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"Man befürchtet im Augenblick nichts mehr als den totalen Bankerott, dem Europa entgegengeht, und vergißt darüber die weit gefährlichere Zahlungsunfähigkeit in geistiger Hinsicht, die vor der Tür steht." Das schreibt Kierkegaard 1836 in seinem Tagebuch, und er beginnt, gegen diesen Konkurs anzuschreiben. Er nimmt dabei kein Blatt vor den Mund. Nirgends hat der Philosoph sich radikaler geäußert als in diesen Notizen, die nie zur Veröffentlichung bestimmt waren. Es sind seine Überlegungen zur Gesellschafts- und Kulturkritik, die hier in einer durchgängig kommentierten Auswahl vorgelegt werden.…mehr

Produktbeschreibung
"Man befürchtet im Augenblick nichts mehr als den totalen Bankerott, dem Europa entgegengeht, und vergißt darüber die weit gefährlichere Zahlungsunfähigkeit in geistiger Hinsicht, die vor der Tür steht." Das schreibt Kierkegaard 1836 in seinem Tagebuch, und er beginnt, gegen diesen Konkurs anzuschreiben. Er nimmt dabei kein Blatt vor den Mund. Nirgends hat der Philosoph sich radikaler geäußert als in diesen Notizen, die nie zur Veröffentlichung bestimmt waren. Es sind seine Überlegungen zur Gesellschafts- und Kulturkritik, die hier in einer durchgängig kommentierten Auswahl vorgelegt werden. Daß er sich im Vormärz als Reaktionär zeigt, nimmt seiner Diagnose nichts von ihrer Tiefenschärfe - im Gegenteil. Hellsichtig analysiert er das anbrechende Medienzeitalter, liefert eine schneidende Kritik des Journalismus, und nimmt, ganz im Widerstreit zu den landläufigen Positionen der Konservativen, das Bildungsbürgertum und die Unredlichkeit des akademischen Milieus aufs Korn. Hagemanns Kommentar ist wissenschaftlich fundiert, doch versteht er sich eher als Begleittext, der das Tagebuch in den Kontext des Gesamtwerks stellt und dabei en passant ein Panorama von Kierkegaards Kopenhagen entwirft.
Autorenporträt
Klaus Harpprecht, geboren 1927, hat als Journalist unter anderem für RIAS, SFB und ZDF gearbeitet. Von 1966 bis 1969 war er Leiter des S. Fischer Verlags und von 1972 bis 1974 Chef der Schreibstube und Berater von Willy Brandt. Klaus Harpprecht lebt als freier Schriftsteller in Frankreich. 2009 wurde er mit dem "Lessing-Preis" ausgezeichnet.
Rezensionen

Perlentaucher-Notiz zur ZEIT-Rezension

Weder intime Bekenntnisse, noch private Einblicke finden sich in Sören Kierkegaards späten Aufzeichnungen, dafür umso mehr Verachtung; sie gilt, schreibt Otto Kallscheuer, "der wohlanständigen Bürgerlichkeit seiner Haupt- und Kleinstadt, dem Philistertum ihrer Amts- und Staatschristen, dem Mittelmaß der Moderne, von Meinungsmode und Feuilleton". Vor allem letzteres: der "Sokrates von Kopenhagen" zieht über das Geschwätz der Journaille her, über ihre populistische Anbiederung an das Publikum, dass Kallscheuer nicht anders kann als festzustellen, dass hier einer die Medienwirklichkeit von heute - Intimitätsterror und Christiansen - genau vorausgesehen hatte. Doch Kierkegaards Furor, so der Rezensent, ist mehr als das: Zeugnis einer existenziellen Zerrissenheit nämlich - radikale Innerlichkeit hier, der Zwang zum Schreiben dort -, die Kierkegaards Leben prägte und ihn so früh sterben ließ, an Erschöpfung.

© Perlentaucher Medien GmbH

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 19.04.2004

Feuer im Lager der Philister legen

Von allen Lehren des Propheten Mohammed ist es die plausibelste, welche da besagt, daß es im Paradies die angeregtesten Gespräche, aber kein Geschwätz mehr geben wird. Kierkegaard, der Christ, hätte mindestens diesem Dogma seine Zustimmung wohl nicht versagt. Er nennt die Dinge etwas schärfer beim Namen und spricht meist vom "Quatsch", der die öffentliche Meinung beherrsche, ja ihr eigentliches Wesen ausmache (Søren Kierkegaard: "Geheime Papiere". Aus dem Dänischen übersetzt, kommentiert und herausgegeben von Tim Hagemann. Mit einem Essay von Klaus Harpprecht. Eichborn Verlag, Frankfurt am Main 2004. 303 S., geb., 27,50 [Euro]). Und für den höchsten Grad der Bildung hielt Kierkegaard die geglückte Erziehung zur Schweigsamkeit.

Ob man nun Burckhardt liest, Nietzsche, Tocqueville, Edgar Allan Poe oder, in diesem Fall, Kierkegaard: immer wieder ist man von der diagnostischen Kraft des neunzehnten Jahrhunderts überrascht. Der noch kaum begonnene Siegeszug der Demokratie war es, der damals die Denkenden zu Einsichten kommen ließ, die erst hundert Jahre später ihre Wahrheit offenbarten - hier kann man wirklich einmal von einer Flaschenpost sprechen oder von Aufnahmen, für die die Entwicklerlösung erst später erfunden wurde. Was sie sahen, war etwas Neues: der Konformismus demokratischer Gesellschaften. Für Kierkegaard manifestierte sich diese neue Haltung in der Publizität, im Zeitungswesen, das er mit seiner ganzen Erbitterung verfolgte.

Ganz wird die Heftigkeit seiner Angriffe nur verständlich, wenn man sich ein wesentliches Prinzip der Presse des neunzehnten Jahrhunderts vor Augen führt: In der Regel erschienen Zeitungsartikel anonym. Anonymität der Beiträge, das bedeutet, weitergedacht, das "Abschaffen von Charakteren". Kierkegaard hat allein aus diesem Faktum ableiten können, was wir heute über die Haupttechnik der Manipulation wissen: Diese besteht darin, einen allgemeinen Konsens des guten Willens vorauszusetzen und damit anderen Ansichten von vornherein den Boden zu entziehen. Am erfolgreichsten ist man dann, wenn man die Menschen davon zu überzeugen versteht, daß die Sache an sich unter den klugen Leuten längst schon entschieden ist und der Opponent sich mit seinem Sondervotum nur selbst als "Fundamentalist" oder wie die Begriffe in der jeweiligen Kampagne dann lauten mögen, marginalisiert.

Kierkegaard konnte an den Medien der provinziellen Hauptstadt Kopenhagen ablesen, was sich im zwanzigsten Jahrhundert an subtilen Propagandamethoden entwickeln würde - und zwar ohne ökonomische Überlegungen zur Pressekonzentration anzustellen, ohne eine Massenpresse à la Hearst zu kennen und ohne den Beitrag, den diese zur Hysterisierung ganzer Bevölkerungen leisten würde, schon wirklich zu ahnen. "Daher kommt es dann auch", schreibt er einmal, "daß ein einziger Mensch genug ist; es wird nur einer gebraucht - der es geradeheraus sagt. Das ist die Nemesis, die über einer solchen Unredlichkeit ruht, daß einer genug ist - ist es bloß gesagt, gehört, dann ist alles verändert, dann ist Feuer im Lager der Philister gelegt. Aber deshalb kann es natürlich gefährlich genug sein, derjenige sein zu wollen, der es sagt, ja vielleicht ist gerade deshalb die Gefahr die allergrößte." Das mag übermäßig optimistisch klingen. Was Kierkegaard kommen sah, war die Einführung von Meinungsdelikten, die es riskant machen, dem Konsens nicht mehr anzugehören: "Das Verhältnis ist, daß dort, wo es Erkenntnis ist, die fehlt, das Wahre ja nicht zu einer Anklage wider den Charakter wird; aber wo die Erkenntnis gegeben ist, dort wird das Wahre kriminell."

Den Kampf mit der öffentlichen Meinung aufzunehmen sei schwieriger, als mit einem Tyrannen zu fechten, notiert er. Unbefangen spricht der Philosoph Worte aus, die die Gewitzheit um keinen Preis mehr hören will: "Aber überall, wo es nicht Erkenntnis ist, die fehlt, sondern wo es Verschwörung gibt (an der die verschiedensten auf verschiedenartigste Weise interessiert sein können), da gilt es, daß einer genug ist, einer, der es sagt. Aber das ist auch die gefährlichste Art von Geschäften."

Die Figur, die Kierkegaard gegen die Anonymität konstruiert, ist der einzelne. Dieser einzelne - das ist der Christ. Denn die heidnische Antike kennt nur Religionen der Stadt oder des Reichs, sie fleht zu den politischen Schutzgöttern. Erst das Christentum konstituiert den einzelnen, der sein Gegenüber nicht mehr im begrenzten Olymp der Polis oder im abstrakten Gott der Philosophen findet. So war es nicht die Ökonomie der Pressewirtschaft oder die immer zufällige Opposition zu dieser oder jener Tendenz, die Kierkegaard hellsichtig machte, sondern eine radikalisierte Christlichkeit. Noch bevor das Wort "Intellektueller" aufkam, hat Kierkegaard sich von dieser sozialen Figur distanziert, häufig bekennt er, wie mißtrauisch er die "Dozenten" betrachtet, wie sehr ihm die Gesellschaft des "einfachen Mannes" aufhilft. Ja er spricht, in einer ganzen Notizengruppe, entschieden zum Lob der "Primitivität".

Die Aufzeichnungen stammen aus verschiedenen Jahrzehnten, manche stehen unter dem Titel "NB", andere tragen das Kürzel "JJ": "Journalisten-Jeremiade". Tim Hagemann hat sie geradezu vorbildlich kommentiert, informativ und knapp zugleich, vielfach werden sie erst durch die zeitgeschichtlichen Erläuterungen verständlich. Ein schöner Band, mit vielen Nutzanwendungen.

LORENZ JÄGER

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