Kategorie der Erfahrung vor allem unter dem Aspekt des Verlusts erscheint. Er selbst ist 1950 geboren, auch nicht mehr ganz jung also, aber jedenfalls zu jung, um noch selbst Anteil an der alten Heimat zu haben, welche im Winter 1944 auf 1945 unterging. Dennoch hat er durch die Erzählungen seiner älteren Verwandten und der anderen ehemaligen Bewohner des Dorfes Neu-Kermuschienen einen privilegierten Zugang zu seinem Stoff. Er steht ihnen nahe, und sie entsinnen sich noch gut; so ist die Brücke, die er bauen muss, kurz. Fragil ist sie trotzdem, denn er will über sie zurück ins erste Drittel der vergangenen hundert Jahre, eine Zeit, deren letzte Zeugen soeben sterben oder in die Unansprechbarkeit abdriften.
Unter diesen Umständen muss Liedtke der Rohstoff der Erinnerung als etwas viel Wertvolleres vorkommen als die Kunstprodukte, die sich allenfalls daraus drechseln ließen. Der Titel, den er seinem Buch gibt, spricht die behütende, umhegende Absicht und sein Zurücktreten als Autor unmissverständlich aus: „Die versunkene Welt. Ein ostpreußisches Dorf in Erzählungen der Leute”. Er will Erfahrung wie einen Urwald schützen; die Leistung des Autors besteht gewissermaßen in einer Unterlassung. Er hört bloß zu, und er schreibt bloß auf.
Das hat Konsequenzen für die Gestalt des Buchs. Die mündliche Erzählung gehorcht eigenen Formgesetzen. Sie schlägt kürzere Bögen, sie setzt manches voraus, was sich in der Beziehung von Sprecher und Hörer von selbst versteht (den Fremden aber befremdet), andererseits schreckt sie Wiederholung nicht; denn sie strebt der anekdotischen Verfestigung zu, gerade dem Gegenteil jener Freiheit und Vielfalt, die der Künstler wollen muss.
Die Anekdote aber heftet sich bevorzugt an das reale Objekt und den markanten Vorfall. Gewisse Bereiche der Erfahrung werden von der mündlichen Überlieferung so überhaupt nie oder nur aufs Knappste in Ausdruck gefasst, die landschaftliche Schönheit der alten Heimat etwa. Nicht, als ob die Erzählenden für sie kein Organ hätten, vielmehr richtet sich auf sie mehr als auf alles andere der intensive Sehnsuchtsschmerz; aber dieses Organ ist eben nicht die Zunge. Hier springt zuweilen der Autor ein, mit schildernden Abschnitten, die der Leser als so unpassend wie unentbehrlich hinnimmt.
Als entscheidend für das Schicksal des Buchs erweisen sich die „Leute”, die im Untertitel erscheinen. Sie sind verschieden von den Figuren, die sich der Romancier zurechtmacht, auch nicht identisch mit den „Menschen”, von denen Festredner und Politiker in salbungsvollem Ton zu sprechen pflegen. Mit der Rede von den „Leuten” wird in der mündlichen Erzählung das Gesellschaftliche fassbar. In ihnen sind das Allgemeine und das Besondere vorab vermittelt, man sieht sie zugleich je für sich und alle zusammen. Für ein umfangreiches Buch ergibt sich hier aber ein darstellerisches Problem. Dem Leser steht ja, anders als dem Mitlebenden, keine Anschauung bei, die ihm sortieren hilft. Darum verwirrt es ihn, dass die Akteure (gar nicht so viele, vielleicht ein Dutzend Haupt- und drei Dutzend Nebenpersonen) nirgendwo je so exponiert werden, wie es erforderlich wäre, wenn man ihnen auf der Spur bleiben soll. Immerfort wimmeln hier „die” Emma und „der” Ernst und „die” Wilhelmine durcheinander, man möchte ihnen zurufen: Jetzt haltet doch mal still, damit wir ein schönes Gruppenbild schießen können!
Die Ruth wusste alles besser
Dabei hat Liedtke durchaus Gruppenbilder zur Verfügung; nur macht er nichts draus. Als Anhang bringt er ein komplettes Fotoalbum, vorn und hinten durch eine wenig glaubwürdige Replik jenes knisternden halbtransparenten Seidenpapiers mit Spinnenmuster begrenzt. Mit verkehrter Freigiebigkeit bietet er nicht weniger als 49 Fotos dar, und mit einer Sparsamkeit, die man noch verkehrter nennen muss, quetscht er bis zu fünf von ihnen auf eine einzige kleine Buchseite. So erkennt man die Leute nur noch alle zusammen, aber nicht mehr je für sich. Hier ließe sich bei einer zweiten Auflage durch eine verhältnismäßig kleine Abänderung viel verbessern.
Man tut diesem bemerkenswerten Buch Unrecht, wenn man es ganz und gar als Literatur behandelt. Zunächst empfiehlt es sich aus den besten sachlichen und persönlichen Gründen Allen, denen Ostpreußen am Herzen liegt. Sie werden es nicht als lästige Einsprengsel unverständlicher Art empfinden, wenn hier ständig gemülmt und zakeriert, geschorrt und gejankert wird, es mauklig oder muksch zugeht, wenn es genau zu unterscheiden gilt, ob einer noch schmackostert oder schon prachert. Schon die bloße Nennung von Ortsnamen wie Ballupönen, Antmeschken und Jagotschen wird ihnen einen wehmütigen Seufzer entlocken: Es gibt kein Jagotschen mehr, schon die Nazis arisierten diesen verdächtigen Buchstabenverhau zu „Gleisgarben”, und heute heißt es polnisch oder russisch sicher wieder anders. Ja, es ist wirklich eine versunkene Welt!
Wer Ostpreußen fernsteht, liest das Buch wohl mit dem größten Gewinn, indem er es als einen Testfall betrachtet: In welchem Grad kann es gelingen, mündlich mitgeteilte Erinnerung, unter Verzicht auf eigenmächtige Entstellung, in die Schriftform hinüberzuleiten? Es ist klar, dass ein Buch von 400 Seiten nicht ausschließlich aus Sätzen wie diesen bestehen kann: „Und mit der Ruth, die Ruth wusste alles besser. Die Elfriede war viel älter, die passte nicht mehr so richtig zu ihnen. Dann kam die Tuta von Kräkels, die passte schon eher zu ihnen. Ein bisschen rundlich war sie immer, die Elfriede, sie kam wohl auf die Mutter.” So viel transkribierende Treue ist des Guten deutlich zu viel. Mit relativ geringen Eingriffen ließe sich eine durchhaltbare personale Perspektive herstellen. Auch dafür gibt es im Buch Beispiele: „Und da fand er in der Heide auf dem Ochsenweg einen völlig verdreckten Hut, der herrenlos dalag. Den hat er aufgelesen, er strebte doch wieder nach Besitz.” An diesem Rädchen braucht man aber nur ein Winziges zu drehen, und man landet bei der Ironie, die unter Liedtkes Voraussetzungen als Missgriff, als Vertrauensbruch gelten muss: „Dort hatten sie noch eingebrochen und ihm die ganze Wäsche gestohlen, dabei hatte die älteste Schwester Mariechen ihn so gut ausgesteuert” – hier hängt alles davon ab, wie der Leser sich das kleine Wörtchen „so” ausgesprochen denkt; denkt er es sich, mit oder ohne Absicht, falsch, wird das arme Mariechen sofort zum penetranten Hausmütterchen, und die es erzählt hat, genauso.
Dieses Buch ist kein Meisterwerk, sondern etwas viel Interessanteres, der Versuch nämlich, verschiedene, gleichermaßen legitime, aber einander widerstreitende Schreib-Intentionen zusammenzubringen, mit wechselndem Erfolg. Es ist gut, dass eine Editionsreihe, die sich Andere Bibliothek nennt, auch für so etwas Platz hat. BURKHARD MÜLLER
KLAUS-JÜRGEN LIEDTKE: Die versunkene Welt. Ein ostpreußisches Dorf in Erzählungen der Leute. Eichborn Verlag, Die Andere Bibliothek. Frankfurt am Main 2008. 425 Seiten, 32 Euro.
Kinder auf dem Land. So erschien den Lesern der Berliner Illustrierten Zeitung im Kriegsjahr 1917 die ferne Provinz Ostpreußen. Foto: Ullstein Bild
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension

In die Andere Bibliothek, findet Burkhard Müller, passt dieses Ostpreußen-Buch prächtig. Für ihn ist, was Klaus-Jürgen Liedtke hier vorlegt, zwar kein Meisterwerk. Dafür schätzt Müller es als den höchst interessanten Versuch, die Dokumentation mündlicher Überlieferung samt ihrer Formgesetze (zum Beispiel Repetition, Anspielungsreichtum) und das literarische Erzählen zusammenzubringen. Dass der Umgang mit dem "Rohstoff der Erinnerung" nicht unproblematisch ist, merkt Müller beim Lesen schnell. Die Selbstbeschränkung des Autors führt zur Fragmentarisierung der Figuren. Und was dem Leser mit ostpreußischem Background unmittelbar verständlich sein mag (Ortsnamen, Beiwörter), so befürchtet der Rezensent, muss dem weniger Eingeweihten rätselhaft bleiben.

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