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Mao und seine verlorenen Kinder - Dikötter, Frank
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Chinas Kulturrevolution lässt Historiker und Sinologe Frank Dikötter in seiner brillianten Darstellung in einem neuen Licht erscheinen. War Mao Zedong für die einen ein Monster, erschien er anderen als der verehrte Führer. Doch was stellte dieser Mao mit hoffnungsvollen Menschen an, als er 1967 die Kulturrevolution ausrufen ließ? Was ging in Studenten und Bauern vor, als sie auf dem Acker aufeinandertrafen? Und was blieb dem 'Großen Vorsitzenden', als ihm auf dem Sterbebett die Macht über sein Leben entglitt, wie ihm die Macht über sein Volk - von endlosen Anklagen, falschen Geständnissen und…mehr

Produktbeschreibung
Chinas Kulturrevolution lässt Historiker und Sinologe Frank Dikötter in seiner brillianten Darstellung in einem neuen Licht erscheinen. War Mao Zedong für die einen ein Monster, erschien er anderen als der verehrte Führer. Doch was stellte dieser Mao mit hoffnungsvollen Menschen an, als er 1967 die Kulturrevolution ausrufen ließ? Was ging in Studenten und Bauern vor, als sie auf dem Acker aufeinandertrafen? Und was blieb dem 'Großen Vorsitzenden', als ihm auf dem Sterbebett die Macht über sein Leben entglitt, wie ihm die Macht über sein Volk - von endlosen Anklagen, falschen Geständnissen und wiederkehrenden Säuberungen zermürbt - lange vorher entglitten war? Dikötter geht insbesondere den Auswirkungen auf die Menschen nach: von den politischen Führungskräften bis zu den verarmten Dorfbewohnern. Als einer der ersten westlichen Wissenschaftler durfte er vormals verschlossene Parteiarchive besuchen. Hunderte von Dokumenten erzählen eine aufrüttelnd neue Geschichte über Mao und dieKinder seiner Revolution.
Autorenporträt
Dikötter, FrankFrank Dikötter, geb. 1961, niederländischer Historiker und Sinologe. Zählt zu den neuen Koryphäen der modernen Geschichte Asiens und vor allem Chinas. Dikötter hat inzwischen neun Bücher über China geschrieben. Der im Jahr 2014 erschienene Band »Maos Hunger« erhielt vorher den »BBC Samuel Johnson Prize for Nonfiction«.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 18.03.2017

Der Aufstand nach dem Aufstand

Porno und Schwarzmarkt: Hans Dikötter erzählt von verblüffend kapitalistischen Umtrieben in der letzten Phase der chinesischen Kulturrevolution.

Von Mark Siemons

Die "Trilogie des Volkes", die der holländische, an der University of Hongkong lehrende Sinologe Hans Dikötter über die Geschichte des chinesischen Kommunismus vorlegt, hat einen einleuchtenden Grundgedanken: Sie konfrontiert die hochfahrenden Volks-Abstraktionen, auf die sich der Maoismus in seinen wechselnden Windungen berief, mit den meist leidvollen Erfahrungen, die gewöhnliche Menschen damit gemacht haben. Möglich wurde dieses Verfahren durch die teilweise Öffnung der Parteiarchive seit 2004; dadurch bekamen der Forscher und seine Assistenten einen Zugang zu den Reaktionen an der Basis, wie sie von den Behörden in den einzelnen Provinzen aufgezeichnet wurden.

Auf diese Weise schrieb Dikötter Bücher über die ersten Jahre der Volksrepublik ("The Tragedy of Liberation", 2013), über die Hungerkatastrophe nach dem "Großen Sprung nach vorn" ("Maos großer Hunger", im Original 2010) und nun, als Abschluss der Reihe, über die Kulturrevolution (der etwas rätselhafte deutsche Titel "Mao und seine verlorenen Kinder" verpasst die Pointe des ursprünglichen Untertitels "A People's History").

Die Kulturrevolution verliert bei einer solchen Herangehensweise einiges von ihrer Außergewöhnlichkeit; sie ordnet sich eher in die Kontinuität der Schrecken ein, die Mao auch sonst über sein Land brachte. Die Zahl der Todesopfer ist hier viel geringer als bei der sehend in Kauf genommenen Hungerkatastrophe in den Jahren zuvor; aber das Ausmaß der psychischen und sozialen Zerrüttung bis in die Familienbeziehungen hinein übertraf jenes der vorangegangenen Kampagnen. Dikötter erzählt das Geschehen chronologisch, in einer Parallelmontage sprechender Anekdoten sowohl aus den Führungszirkeln wie von den Schicksalen einzelner Menschen und Dörfer. Das Volk erscheint als Objekt diverser Experimente, die sich die da oben ausdenken, und zugleich als Subjekt, das versucht, sich an diesen Kampagnen vorbei durchzuschlagen.

Als Dreh- und Angelpunkt sieht Dikötter Maos Ehrgeiz, die historische Hauptgestalt des Weltkommunismus zu werden; es seien bei ihm da "die Vision einer sozialistischen Welt ohne Revisionismus sowie das schmutzige, rachsüchtige Komplott gegen echte und imaginäre Feinde" zusammengekommen und hätten dann eine Eigendynamik voller unbeabsichtigter Nebenfolgen entfaltet. Das ist sicher nicht falsch, aber es greift etwas kurz. Der Autor macht kaum den Versuch, einen Schritt von den gesammelten Fakten und Zeitzeugnissen zurückzutreten und dem Singulären des Vorgangs begrifflich auf die Spur zu kommen. Wie ungeheuerlich ein von der Staatsspitze angestachelter "populistischer" Aufstand gegen das "Establishment" sein kann, leuchtet einem zurzeit vielleicht besonders ein.

Doch was 1966 in China geschah, ging noch viel weiter. Es war inmitten einer totalitär kontrollierten Gesellschaft die von oben entfesselte Revolte der Ideologie gegen deren eigene Machtbasis: Indem Mao zum Sturm auf das Hauptquartier aufrief, machte er, ganz und gar nicht im Sinne Lenins, Front gegen die Kommunistische Partei selbst und erklärte, auch nicht gerade in Übereinstimmung mit den materialistischen Grundannahmen des Marxismus, die "permanente Revolution" auch des eigenen Inneren zur Voraussetzung bei der Verwirklichung des "Neuen Menschen".

Dikötter zeigt wenig Neigung, sich auf die zahlreichen Paradoxien, die das mit sich bringt, einzulassen und zu versuchen, ihr bis heute fortdauerndes Irritationspotential gedanklich zu fassen. Wer an solchen Fragen auf der Höhe des Forschungsstands interessiert ist, sollte zu dem Band "Die chinesische Kulturrevolution" des Freiburger Sinologen Daniel Leese greifen. Doch auch Dikötters Buch lohnt die Lektüre, vor allem wegen der verblüffenden Einsichten seines letzten Teils.

Für die 1971 einsetzende letzte Phase der Kulturrevolution konstatiert es eine erstaunlich weitgehende Selbstorganisation vieler gesellschaftlicher Subsysteme: "Es war eine uneinheitliche, lückenhafte Revolution von unten und eine, die größtenteils still verlief. Doch schließlich erfasste sie das ganze Land." In ihrer ersten Phase hatte die Kulturrevolution mit ihren auf die führenden Kader losgelassenen Rotgardisten und den blutigen Kämpfen zwischen rivalisierenden Banden die operative Kontrollfunktion der Partei unterminiert; in ihrer zweiten Phase hatte sie durch eine straffe Militärdiktatur die Jugendlichen wieder aus den Städten entfernt und für Disziplin gesorgt. Nun aber setzte, schreibt Dikötter, nach dem mysteriösen Tod des designierten Parteiführers Lin Biao eine ideologische Müdigkeit ein.

Dikötter zitiert einen Dorffunktionär, die Kader hätten ",nach dem andauernden Hin und Her der Regierungspolitik und den wiederholten öffentlichen Demütigungen, denen sie vor der Öffentlichkeit bei Kampfversammlungen ausgesetzt waren', das Interesse an der Politik verloren. Sie investierten ihre Energie lieber in die Produktion." Das ist eine sozialistische Sprachregelung für einen ziemlich kapitalistischen Vorgang: Die Funktionäre machten Geld damit, dass sie Kollektiveigentum wie Fischteiche, Schweineställe oder Wälder in private Hände gaben. Ein Inspektionsteam fand 1974 ausgerechnet in Yanan, dem legendären Zentralsitz der Volksbefreiungsarmee am Ende des Langen Marschs, einen blühenden Schwarzmarkt vor. Viele Bauern verdienten in Untergrundfabriken Geld.

Das Wohnregistrierungssystem wurde weitgehend ignoriert; allein in Harbin schätzten die Behörden für das Jahr 1973, dass 1,3 Millionen Menschen Zugreisen ohne Ticket antraten. Eine "zweite Gesellschaft" der Schwarzmärkte, der esoterischen Kulte, der pornographischen Lektüren entstand. Verbotene ausländische Bücher wurden von Hand abgeschrieben und vervielfältigt. Camus, Beckett und Kerouac wurden auf diese Weise populär, auch dissidentische Autoren wie Trotzki, Solschenizyn und Milovan Djilas. Der Autor gesteht zu, dass sich der Umfang solcher Umtriebe schwer abschätzen lässt. Aber er sieht darin eine Vorstufe der späteren marktwirtschaftlichen Reformen in China, geht dabei so weit, zu behaupten, dass die Kommunistische Partei gar keine andere Wahl mehr als diese kapitalistische Wende gehabt hätte: "Deng Xiaoping besaß weder den Willen noch die Befähigung, diese Entwicklung zu bekämpfen." Das unterschätzt die Umwälzung, die die Relativierung der Planwirtschaftsdoktrin für eine kommunistische Partei darstellen musste.

Aber für das Verständnis dessen, was die Kulturrevolution als Ganze bedeutet, leistet die Schilderung dieses Umschlags, der so sehr mit dem sonst mit ihr verbundenen Bild ideologischer Reinheit kontrastiert, etwas Wichtiges. Womöglich ist das Eiferertum als ihr unterscheidendes Merkmal weniger von Belang als die Trennung von Kommunistischer Partei und kommunistischer Ideologie, die sie ins Werk setzte. Dass beides zwingend zusammengehört, konnte seit dem Aufstand gegen die Partei im Namen der Ideologie niemand mehr für plausibel halten. Deshalb erregte es so wenig Anstoß, dass die Partei die Ideologie in entscheidenden Punkten veränderte, sobald sie ihre organisatorische und disziplinarische Stärke wieder zurückgewann und sogar noch vermehrte.

So betrachtet, stellt die Logik der Kulturrevolution das Bindeglied zwischen Kommunismus und Kapitalismus unter dem Dach der Partei dar. Hans Dikötter buchstabiert solche Erwägungen selbst nicht aus. Aber sein Buch bietet Material genug, um über eines der ungeheuerlichsten Ereignisse des vergangenen Jahrhunderts neu nachzudenken.

Frank Dikötter: "Mao und seine verlorenen Kinder". Chinas Kulturrevolution.

Aus dem Englischen von Marlies Glaser

und Jörn Pinnow.

Theiss Verlag, Darmstadt 2017. 448 S., geb., 39,95 [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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»...bietet Material genug, um über eines der ungeheuerlichsten Ereignisse des vergangenen Jahrhunderts neu nachzudenken« Frankfurter Allgemeine Zeitung

»Großartig! Ein brillantes Buch« Sunday Times