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Wer erfahren will, wie es wirklich war, wird sich an die Frauen halten müssen. Denn die Männer haben sich in den Ruinen als "das schwächere Geschlecht" gezeigt. So sieht es die Autorin dieses Buches, die das Ende des Krieges in Berlin erlebt hat. Ihre Aufzeichnungen sind frei von jeder Selbstzensur. Ohne die geringste Retouche sind sie 1959 in einem kleinen Schweizer Verlag erschienen. Seitdem waren sie nicht mehr zugänglich; erst nach dem Tod der Verfasserin ist eine Neuausgabe möglich geworden. Nicht das Ungewöhnliche wird in diesem einzigartigen Dokument geschildert, sondern das, was…mehr

Produktbeschreibung
Wer erfahren will, wie es wirklich war, wird sich an die Frauen halten müssen. Denn die Männer haben sich in den Ruinen als "das schwächere Geschlecht" gezeigt. So sieht es die Autorin dieses Buches, die das Ende des Krieges in Berlin erlebt hat.
Ihre Aufzeichnungen sind frei von jeder Selbstzensur. Ohne die geringste Retouche sind sie 1959 in einem kleinen Schweizer Verlag erschienen. Seitdem waren sie nicht mehr zugänglich; erst nach dem Tod der Verfasserin ist eine Neuausgabe möglich geworden. Nicht das Ungewöhnliche wird in diesem einzigartigen Dokument geschildert, sondern das, was Millionen von Frauen erlebt haben: zuerst das Überleben in den Trümmern, ohne Wasser, Gas und Strom, geprägt von Hunger, Angst und Ekel, und dann, nach der Schlacht um Berlin, die Rache der Sieger.

Von jenem Selbstmitleid, an dem die geschlagenen Deutschen litten, fehlt hier jede Spur. Illusionslose Kaltblütigkeit, unbestechliche Reflexion, schonungslose Beobachtung und makabrer Humor zeichnen das Tagebuch aus. Lakonisch stellt die Autorin fest: "Die Geschichte ist sehr lästig." Auch darin zeigt sich ihre innere Überlegenheit, daß sie sogar unter den vergewaltigenden und plündernden russischen Soldaten noch sehr genau zu differenzieren weiß.

Neben Ruth Andreas-Friedrich und Margret Boveri tritt hier eine dritte Zeugin auf, deren Bericht jahrzehntelang verschollen war. Niemand, der ihn liest, wird ihn wieder vergessen.

Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 24.09.2003

Wenn Jungen Weltgeschichte spielen, haben Mädchen stumme Rollen
Wer war die Anonyma in Berlin? Frauen, Fakten und Fiktionen – Anmerkungen zu einem großen Bucherfolg dieses Sommers
Zu den größten Bucherfolgen dieses Sommers gehört das Buch der Anonyma „Eine Frau in Berlin. Tagebuch-Aufzeichnungen vom 20. April bis zum 22. Juni 1945” (Eichborn Verlag). Zehntausende lasen den Zeugnisbericht der Unbekannten. Seit achtzehn Wochen behauptet er einen Platz auf der Bestsellerliste des Spiegel. „Eine Frau in Berlin” ist durchweg positiv, oft euphorisch besprochen worden (SZ vom 10. Juni). Das Buch ist ein gut inszeniertes Rätsel. Wir wissen nicht, wer es geschrieben hat, wird dürfen es nie erfahren und sollen doch glauben, dass es sich um ein authentisches Zeugnis handelt: den Bericht einer deutschen Frau über Luftschutzkeller, Hunger und Vergewaltigungen durch marodierende Rotarmisten.
Das Buch über den Frühling der Befreiung im russisch besetzten Berlin erschien erstmals 1954 auf englisch, wurde in den USA, in England, Italien, Dänemark, Schweden, Norwegen, den Niederlanden, Spanien und Japan verkauft, bevor im Jahr 1959 eine deutsche Ausgabe auf den Markt kam. Dann war „Eine Frau in Berlin” lange Zeit verschollen. Nun hat der Bericht in der von Hans Magnus Enzensberger herausgegebenen „Anderen Bibliothek” eine triumphale Rückkehr erlebt.
Der Leser findet hier alle Zutaten der Zeugnisliteratur, das spezifische Aroma eines document humain. „Eine Frau in Berlin” will als zeithistorisches Dokument gelesen werden, zwingt uns, dies auf Treu und Glauben zu tun, verlangt, dass wird die Aura des Authentischen für den Beweis der Echtheit nehmen. Verlag und Herausgeber tun alles, uns in dieser Lesehaltung zu belassen. Dabei ist das Buch als zeithistorisches Dokument wertlos. Es ist bisher in erster Linie ein Dokument für die Umtriebigkeit seiner Herausgeber.
Die erste, die amerikanische Ausgabe aus dem Jahr 1954 wurde herausgegeben von Kurt W. Marek (1915-1972), einem Autor, dessen Spezialität es war, Tagebücher zu montieren und umzuschreiben, Zeugnisse zu literarisieren. Es waren gewiss nicht ausschließlich edle Motive, die Marek veranlassten, das Manuskript einem New Yorker Verleger zu übergeben. Im eigens für die Ausgabe bei Harcourt Brace & Company verfassten Nachwort lässt Marek keinen Zweifel am propagandistischen Charakter des Unternehmens. Kurz nach dem Ende des Korea-Krieges legte er ein Buch vor, dass erzählt, wie die „rote Apokalypse” über Berlin kam und zugleich das Bild bußfertiger Deutscher zeichnet. Der deutsche Kommunist, der im Buch auftritt, trägt alle Züge einer Karrikatur, des Unmännlichen, Verschlagenen.
Die überaus schlampige Ausgabe des Eichborn-Verlags arbeitet weiter an der Verrätselung der Textgeschichte. Wer hat die Vorbemerkung verfasst? In Mareks Nachwort, das hier „erstmals in deutscher Originalfassung” erscheint, heißt es „immer wieder dieses VG = Vergewaltigung”. In den Tagebuch-Aufzeichnungen erklärt die Verfasserin, sie habe die Abkürzung „Schdg.” = Schändung benutzt. Die Abweichung ist ein Anzeichen für die Existenz verschiedener Fassungen. Welche haben wir vor uns?
Glauben wir der Vorbemerkung, dann hat die Unbekannte von April bis Juni 1945 drei Schulhefte voll geschrieben, diese anschließend auf der Schreibmaschine abgetippt, „für einen Menschen, der ihr nahestand”. Es wurden „121 engzeilige Maschinenseiten”.
Die Aufzeichnungen beginnen drehbuchreif: „Ja, der Krieg rollt auf Berlin zu. Was gestern noch fernes Murren war, ist heute Dauergetrommel. Man atmet Geschützlärm ein.” Schreibt so, wer einem engen Freund sich erklären will? Es handele sich, behauptet das Nachwort, „um ein Dokument”, „nicht um ein literarisches Erzeugnis, bei dessen Verfertigung der Autor mit einem Auge auf ein Publikum blickt”. Von bewährten literarischen Verfahren der Spannungserzeugung und Figurencharakterisierung, von allem, was geeignet ist, den Eindruck wahren Lebens hervorzurufen, wird im Buch allerdings reichlich Gebrauch gemacht. Wer hat es geschrieben? Hat es die unbekannte Frau in Berlin überhaupt gegeben oder ist sie eine literarische Figur?
„Es war der Wunsch der Verfasserin, daß ihr Name ungenannt bleibt. Schon aus diesem Grunde verbieten sich Spekulationen über ihre Identität”, steht warnend auf dem Schutzumschlag der Neuausgabe. Am 14. Juni 2003 hat der verantwortliche Herausgeber Hans Magnus Enzensberger im „Hessischen Rundfunk” dennoch Mutmaßungen angestellt: „Wenn ich eine Vermutung wagen darf: Ich glaube, es muss vielleicht jemand sein, der überwintert hat in der Nazi-Zeit irgendwo doch im Medienbereich. Ich stelle mir jemand vor, der schon 1930 seine ersten Sachen veröffentlicht hat und dann vielleicht in einem Modejournal überwintert hat.”
Was die Unbekannte vor anderen vergewaltigten Frauen auszeichnet, lässt sich nach Lektüre des Buches genauer sagen: Sie war 1945 Anfang dreißig, sie kannte Kurt W. Marek bereits vor Kriegsausbruch, sie ist viel gereist, war in der Sowjetunion, wo sie Russisch lernte, sie sprach Französisch, besaß noch ein Notizheft aus ihrer Pariser Zeit. Ihr Vater wurde 1916 einberufen, im Juni 1945 wurde sie in das Verlagsprojekt eines Ungarn hineingezogen. Wer ist die Unbekannte, die sich als „Kopfarbeiter zweiter Garnitur” charakterisiert?
Es hat unter den Bekannten Kurt W. Mareks eine Frau gegeben, auf die ein Großteil dieser Charakteristika passt. Ein Brief von Frau S. aus München führte uns auf ihre Spur. Die Unbekannte hat – ehrgeizig, zäh und entschlossen – ein erstaunlich selbstbestimmtes Leben geführt, in vielem typisch für ihre Generation. Marta Hillers wurde am 26. Mai 1911 als Tochter des Betriebsleiters Johannes Hillers und seiner Frau Petronella in Krefeld geboren. Als sie fünf Jahre alt war, 1916, fiel ihr Vater bei Verdun. Die allein stehende Mutter hatte drei Kinder großzuziehen.
Nach den Angaben in einem Anfang 1935 verfassten Lebenslauf erhielt Marta Hillers nach dem Besuch der Grundschule eine Freistelle auf einem Lyzeum in Krefeld. Von 1925 bis 1930 besuchte sie das Realgymnasium, „Untertertia bis Oberprima”. Einen Beruf erlernte sie zunächst nicht, arbeitete nach dem Abgang vom Gymnasium in Krefelder und Düsseldorfer Firmenbüros.
In jungen Jahren, heißt es im Tagebuch, sei die rote Fahne ihr „so leuchtend” erschienen. In der Tat hatte Marta Hillers früh schon den katholischen Glauben ihrer Eltern abgelegt, bezeichnete sich selber als „Dissident” oder, wie ein Mitarbeiter der Reichsschrifttumskammer notierte, „gottgläubig”. Von September 1931 bis Mai 1933 ging sie auf Reisen. Im Lebenslauf heißt es dazu lapidar: „Auslandsreisen nach Polen, Georgien, Armenien, Russland, Türkei, Griechenland, Sizilien, Italien – dabei fotografische Tätigkeit für europäische und amerikanische Blätter.” In diesen Jahren hat sie Russisch gelernt. War sie Kommunistin?
Als sie um Aufnahme in den Reichsverband Deutscher Schriftsteller ersuchte, bürgte für sie Max Barthel (1893-1975). Barthel war das Musterbild eines Arbeiterschriftstellers, Sohn eines Maurers, Spartakuskämpfer und einer der ersten Mitglieder der gerade gegründeten Kommunistischen Partei Deutschlands, die er 1923 wieder verließ. Er hatte Sowjetrussland ausgiebig bereits, die Jugendinternationale mitgegründet. In dem Buch „Kämpfende Menschheit”, das Jugendweihlingen übergeben wurde, ist Barthel auch 1930 noch vertreten. Max Barthel wurde einer der prominentesten Überläufer von rot zu braun. Er arbeitete für das von Goebbels gegründete Blatt „Angriff” , später als Schriftleiter der „Büchergilde Gutenberg”, die der Deutschen Arbeitsfront eingegliedert war. Wegen „Unzuverlässigkeit” aus dem Verlag entlassen, verdiente Barthel seinen Lebensunterhalt als Journalist, unter anderem für die Deutsche Arbeitsfront, für die auch Marta Hillers kurze Zeit tätig werden sollte.
Von ihren Reisen ist Marta Hillers nicht direkt nach Deutschland zurückgekehrt. Von Mai 1933 bis Juli 1934 studierte sie „Historik und Kunsthistorik an der Sorbonne” in Paris. Im Sommer 1934 ging sie heim ins Reich, zunächst für einen „Ferienaufenthalt in Süddeutschland”. Dann zog sie nach Berlin und begann dort ihre Karriere als freie Journalistin, schrieb Artikel, Reportagen, Erzählendes für den Berliner Lokal-Anzeiger, die Nachtausgabe, für Zeitschriften und Provinzzeitungen.
Sie wohnte zunächst in der Wohnung ihres Vetters Hans Wolfgang Hillers (1901-1952), Berliner Straße 2 in Tempelhof, dem Teil Berlins, in dem sie all die Jahre wohnen wird. Die Nachtausgabe wie die Berliner Straße werden auf der ersten Seite der Tagebuch-Aufzeichnungen erwähnt. Hans Wolfgang Hillers, zu dem sie eine innige Beziehung gehabt haben soll, ist vor allem als Bühnen- und Film-Autor bekannt geworden. Er schrieb das Drehbuch zum Ufa-Film „Germanin. Die Geschichte einer kolonialen Tat”, im Mai 1943 uraufgeführt und mit den Prädikaten „künstlerisch wertvoll”, „staatspolitisch wertvoll” versehen. Spätestens mit Hans Wolfgang Hillers trat auch Kurt W. Marek ins Leben unserer Unbekannten. Hillers bürgte, als Marek Mitglied des Reichsverbands Deutscher Schriftsteller werden wollte, für diesen. Wenig später bürgte Kurt W. Marek für Marta Hillers.
Kurz nachdem Marta zu Hans Wolfgang Hillers gezogen war, erschienen aus dessen Feder „60 Thesen gegen das Elend der Literatur in Deutschland”: „Freunde! Kameraden! Hört! Verlaßt die Schreibtische! Verlaßt die Stuben! Verlaßt die Lesesäle der Bibliotheken! Geht auf die Straße! Seht! Ein Volk ist geworden! Ein Volk ist aufgebrochen! Ein Volk ist unterwegs.” Rot oder braun? Es ging um Bewegung.
Marta Hillers hatte diesen Ratschlag nicht nötig, sie war ohnehin gern on the road. Vom 11. bis zum 15. Dezember 1934 veröffentlichte der „Berliner Lokal-Anzeiger” in Fortsetzungen die Reportage „Heimat Landstraße. Zwei Mädel mit Fernfahrern unterwegs. Von Trude Sand und Marta Hillers.”
Trude Sand war damals bei der Union, Deutsche Verlagsgesellschaft tätig. Ihr Werk über „Leben, Treiben, Taten und Abenteuer der Jungen und Mädel im Landjahr” trug den unvergesslichen Titel „Zickezacke Landjahr Heil” und erschien 1935 in vierter Auflage.
Bevor die beiden Mädel zur Fahrt aufbrechen, erfahren sie auf einem Parkplatz in Berlin SO einiges über die Geschichte der deutschen Fernfahrerei: „Eigentlich ist der Versailler Vertrag schuld. Er nahm Deutschland so viele Waggons, dass die Reichsbahn zunächst den Güterverkehr nicht mehr bewältigen konnte. Da half sich die Industrie selber, kaufte aus Heeresbeständen Lastwagen auf und ließ sie mit Gütern laufen.” Mit zwei Fernfahrern durchreisen Trude und Marta das Land, singen, sitzen in Kneipen, hören Geschichten, greifen, wenn es not tut, zur Nadel. Einmal fällt ihnen ein Goethe-Vers ein: „. . . weiche Nebel trinken / Rings die türmende Ferne . . .”
Die Reportage verbindet zwanglos alt und neu, modernen Transport, Naturgefühl, Brauchtum und Wirtschaftsleben. Es geht aufwärts. Geschildert wird das frische Lebensgefühl der Volksgemeinschaft. Aus der Reportage wurde später ein Hörspiel, „Wikinger der Landstraße” von Marta Hillers und Kurt W. Marek.
Im Dezember 1935, zehn Tage vor Weihnachten, schilderte Marta Hillers für die Morgenausgabe den Zusammenhang von „Kinderspiel und Weltgeschichte”, erklärte, warum der kleine Wolf und seine Kameraden „Nürburgrennen” und „Geländeübung” spielen, die zahmen Spiele aus den „Jahren der Reaktion” verachten und sich zu Weihnachten eine „Reichsautobahn” wünschen. „Ueberläßt man aber die Jungen sich selber, so bricht der Hordentrieb durch. Jungen müssen in ihren Spielen längst versunkene Menschheitsepochen neu erleben. Da toben sich in zeitgeschichtlicher Verkleidung Atavismen aus . . . Wenn Jungen Weltgeschichte spielen, haben Mädchen allenfalls stumme Rollen.”
Es ist diese Vorstellung von Männlichkeit, deren Zusammenbruch auf deutscher Seite wie deren Bestätigung auf russischer in den Tagebuch-Aufzeichnungen reflektiert wird. NS-Propaganda, die in der deutschen Frau die Kriegsgefährtin des Mannes entdeckte, hatte dem zweifelsohne vorgearbeitet.
Marta Hillers hat auch für die Neue Gartenlaube und die Berliner Hausfrau geschrieben, aber keinesfalls „in einem Modejournal überwintert” (Enzensberger). Von Februar 1940 bis zum März 1941 erledigte sie, nach eigenen Angaben, Büroarbeiten im Verlag der Deutschen Arbeitsfront. Ab dem 1. April 1941 war sie im „Hilf-Mit-Werk” tätig, schrieb Artikel und Abhandlungen für Broschüren und Lehrschaubögen zur Erziehung der deutschen Jugend. Hilf mit hieß die Schülerzeitschrift des NS-Lehrerbundes. Worin die Arbeit von Marta Hillers bestand, kann man an einer Broschüre sehen, die das Oberkommando der Kriegsmarine den deutschen Schulen widmete. Es ist ein Bildbericht über den „Hilf-mit!-Wettbewerb der deutschen Jugend” im Jahr 1940/41. Er trug den Titel „Seefahrt ist not!”, diente der Werbung von Nachwuchs für die Marine, der „wehrgeistigen Erziehung”. Die Textbearbeitung dieser Broschüre lag in den Händen von Marta Hillers.
Dankbar scheint sie jeden Auftrag angenommen zu haben. 1938 pries sie in einer Broschüre die Zellwolle, einen Ersatzstoff, dessen Herstellung dem Ziel der Selbstversorgung des Dritten Reiches diente. In seinen Tagebüchern erzählt Viktor Klemperer, einen Witz über die Zellwolle: „,Ich wünsche einen Anzug, in den Motten kommen.‘ – ? – ,Na ja, in die üblichen Stoffe kommen jetzt Holzwürmer.‘” Marta Hillers lobt die Mottenresistenz der Zellwollstoffe ganz unironisch.
In die NSDAP ist Marta Hillers wahrscheinlich nie eingetreten. In einem Fragebogen gab sie an, seit Februar 1938 Mitglied der Jugendgruppe der NS-Frauenschaft gewesen zu sein. Als die Amerikaner sie 1948 befragten, bestritt sie diese, ohnehin bedeutungslose Mitgliedschaft.
Besaß sie, während sie über Zellwolle, Kriegsmarine, Reichsautobahn schrieb, als eine Art Kleinpropagandistin des Dritten Reiches tätig war, bereits jene innere Distanz zum Nationalsozialismus, die im Tagebuch den Ton bestimmt? Ich weiß es nicht. Sie wird wohl wie die meisten hier und da genörgelt, aber den Aktivismus, die Modernität, das Gemeinschaftsgefühl begrüßt haben. Im Buch „Eine Frau in Berlin” wird berichtet, dass die Unbekannte der Welt der frühen dreißiger Jahre ablehnend gegenüberstand. Dieselben Gründe, die das junge Mädchen nach Moskau führten, dürften sie zur guten Bürgerin des Dritten Reiches gemacht haben.
Nach der Erinnerung von Frau S., die Marta Hillers gut kannte, den Frühling 1945 ebenfalls in Berlin erlebte und über ein glänzendes Gedächtnis verfügt, war Marta groß und sehr schlank. Wer ist Gerd gewesen, der Freund der Frau in Berlin? Eng befreundet war Marta Hillers mit Robert A. Stemmle, einem einflussreichen Mann im NS-Filmwesen. Er führte Regie für „Charleys Tante” und verfasste das Drehbuch zu „Quax der Bruchpilot”. An Liebesbeziehungen der Hillers kann sich Frau S. nicht erinnern, sie vermutet, dass hinter Gerd sich Hans Wolfgang Hillers verbirgt.
Der Ungar auf jeden Fall, von dessen Verlagsprojekten im Tagebuch erzählt wird, sei ein Zypriote gewesen. In der Tat finden wir Marta Hillers nach Kriegsende bald wieder in einer Zeitschrift zum Wohle der Jugend beschäftigt.
Die erste Nummer der „Illustrierten Jugendzeitschrift” Ins Neue Leben erschien im Oktober 1945 und kostete 25 Pfennige. Herausgegeben wurde sie im Minerva-Verlag. Die Zeitschrift wie das Verlags-Programm dienten der Umerziehung, der Lebensbewältigung.Gorki und Jack London wurden in den Heften der Zeitschrift ebenso abgedruckt wie Höflichkeitsfloskeln des Englischen oder ein Bericht über verfemte, verfolgte Künstler. Trude Sand berichtete über Kindertheater in München.
„Ein Blick in die Werkstatt unseres Körpers”, im Heft Nr. 3, November 1945 veröffentlicht, ist mit „M.H.” gezeichnet, möglicherweise ein Kürzel der Hillers. War sie verantwortlich für das russische Alphabet, das im März 1946 den Jungen und Mädchen die Schrift der Besatzer verständlich machen sollte? Namentlich zeichnete sie etwa einen Prozessbericht: Vor dem Militärgericht Berlin-Lichterfelde waren Kinder wegen Diebstahls angeklagt worden: „Von Herzen hoffen wir, daß die Jungen, die hier vor dem Richter standen, den Weg zurück in ein ehrliches Leben finden. . . . Keiner soll mit dem Finger auf sie deuten; und kommen sie später in die Schule, in die Werkstatt zurück, so sollen sie an uns hilfreiche Kameraden finden.”
Im August 1948 wurde Marta Hillers „Chefredakteur” der Zeitschrift, die bald darauf mit den Schwierigkeiten der Blockade zu kämpfen hatte. Ihre journalistische Arbeit gab sie auf, als sie in den fünfziger Jahren einen Eidgenossen heiratete und in die Schweiz übersiedelte. Den Kontakt zu Marek und seiner Frau Hannelore, die heute die Rechte am Buch besitzt, hielt sie aufrecht. In der Schweiz ist Marta Hillers im Juni 2001 gestorben.
Wer hat eine „Frau in Berlin” geschrieben, dieses Buch, das Marta Hillers offenkundig viel verdankt? Es handelt sich um ein literarisches Sachbuch, herausgegeben von dem Autor, der das Genre des literarischen Sachbuchs in Deutschland durchgesetzt hat. Mit einem „mitreißenden Bericht nach Tagebuchaufzeichnungen” ist Kurt W. Marek in die Literaturgeschichte des Dritten Reiches eingegangen. 1938 eingezogen und bald als Kriegsberichterstatter an vielen Schauplätzen des „großdeutschen Freiheitskampfes” eingesetzt, legte er 1941 den nach Tagebuchaufzeichnungen verfassten Bericht „Wir hielten Narvik” vor. Erzählt wird von Berliner Flak-Artilleristen, die mit der Gebirgsjägerdivison des Generalleutnants Dietl das norwegische Narvik besetzten, also halfen, die Raubzüge der Volksgemeinschaft zu sichern. Im Bericht hat Marek „die Namen fast aller Personen” verändert, „ihre Charaktere zum Teil vertauscht, zum Teil erfunden”. In fast den gleichen Worten werden die Änderungen des Tagebuches der Anonyma in der Vorbemerkung beschrieben.
Mareks Erfolg als Sachbuchautor beruhte auf seiner Fähigkeit, Gehörtes und Gelesenes zu einer eingängigen Geschichte zusammenzufassen. Er hat dies auch in seinem bekanntesten Werk getan, dem „Roman der Archäologie”, den er als C. W. Ceram erstmals 1949 veröffentlichte. „Götter, Gräber und Gelehrte” wurde so häufig verkauft, dass Marek, um Steuern zu sparen, 1954 in die USA übersiedelte. Im gleichen Jahr gab er dort „A Woman in Berlin” heraus. Um seine Position auf dem amerikanischen Buchmarkt zu festigen, kam ihm ein Buch wie dieses, menschlich anrührend, propagandistisch wertvoll, gerade recht.
Auf Deutsch und weitgehend erfolglos erschienen die Tagebuch-Aufzeichnungen – ohne Angabe eines Herausgebers oder Rechteinhabers – erstmals 1959 bei Helmut Kossodo, Genf und Frankfurt am Main. Mareks Nachwort fehlt, dafür gibt es eine Vorbemerkung. Diese ist mit Änderungen in die Erfolgsausgabe des Jahres 2003 übernommen worden. 1959 hieß es, die Autorin habe ihr Tagebuch, die drei Schulhefte, im „Juli und August 1945” auf Schreibmaschine abgeschrieben. 2003 steht da nur noch „ab Juli 1945”. Die einst klare Angabe zur Textgeschichte ist vage geworden. Wie lange saß die Unbekannte an der Schreibmaschine? „Dabei wurden aus Stichworten Sätze. Angedeutetes wurde verdeutlicht, Erinnertes eingefügt”, kurz: so etwas wie der Urtext erstellt. Ob er in zwei Monaten oder während eines längeren Zeitraums entstand, ist keineswegs gleichgültig. War der Text vor oder nach der Blockade Berlins fertig?
Der Haupttext, heißt es in der Eichborn-Ausgabe, „folgt, mit einigen Korrekturen, der deutschen Erstausgabe.” 1959 steht da: „Einer weist auf die Möbel ringsum (Schietkram) und findet darin überlegene Kultur.” „Schietkram” sagt man in Berlin selten. Wer wie Marek mehrere Jahre in Hamburg gearbeitet hat, greift wohl selbstverständlicher zu diesem Wort. In der Eichborn-Ausgabe des Jahres 2003 fehlt es ganz: „Einer weist auf die Möbel ringsum (Stil 1800) und findet darin überlegene Kultur.”
Es gibt im Text einige Randbemerkungen, später Hinzugefügtes. Derlei erhöht auf suggestive Weise die Plausibilität, macht deutlich, dass wir es mit einem „Dokument” zu tun haben: „Wochen später an den Rand gekritzelt, zur Verwendung für Romanautoren”. In der deutschen Erstausgabe war die Angabe präziser: „Drei Wochen später an den Rand gekritzelt . . .” Offenkundig ändert sich die Entstehungsgeschichte dieses Dokuments im Lauf der Jahre. Wer hat die Druckfassung 1959, wer 2003 redigiert? Von wem stammt welche Formulierung? Wo sind die „drei Schulhefte” heute? Drei Schulhefte, 121 Schreibmaschinenseiten, die Druckvorlage der Erstausgabe – wie viele Fassungen gibt es noch?
Es ist möglich, dass die Druckvorlage von Marta Hillers stammt. Es ist möglich, dass sie Marek Papiere übergab, und dieser daraus ein Buch machte. Denkbar ist auch, dass Marek ein Manuskript der Hillers gründlich überarbeitet hat. Der zuständige Lektor, Rainer Wieland, will keine Auskunft darüber geben, wie der Verlag die Echtheit des Dokuments überprüft hat. Es gelte, die Anonymität der Unbekannten zu wahren.
Die Eichborn-Ausgabe präsentiert auch einen anderen Schluss als die deutsche Erstausgabe. Ein Absatz wurde gestrichen, in dem es um die Textgeschichte geht. „Eines noch will ich tun. Ich hab mir von der Witwe die Schreibmaschine ausgeliehen. Darauf schreibe ich meine Tagebuchhefte sauber ab, auf Papier, das ich in der Dachwohnung fand. Schön langsam, wie es die Kräfte zulassen. Schön deutlich und ohne Abkürzungen wie ,Schdg.‘ Gerd soll es lesen, wenn er zurückkehrt.”
Wo ist das Typoskript? Wer hat in ihm rumgestrichen? Marta Hillers vor ihrem Tod? Ein Eichborn-Mitarbeiter? Was ist dokumentarisch belegt an diesem Dokument? Die Tagebuch-Aufzeichnungen geben sich engagiert, sie appellieren an unser moralisches Urteilsvermögen, verlangen, dass wir unsere historischen Urteile überprüfen. Das können wir aber vernünftig erst tun, wenn wir die Fassungen des Textes, seine Entstehungsgeschichte kennen und wissen, wer was geschrieben hat. Dies ist ein literarischer Fall, wenigstens so brisant wie der von Jakob Littner und Wolfgang Koeppen.
Warum spekuliert Enzensberger über die Verfasserin, wenn keiner erfahren soll, wer es war? Solange das Buch in so nachlässiger Edition verkauft und als historisches Zeugnis vermarktet wird, profitieren Verlag und Herausgeber schamlos von der gutwilligen Leichtgläubigkeit der Leser. Diese haben ein Recht zu erfahren, wie es wirklich war mit diesem Buch.
JENS BISKY
Frühjahr der Befreiung, Berlin, Mai 1945: Ein Soldat der Roten Armee entwendet einer deutschen Frau das Fahrrad.
Foto: Bernhard Megele
Junge und Rotarmist mit Fahrrad.
Foto: Heinz Röhnert
Vielfach verändert, mehrfach überarbeitet, ohne Beweis der Echtheit: Das Buch der Anonyma
Von Krefeld über Moskau und Paris nach Berlin: Das Leben der Unbekannten
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Stimme aus dem Verlag

"Das Einmalige an diesem Text ist seine Eindrücklichkeit und seine Poesie. Das ist deshalb so erstaunlich und umwerfend zugleich, weil die Tagebuchaufzeichnungen dieser anonymen Frau einerseits ein schonungslos offenes Zeitdokument darstellen. Ohne jedes Pathos dokumentieren sie den Überlebenskampf, die notwendige Prostitution der Frauen in den letzten Kriegstagen in Berlin, schildern die ungeheure Gewalt, die den Frauen physisch und psychisch mit der Besatzung der Russen zuteil wird. Andererseits öffnet dieser Text mit seiner dichten, eindrücklichen literarischen Form ein sprachliches Universum, das von unendlicher Liebe zum Leben, zu den Menschen und von einem Mut und einer Kraft zeugt, die sowohl in der heutigen als auch in der zeitgenössischen Literatur seinesgleichen sucht."
(Uta Niederstrasser, Leiterin Presse- und Öffentlichkeitsarbeit, Eichborn Verlag)

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 21.06.2003

Wenn weiter gelebt werden muß, geht es auch in der Erstarrung
Mehr als nur eine Fußnote zum Untergang des Abendlandes: Das Tagebuch einer Unbekannten erzählt von den letzten Tagen des Krieges in Berlin

Es gibt eine Schlaflosigkeit, die einem das Gefühl gibt, sein Leben nur zu bewohnen, anstatt daran teilzuhaben. Eine Schlaflosigkeit, die tiefer sitzt als alle Wachträume. Wenn ein fremder Körper nebenan zu laut atmet, wenn jedes nächtliche Straßengeräusch einen auffahren läßt, wenn die Gedanken sich im Kreis wund gedreht haben. Wenn jede Sehne schmerzt vor Ruhelosigkeit, selbst das Haar weh tut und die Fußsohlen. Es ist eine Schlaflosigkeit, die gleichgültig wird, sobald der Morgen graut: Wieder eine Nacht überstanden.

Uhren, um die zermürbenden Stunden des Wachliegens zu zählen, gibt es im Mai 1945 in Berlin kaum noch. Der Frau, die nach Tagen der Schlaflosigkeit erleichtert einen kurzen, "brunnentiefen" Schlummer im Tagebuch notiert, ist es gleich; Hauptsache, sie weiß, welches Datum es ist. Sie beginnt ihre Chronik am Tag, "als Berlin zum ersten Mal der Schlacht ins Auge sah". Es ist Freitag, der 20. April 1945, Hitlers sechsundfünfzigster und letzter Geburtstag. In seinem Buch "Berlin 1945" schreibt Anthony Beevor: "Für viele der Gratulanten wirkte Hitler um mindestens zwanzig Jahre gealtert. Sie drängten den ,Führer', sich nach Bayern abzusetzen. Aber Hitler erklärte im Brustton der Überzeugung, die Russen erwarte vor Berlin ihre blutigste Niederlage."

Noch ist die Rote Armee nicht über die Stadt hereingebrochen. Illusionen macht die junge Frau sich nicht: "Jetzt gehört alles allen. Man ist nur noch lose mit den Dingen verbunden, unterscheidet nicht mehr klar zwischen eigenem und fremdem Besitz." Statt Eßbarem findet sie auf ihrem Beutezug durch eine fremde Wohnung einen Liebesbrief: "Herz, Schmerz, Liebe, Triebe. Was für ferne, fremde Wörter. Offenbar setzt ein verfeinertes, wählerisches Liebesleben regelmäßige, ausreichende Mahlzeiten voraus. Mein Zentrum ist, während ich dies schreibe, der Bauch. Alles Denken, Fühlen, Wünschen und Hoffen beginnt beim Essen." Der "Hungerwahnsinn", wie sie es nennt, hat längst begonnen. Doch es verlangt sie noch nach einer anderen Nahrung: "Schade, daß ich darüber nicht in Hamsuns Roman ,Hunger' nachlesen kann."

Die Frau, die dies in bemerkenswert lakonischem, unsentimentalem, geradezu professionellem Ton niederschreibt, ist Anfang Dreißig. Ihren Namen kennen wir nicht, erfahren wenig über die Zeit vor oder gar nach ihren Tagebuchaufzeichnungen. Als sie ihre Notate aufnimmt, hat die Ausgebombte gerade die leerstehende Dachwohnung eines Bekannten bezogen, irgendwo im Niemandsland eines Ost-Berliner Stadtteils. Wo und wie sie die Kriegsjahre zugebracht hat, teilt sie nicht mit, nur, daß es den Freund Gerd an der Front gibt, daß sie Europa bereist hat, im Gepäck Kamera und Zeichenblock, daß sie mehrere Sprachen spricht, auch Russisch: Eine Fähigkeit, die sie heraushebt, als die Sowjetsoldaten Berlin überschwemmen.

Rasch wird sie zur Dolmetscherin, notgedrungen auch zur Vermittlerin zwischen Nachbarn und Besatzern. Das Grauen ersparen die Sprachkenntnisse ihr aber nicht, im Gegenteil: Gerade weil die Frau sie versteht, weichen die Männer ihr nicht von der Seite, mancher spricht von Liebe, die meisten erzählen von ihren Familien daheim. Aus der dumpfen Masse der plündernden, vergewaltigenden Soldaten treten Männer mit Namen und Geschichten hervor. Die Bekanntschaft mit dem Feind macht seine Vergehen nicht besser, aber doch verständlicher und damit erträglicher. "Homo homini lupus", stellt sie immer wieder fest. Und zieht ihre eigene Lehre daraus: "Hier muß ein Wolf her, der mir die Wölfe vom Leib hält. Offizier, so hoch es geht, Kommandant, General, was ich kriegen kann. Wozu habe ich meinen Grips und mein bißchen Kenntnis der Feindsprache?" Von den daheim gebliebenen Männern, das erfahren die Berlinerinnen rasch, ist keine Hilfe zu erwarten. "In der Pumpenschlange erzählt eine Frau, wie in ihrem Keller ein Nachbar ihr zugerufen habe, als die Iwans an ihr zerrten: ,Nu gehen Sie doch schon mit, Sie gefährden uns ja alle!' Kleine Fußnote zum Untergang des Abendlandes."

Die Anonyma notiert, was der Tag gebracht hat, meist buchstäblich zwischen Tür und Angel. "Bloß privates Gekritzel" wimmelt sie neugierige Fragen im Luftschutzkeller ab. Sie schreibt alles auf: Bombenalarm, Nahrungsbeschaffung, Wetter, Schlangestehen, Kellergespräche, Zwangsarbeit, Selbstmorde und, immer wieder, Vergewaltigungen, kurz: "Schdg.". Als Gerd von der Front zurückkehrt und sie ihm die Aufzeichnungen zu lesen gibt, fragt er sie nach der Bedeutung der Abkürzung. "Ich mußte lachen: ,Na, doch natürlich Schändung.' Er sah mich an, als ob ich verrückt sei, sagte nichts mehr." Und geht - eine Flucht ins Schweigen, welche die Reaktion späterer Jahrzehnte vorwegnimmt.

Was die Autorin in drei Schulheften und auf losen Zetteln aufschreibt, ist zunächst ein wildes Gemisch aus Kurzschrift, Abkürzungen und Andeutungen, das sie erst einige Wochen später, im Juli 1945, beim Abschreiben auf der Maschine ausformuliert und wohl auch um nachträgliche Beobachtungen und Gedanken ergänzt hat. Auf grauem Kriegspapier seien so 121 engzeilige Manuskriptseiten entstanden, vermerkt das namentlich ebenfalls nicht gekennzeichnete Vorwort. Nach Kriegsende gab die Autorin ihr Tagebuch Bekannten zu lesen, darunter dem Schriftsteller Kurt W. Marek, der als C. W. Ceram mit seinem Archäologie-Bestseller "Götter, Gräber und Gelehrte" bekannt wurde. Marek überredet sie, einer Veröffentlichung zuzustimmen. Sie willigt ein, will ihre Identität jedoch keinesfalls aufdecken: Erst die Anonymität der Verfasserin ließ jene Offenheit zu, die dieses Buch zu einem außerordentlichen historischen und literarischen Dokument macht. Im Jahr 1954 erscheint "A Woman in Berlin" zunächst in den Vereinigten Staaten, Übersetzungen in acht weiteren Sprachen folgen. 1959 publiziert der Schweizer Verlag Kossodo eine deutsche Ausgabe. Mitten im Kalten Krieg bleibt das Buch unbeachtet. Kurz vor ihrem Tod hat die Autorin das Manuskript nochmals durchgesehen und einige Veränderungen vorgenommen. Auf dieser Version beruht die jetzt in der Anderen Bibliothek erschienene Ausgabe.

Leid muß, selbst wenn es ein Kollektiv trifft, individuell erfahren und bewältigt werden. Die Erinnerung läßt sich leichter teilen. Der Frau in Berlin dient ihr Tagebuch zur Selbstvergewisserung, sie schreibt, um zu spüren, daß sie noch Mensch ist in all der Barbarei, auch, um die "zeitlose Zeit zu fixieren". Sie moralisiert und urteilt nicht, versucht eher, sich zu betäuben: "Erstarrung. Nicht Ekel, bloß Kälte." Das Grauen muß benannt werden, um den Horror auf ein erträgliches Maß zu reduzieren. Unter den Frauen wird die Frage nach dem "Wie oft?" obligatorisch, um ins Gespräch zu kommen.

Der Trieb, der sie am Leben erhält, ist der Hunger: Für eine anständige Mahlzeit nimmt sie sogar russische Gesellschaft in Kauf. Doch auch die Müdigkeit hat sie in ihrem paralysierenden Griff. Endlich: der 8. Mai. Die Russen ziehen ab. Endlich trommelt niemand mehr den "Hausdactylus" an die Tür. Es gibt Brot. Zurück in die Zivilisation durch Großreinemachen, sogar die Teppichfransen werden mit dem Kamm geglättet. Das Schönste: "Zum ersten Mal allein zwischen meinen Laken seit dem 27. April." So schreibt sie sich den "Wirrsinn aus Kopf und Herz", beobachtet die Menschen um sich herum, alle "hohläugig, grünbleich, übernächtigt" wie sie selbst. Im Überlebenskampf ist keine Zeit für komplizierte Beschreibungen. Stichworte müssen ausreichen, um Menschen auf den Punkt zu bringen. Da ist die Witwe, der Major, die Likörfabrikantin, der Wiener. Mit dem Nachkriegsalltag lösen sich alle Notgemeinschaften auf: "Man kann einander jetzt nicht helfen." Zwischen den Trümmern ist noch lange keine Zeit für ein Seelenleben.

Es ist müßig, dieses ungeheuerliche Buch mit anderen Aufzeichnungen jener Zeit, etwa den Berliner Tagebüchern von Marie Wassiltschikow und Ruth Andreas-Friedrich oder Margret Boveris "Tagen des Überlebens", zu vergleichen: Es ist einzigartig. Vielmehr wünscht man der "Frau in Berlin" eine breite Aufmerksamkeit, wie sie Günter Grass' Novelle "Im Krebsgang" und Jörg Friedrichs Bombenkriegsstudie "Der Brand" zuteil geworden ist.

Anonyma: "Eine Frau in Berlin". Tagebuchaufzeichnungen vom 20. April bis 22. Juni 1945. Mit einem Nachwort von Kurt W. Marek. Eichborn Verlag, Frankfurt am Main 2003. 291 S., geb., 27,50 [Euro].

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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

"Rezensentin Felicitas von Lovenberg findet dieses Buch ebenso ungeheuerlich wie einzigartig und wünscht ihm ähnliche Aufmerksamkeit wie Jörg Friedrichs Bombenkriegsstudie oder Grass' Novelle "Im Krebsgang". Die anonyme Frau, die in Tagebuchaufzeichnungen die letzten Tage des Krieges aus der Sicht einer mehrfach vergewaltigten beschreibe, moralisiere und urteile nicht. Sie notiere, "meist buchstäblich zwischen Tür und Angel", was der Tag gebracht habe. Im Überlebenskampf sei keine Zeit für komplizierte Beschreibungen. Stichworte müssten ausreichen, um Menschen auf den Punkt zu bringen, beschreibt von Lovenberg das literarische Verfahren, in dem sie auch einen Versuch der Autorin erkennt, sich zu betäuben und das Grauen zu benennen, um den Horror auf ein erträgliches Maß zu bringen. Besonders beeindruckend findet die Rezensentin Anonymas Beschreibung der Rotarmisten. Aus der "dumpfen Masse der plündernden und vergewaltigenden Soldaten" sieht sie "Männer mit Namen und Geschichten" hervortreten.

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"Das unglaubliche Sprachgefühl, der Sinn für Pointen, der unprätentiöse Gebrauch von Bildung, die genaue Beobachtungsgabe, die Dichte der Beschreibung, der intellektuelle Feinsinn, das klare Urteil - man möchte nicht aufhören, dieses Buch zu loben und für seine Lektüre zu werben."
(Hanna Leitgeb in Literaturen)

"'Eine Frau in Berlin' ist ein unglaubliches Buch. Wer das Alphabet gelernt hat, darf und muss es jetzt lesen!"
(Renée Zucker in der taz)

"Ein menschlich berührendes und literarisch gewichtiges Dokument - und eine späte, überfällige Entdeckung."
(Joachim Kronsbein in Der Spiegel)