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Alle Autobiographien lügen. Das sind wir, seit Rousseaus Bekenntnissen, gewöhnt. Nicht immer liegt es an der Eitelkeit der Autoren oder daran, daß sie uns ein X für ein U vormachen wollen. Noch schwerer zu vermeiden ist der Umstand, daß man es hinterher immer anders und womöglich besser zu wissen glaubt. Dieser perspektivischen Falle zu entgehen, dazu braucht es mehr Kunst, ein besseres Gedächtnis und mehr Unbefangenheit, als den meisten von uns beschieden ist.
Behrs Geschichte verzichtet auf die Retrospektive. Er erzählt sie von vorn, so, wie sie sich dem Fünf-, dem Zehn-, dem
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Produktbeschreibung
Alle Autobiographien lügen. Das sind wir, seit Rousseaus Bekenntnissen, gewöhnt. Nicht immer liegt es an der Eitelkeit der Autoren oder daran, daß sie uns ein X für ein U vormachen wollen. Noch schwerer zu vermeiden ist der Umstand, daß man es hinterher immer anders und womöglich besser zu wissen glaubt. Dieser perspektivischen Falle zu entgehen, dazu braucht es mehr Kunst, ein besseres Gedächtnis und mehr Unbefangenheit, als den meisten von uns beschieden ist.

Behrs Geschichte verzichtet auf die Retrospektive. Er erzählt sie von vorn, so, wie sie sich dem Fünf-, dem Zehn-, dem Vierzehnjährigen dargestellt hat. Das ist eine außergewöhnliche tour de force. Wir sehen alles mit den Augen einer Person, die "das Kind" oder "der Junge" heißt: die Familiendramen, die Nazi-Zeit, den Krieg, die Besatzung, die Abnormitäten der Normalisierung...
Und dabei verfällt Behr niemals in jenen "kindlichen" Tonfall, der bekanntlich die Intelligenz eines jeden Sechsjährigen beleidigt. Es ist schwer, diesem Jungen etwas vorzumachen.
Gerade seine Ahnungslosigkeit macht ihn immun gegen die Lebenslügen seiner großbürgerlichen Familie. Nichts imponiert ihm, weder sein reichsdeutscher Vater, ein Generalmajor im Berliner Luftfahrtministerium, noch "Onkel Hermann", "Onkel Albert" oder "Onkel Josef", deren Zunamen zu erraten dem Leser überlassen bleibt. Mehr als für den Bombenkrieg und die Russenangst interessiert sich "das Kind" für den Dieb von Bagdad im Dorfkino, für Doktorspiele und Freßpakete, und selbst das Klosterinternat scheitert daran, es endgültig ab- und zugrunde zu richten.

Autorenporträt
Hans-Georg Behr studierte nach dem Besuch des Stiftsgymnasiums Melk Medizin, Psychologie und Geschichte. Zunächst arbeitete er an verschiedenen therapeutischen Projekten mit. Als Journalist schrieb er besonders für Zeitschriften wie Der Spiegel, Die Zeit, Stern, GEO, TransAtlantik oder Kursbuch. Seit 1955 führten ihn viele Reisen in den nahen und fernen Osten; längere Zeit lebte er in Kathmandu. Neben Reportagen über die von ihm besuchten Länder arbeitete er viel über Drogenhandel und Organisierte Kriminalität. Als bekennender Konsument trat Behr für die Entkriminalisierung von bzw. einen gelasseneren Umgang mit Cannabis ein. Er lebte zuletzt in Hamburg.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 08.10.2002

Zu Besuch bei Onkel Adolf
Hans-Georg Behrs wüste Kindheit / Von Hans-Jürgen Schings

Hans-Georg Behrs Autobiographie seiner Kindheit kommt nur auf den ersten Anblick einfach daher. Sie steckt voller literarischer Kunstgriffe. Natürlich hat die Simplex-Perspektive ein großes Vorbild. Die Ereignisse einer pathetischen Zeit gewinnen in der unpathetischen Begriffsstutzigkeit des Kindes erst ihren wahren Schrecken. Das Kind schlägt die Augen auf und sieht, ohne zu verstehen. Ein Bombenangriff in Berlin: Es kracht, "und dann war alles finster und irgend etwas schlug das Kind. Danach, wann danach, wußte es nicht, sah alles ganz anders aus, auch das Mädchen, das aus Mund und Ohren blutete. Das Kind war zornig und schlug das Mädchen, weil es die Kette nicht bezahlen wollte, aber das Mädchen wehrte sich nicht, und sein Kopf flog hin und her." Ein Angriff von Lightnings, Tieffliegern: "Er hatte in der Schule gelernt, daß man sich dann schnell hinlegen sollte. Schnell legte man sich also in den Wassergraben, das Zischen war ein fürchterlicher Lärm, und man hörte Pfeifen, Krachen und Platschen, ganz, ganz nahe, aber man konnte sich nicht die Ohren zuhalten und spuckte das Wasser aus, das in den Mund gekommen war." Die Seiten, auf denen das Kind erzählt, wie statt des erwarteten Fluchtwagens die ersten Russenpanzer das Gut der Mutter erreichen, werden zum beklemmenden (und meisterhaften) Höhepunkt solch simplizianischer, ornamentloser Fassungslosigkeit. "Der Junge wußte nicht, was er denken sollte" - keine wortreiche Panik auch, nicht einmal ein Zeichen der Empfindung, als man den toten Bruder findet, der den Panzern in HJ-Uniform und mit einem Luftdruckgewehr entgegengelaufen war und überrollt wurde. Auf dem Lastwagen dann: "Mutter und der Junge saßen auf Kisten links und rechts von Stefan, der aus dem Sack tropfte." Die Folgen zeigen sich erst später und wie nebenbei: Der Junge ist zum Stotterer geworden.

Andere Vorteile hat der simplizianische Blick, wenn er unmittelbar die Großen der Zeit ins Visier nimmt. Die familiäre Höhenlage des Kindes gibt dazu immer wieder Gelegenheit. So ist Berlin voller denkwürdiger Onkels. "Da war der noch ziemlich junge Onkel Albert mit dem imponierenden Ledermantel, der etwas kleinere Onkel Josef, an dem die ungleichen Schuhe so faszinierten, Onkel Baldi mit seiner imponierenden Marineuniform und Onkel Ernst aus Linz mit den vielen Narben im Gesicht, die angeblich aus seiner Studentenzeit stammten, aber in Wahrheit von einem Autounfall." Zum Tee bei Tante Magda werden Mutter und Kind von Onkel Josefs Chauffeur abgeholt; die Goebbels-Töchter spielen mit ihm das Onkel-Doktor-Spiel. Selbst ein Empfang beim "Führer" kommt vor; haften bleibt eine Uniform und der Wind. "Der Führer hatte die hellste an, aber er sah anders aus. Das Beeindruckendste aber war eine Art Wind, der plötzlich durch die Halle wehte, eigentlich ein Lüftchen, aber es roch" - und hier hilft der Erzähler nach - "nach Parfum, Fisch, Leder, Schweiß, Urin und sehr weiblichen Gerüchen, auch aus dem Nachmittagskleid der Mutter pustete eine Wolke Chanel." Als Hitler haltmacht, bringt sich das Kind hinter der Mutter in Sicherheit, da es das Kinnkraulen und Backenkneifen kennt und fürchtet - "wenn schon die anderen Onkels ... wie dann erst ER ..."

Auch der schlichte Stil dieses Simplex, seine einfachen Parataxen, farblosen Verben und unbekümmerten Wortwiederholungen entpuppen sich als Kunstmittel von beträchtlichem Reiz. Sentimentalität und Pathos finden da keinen Halt. "Am Dienstag nachmittag kam die Wehrmacht. Sie war ein paar Leute, ein Kübelwagen und ein Laster." Wie von selbst gerät solche Simplizität an ihre Pointen, die gern die Figur des Zeugmas nutzen, ein altes Mittel der Humoristen: Da ist das Fräulein, das "einen Riesenbusen und angeblich schon alle Russen hatte", da gibt es die Roßhaarmatratzen, "die noch von den Urgroßeltern und aus Lipizzanern waren", oder die Juden, die "viel Geld und den Herrn Jesus umgebracht hatten". Man muß sich von diesem Jungen und in seiner listigen Sprache erklären lassen, "daß der Führer gefallen sei und sich davor umgebracht habe", was Austrofaschisten sind, warum Österreich schwer zu verstehen ist, alle Österreicher im Widerstand waren und der Junge der "einzige Nazi, den man sich in Österreich denken könne". Bis er schließlich, im Aufsatz der "Unterrichtssprache", schreibt: "Ich bin als Deutscher in Österreich geboren und habe den Hitler geholt." Sprechen ist schwer, weiß der Junge, der nichts mehr fürchtet als sein Stottern. Wer schwer spricht, sorgt dafür, daß jeder Satz sitzt. Die dichte und umstandslos treffende Sprache Behrs hat womöglich darin ihren Grund.

Diese Autobiographie scheut nichts mehr als das Pronomen Ich. Unbekümmert um alle Härten weicht sie statt dessen auf das spröde Man aus. "Diesmal hatte man erst am Sonntag in das Internat müssen, weil man ja kein Neuling mehr war." Und so geht es durchweg, wenn nicht "das Kind" oder "der Junge" als grammatisches Subjekt einspringt. Die Sprödigkeit, die in der autobiographischen Prosa ihresgleichen sucht, hat freilich Methode. Denn das hatte "man" von seiner hochmögenden Familie gelernt: "Man ist nicht ich"; die engsten Familienangehörigen waren "man" und alle anderen "die", die dann auch "ich" sagen dürfen. Das "ich" ist ein Fauxpas. Was mit Adel und in herber Dezenz begonnen hat, die Austreibung des Ich, setzen die Verhältnisse der Kriegs- und Nachkriegszeit und dann die Erziehung im Internat auf ihre Art fort. "Man hatte Krieg" - mit dem hartnäckigen "man" hat Behr der Gattung Autobiographie ein neues Licht aufgesteckt. Die erste Tat eines Ich steht am Ende des Buchs: Am vierzehnten Geburtstag zündet der Junge seine Matratzen an und flieht aus dem Kloster.

Das Kind gehört einer sehr prominenten Familie an. Der Vater, reichsdeutscher Industrieller, dann hohes Tier im Reichsluftfahrtministerium und zuletzt, nach einem Zerwürfnis mit "Onkel Hermann", Flakkommandant von Wien, wird im Verlauf der Nürnberger Prozesse gehängt. Die Mutter, in den zwanziger Jahren eine berühmte Sängerin, die, wie ihr der Komponist des "Rosenkavaliers" selbst sagt, seine beste Sophie gewesen sei, entstammt der Magnaten-Familie Esterházy-von Galántha, deren Glanz die Großeltern immer noch repräsentieren. Behr hütet sich zwar geradezu angestrengt davor, Namen zu nennen, und bekräftigt in einer Schlußnotiz das "Übliche": "Sämtliche Orte, Personen und Handlungen sind natürlich frei erfunden." Verschmitzt läßt er aber auch verlauten: "Zufällige Ähnlichkeiten sind gemeint." Man sollte sich darüber, also über das übliche Vexierspiel von Dichtung und Wahrheit, nicht den Kopf zerbrechen: Der Autobiograph partizipiert an der Geschichte der weitverzweigten Familie Esterházy. Er selbst legt die Spuren. Auf der Schule hänselt man das Kind mit dem Namen "Hasi" - "in Anspielung auf einen Namen der Großeltern". Ist die Großmutter die liebenswürdigste, so der Großvater die überragende Gestalt des Buches, die allein schon die Lektüre lohnt. Als er, der Marx und Engels noch persönlich gekannt und Brahms zu sich gebeten hat, eigentlich ein Ungar, dem bis 1918 die Anrede "Durchlaucht" zustand, eherner Feind der Nazis und damit des eigenen Schwiegersohns, ein Quartett der Wiener Philharmoniker in sein "Haus" (sprich Schloß) mit dem "Barocktrakt" einlädt, spielen sie drei Quartette von Haydn - "weil sie wußten, daß Großvater Haydn mochte, als hätte er zu ihm eine familiäre Beziehung gehabt". Haydn, man erinnert sich, war der Komponist der Esterházys in Eisenstadt. Ein dezentes Versteckspiel: Wie Péter Esterházys Familienchronik "Harmonia Caelestis" schreibt auch Behr die Erinnerung an die Esterházys fort.

Fallhöhe heißt die literarische Konstellation, die sich solchermaßen ergibt. Die Ahnenbilder im Schloß der Großeltern werden von den Russen durch Kopfschüsse liquidiert. Dreimal, so die Großmutter, habe sie den Weltuntergang erlebt, zweimal den der Ihren, jetzt den "totalen". Nichts unheimlicher als die apathische Hast, mit der die Nazi-Eltern die Flucht aus ihren Häusern vorbereiten. Die Mutter, Frau Generaldirektorin und Besitzerin eines Schlosses, in dem schon der Papst auf dem Weg zu Joseph II. Station gemacht hatte, mit Canaletto und Augarten-Porzellan ("älter als alt"), wird nach der Hinrichtung des Vaters zur Gastwirtin und die Sophie zur Leitmetzerin (immerhin tritt sie noch ein paarmal bei den Salzburger Festspielen auf). Ihr älterer Sohn stirbt als Hitlerjunge, die Tochter nimmt Zyankali.

Und der Junge, der Simplex? "Fast eine Kindheit"? Diese Kindheit durchmißt die Fallhöhe der Familie. Erst zertrümmert, wird sie jetzt stigmatisiert. "Nazibankert" und "Nazibua", "Kriegsverbrecher" und "Scheiß-Preiß", "feiner Binkel" und "Stottertrottel" muß er sich fortab nennen lassen. Der zweite, naturgemäß schwächere, weil privatere Teil von Behrs Autobiographie schildert die nicht enden wollende Misere des Klosterinternats, in das man den Jungen steckt. Aus dem simplizianischen Kriegsbuch wird eine Anklageschrift gegen das schwarz und rot umgefärbte Nachkriegs-Österreich. Denn das "Schlimmste in seinem Leben", wie er selbst sagt, steht dem Jungen noch bevor: die Brutalität und Heuchelei eines pädophilen Paters. Jetzt erst weint der Junge. Und jetzt macht er reinen Tisch. Was bleibt, ist endlose Langeweile, unterbrochen nur von den Ferien bei den Großeltern und einer pikaresken Reise nach Schweden. Fallhöhe, Kahlschlag, Tabula rasa und Ennui. Alles war falsch, heißt das Resümee; "jung sein sei scheußlich", erklärt die Großmutter auf dem Sterbebett. Nur leise melden sich Zeichen der Zukunft: ein "Schlurf" mit langen Haaren, erste Kierkegaard-Lektüre, der widerspenstige Herr Qualtinger in Wien, die ersten Existentialisten (nach deren Vorbild sich der Junge einen langen schwarzen Pullover stricken läßt), der Wunsch, Künstler zu werden. "Ich bin frei! FREI!" heißt dann, gut existentialistisch, das letzte Wort des Jungen.

Hans-Georg Behr, Jahrgang 1937, bekannt als Drogenspezialist, Asien-Kenner und Schriftsteller mit exotischen Sujets, hat eine fesselnde Autobiographie vorgelegt, ein kunstvoll schreckliches Buch, klaglos und doch eine späte Rache für die verlorene Kindheit, ohne Pathos, erhobenen Zeigefinger und Beschönigung, ein schnörkellos genaues Buch über die schlimmsten Jahre des zwanzigsten Jahrhunderts.

Hans-Georg Behr: "Fast eine Kindheit". Eichborn Verlag, Frankfurt am Main 2002. 360 S., geb., 27,50 [Euro].

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