Marktplatzangebote
4 Angebote ab € 4,90 €
  • Gebundenes Buch

Der mexikanische Autor schreibt über Russland und vergleicht dabei das Land, das er vorfindet, mit dem Land vor der Perestroika und auch mit seinem Russlandbild, das aus der Lektüre russischer Klassiker stammt. Mit dieser "Reise" wird Sergio Pitol, bislang in Deutschland nur als Romanautor bekanntgeworden, erstmals auch als bedeutender Essayist vorgestellt. In den Jahren, in denen Sergio Pitol als Diplomat in Prag und Warschau tätig war, reiste er mehrfach in russische Städte. Ein Besuch, im Mai 1986, ist ihm wegen der herrschenden Aufbruchsstimmung in besonderer Erinnerung. Er trifft in…mehr

Produktbeschreibung
Der mexikanische Autor schreibt über Russland und vergleicht dabei das Land, das er vorfindet, mit dem Land vor der Perestroika und auch mit seinem Russlandbild, das aus der Lektüre russischer Klassiker stammt. Mit dieser "Reise" wird Sergio Pitol, bislang in Deutschland nur als Romanautor bekanntgeworden, erstmals auch als bedeutender Essayist vorgestellt.
In den Jahren, in denen Sergio Pitol als Diplomat in Prag und Warschau tätig war, reiste er mehrfach in russische Städte.
Ein Besuch, im Mai 1986, ist ihm wegen der herrschenden Aufbruchsstimmung in besonderer Erinnerung. Er trifft in Moskau und St. Petersburg die alte und die neue Garde, von der Perestroika begeisterte Jugendliche, die plötzlich so viele Kino- und Telefonkarten bekommen, wie sie wollen. Er besucht byzantinische Kirchen in Georgien, schreibt über Kunst und Architektur. Im Gepäck hat er die wichtigsten Bücher russischer Autoren: Dostojewski, Tolstoi, Puschkin, Zwetajewa, Pasternak, Bulgakow, Nabokov, Gogol, Tschechow.
Mit dem geschärften Blick des fremden Reisenden vergleicht Pitol das Bild des alten Russland, das dem Leser bei der Lektüre vor dem geistigen Auge entsteht, mit dem heutigen Russland.
Autorenporträt
Sergio Pitol, 1933 in Puebla, Mexiko, geboren, studierte in Mexiko-Stadt Jura und Literaturwissenschaft und war als Literaturprofessor und Diplomat in zahlreichen Ländern tätig. Er hat Romane, Erzählungen und Essays geschrieben und gilt als einer der angesehensten Autoren Lateinamerikas. Seine Übersetzungen aus dem Russischen, Polnischen und Englischen haben das Werk von Nikolai Gogol, Anton Tschechow, Witold Gombrowicz, Henry James, Joseph Conrad und Jane Austen in Mexiko bekannt gemacht. Für seine Bücher erhielt er viele Preise, darunter den Premio Herralde de Novela, den begehrten Premio Juan Rulfo und 2005 den Premio Miguel de Cervantes. Pitol lebt heute in Xalapa, Veracruz.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 15.06.2004

Kreuzfideler Totenmarsch
Sergio Pitols Zeitreise in die letzten Tage der Sowjetunion

Man nehme den Plot einer typischen Filmkomödie der Wirrungen, angesiedelt in den Mühlen des kommunistischen Apparats, die unergründlicher sind als selbst die Wege des Herrn. Ein mexikanischer Botschafter im Prag der achtziger Jahre beschließt, die Einladung des georgischen Schriftstellerverbandes zur titelgebenden Reise nach Tblissi anzunehmen. Bereits nach dem Aussteigen auf der Zwischenstation Moskau wird ihm freilich klar, daß widrige Winde oder Apparatschiks alles in ganz andere Bahnen als die gewünschten lenken. Statt nach Georgien wird er unter den absurdesten Begründungen nach Leningrad geschickt und soll dann nach Kiew weiterreisen, stolpert von einem grotesken Gesellschaftsereignis ins nächste.

Ohne genau zu wissen, warum, verhält sich der reichlich undiplomatische Diplomat wie ein Elefant im Porzellanladen und stößt, wohin er auch geht, an sämtliche zerbrechliche Warnmelder der geheimdienstlichen Paranoiamaschinerie. Begleitet von Verdauungsbeschwerden und einem offensichtlich überhöhten Alkoholkonsum, rutscht er in haarsträubende Albträume, in denen Verstorbene als Untote wiederauferstehen und sich Arbeitszimmer plötzlich in Hühnerställe verwandeln. Als der inzwischen völlig entnervte Botschafter nach allerlei Peripetien am Reiseziel eintrifft, ist eigentlich auch die Komödie an ihrem Ende angekommen.

Ob ein solcher Stoff tatsächlich eine filmische Umsetzung verdient hat, sei dahingestellt. Zum Glücksfall können dergleichen rocamboleske Verstrickungen jedoch werden, wenn Seine Exzellenz keine fiktive Figur ist, sondern zugleich einer der angesehensten Schriftsteller Lateinamerikas, und die Wirrungen nicht das Produkt seiner Phantasie, sondern seine authentischen Erinnerungen, die er eineinhalb Jahrzehnte später zu einem literarischen Reisebericht kompiliert. Neben den Absurditäten und pittoresken Impressionen aus den Funktionärs- und Künstlerkreisen gleich dreier Städte im sowjetischen Riesenreich des Jahres 1986 dokumentiert er damit zugleich "etwas Einzigartiges: die ersten Bewegungen eines lange im Eis erstarrten Dinosauriers". Jener Glücksfall ist dem mexikanischen Romancier Sergio Pitol gelungen, der eine Zeitlang im Dienste seines Landes als Diplomat tätig war.

Der auf die eigenen Tagebuchaufzeichnungen gestützte Bericht von "jenen zwei Wochen, die ich in diesem über Jahrhunderte hinweg entstandenen Reich verbrachte, von dem weder ich noch sonst jemand ahnte, wie nahe es dem endgültigen Zusammenbruch war", gerät ihm zu weit mehr als einer "literarischen Chronik in Moll", die er sich eigentlich zu schreiben aufgemacht hatte. Pitol fühlte sich seit Kindertagen, so gesteht er selbst im Schlußkapitel, als "Iwan, Russenjunge" und hegt eine heimliche Seelenverwandtschaft mit dem nun erstmals von ihm bereisten Land. Eine Affinität, die sich freilich auf ein fiktives Land erstreckte und sich vor allem aus einem nährt: der russischen Literatur von den Klassikern bis zur Moderne.

Somit wird die Reise ins reale Sowjetreich, wo es unter Gorbatschows Perestrojka in der ganzen Gesellschaft und besonders in den Schriftstellerkreisen zu brodeln beginnt, auch ein Ausflug in das erträumte Land des "Russenjungen" Pitol, doch nicht nur dies: Anhand von in knapper und eindringlicher Form parallel zu den aktuellen Ereignisse erzählten Schicksalen wie etwa dem des Theaterrevolutionärs Wsjewolod Meyerhold oder der Dichterin Marina Zwetajewa entwickelt sich "Die Reise", unterstützt durch eingefügte Dokumente wie die Erinnerungen Vladimir Nabokovs, zugleich auch zu einer ausgewählten Geschichte der russischen Revolution. Eine Geschichte aus der Sicht der Künstler, die wie in jedem totalitären System zu den ersten Opfern des Terrors und seiner Begleiterscheinungen wurden: Marginalisierung im eigenen Land oder Verarmung und Vereinsamung im Exil, bis hin sogar zu Gefängnis und Folter.

Mit Sensibilität und subtilem Scharfsinn dokumentiert Pitol in der Doppelrolle als Zeitzeuge und als rückblickender Kommentator die letzten eisigen Atemzüge des sowjetischen Dinosauriers und konfrontiert sie mit dem virtuellen Universum seiner literarischen Bildung. Als Diplomat und Literat in idealer Personalunion läutet er den stellenweise kreuzfidelen Totenmarsch des kranken Riesen ein, dessen Verenden die Hoffnung auf eine vitale Verjüngung aufkeimen läßt. Trotz einer nicht ganz zu leugnenden Tendenz zu einer lehrerhaften Überfrachtung mit Bildung weckt er damit gerade in einem deutschen Leser eine Bewunderung, die mit einer Spur von bitterem Neid gemischt ist: daß die mexikanische Literatur genau das besitzt, was der unseren so dringend fehlt - ein Erzählwerk von Rang über die letzten Tage des Ostblocks. Pitols Panorama der Vorwendezeit haben wir wenig entgegenzusetzen, es sei denn Filmkomödien à la "Good Bye, Lenin!" oder "Sonnenallee". Also genau das, wovon wir bei Pitol glücklicherweise verschont bleiben.

FLORIAN BORCHMEYER

Sergio Pitol: "Die Reise". Ein Besuch Rußlands und seiner Literatur. Aus dem Spanischen übersetzt von Christian Hansen. Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2003. 192 S., geb., 22,50 [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
…mehr

Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension

Es ist eine Weile her, dass Sergio Pitol die haarsträubende Reise unternahm, von der er in seinem Buch berichtet, nämlich knapp zwanzig Jahre, doch Uwe Stolzmann ist froh, dass sie - dem Russland-Schwerpunkt in Frankfurt sei dank - überhaupt nacherlebt werden kann. Pitol, damals mexikanischer Botschafter in Prag, habe sich nämlich gerade rechtzeitig staunend durch die sowjetischen Literaturszenerie bewegt, als im Zuge von Glasnost alles möglich schien. So traf er tyrannische Funktionäre des Schriftstellerverbandes ("Erben der Leute, die Babel gefoltert und ermordet haben", nennt Pitol sie) wie auch in Georgien "Dichter auf einem fünf Stunden dauernden Bankett, die sich an schwarzem Wein betranken und in Gelächter ausbrachen, wann immer die Rede auf den 'sozialistischen Realismus' kam". Seltsam müsse ihm erschienen sein, vermutet Stolzmann, was heute nur noch ein Gemeinplatz der jüngeren Geschichte ist: die von Kraft und Verwirrung erzeugten "Schwingungen" des Neuen. Pitol, vom Rezensenten in den Rang eines "geborenen" Erzählers gehoben, verquicke diese Erlebnisse mit einer zweiten Reise, nämlich "zu Russlands klassischer Literatur und ihren Akteuren": Gegenwart wechselt sich ab mit Erinnertem und Gelesenem, "Anrührendes" steht neben "Grauenvollem". Ganze Reiche der Literatur, so Stolzmanns hohes Lob, passen in ein kleines Buch.

© Perlentaucher Medien GmbH
…mehr