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Produktdetails
  • Verlag: Dietz, Bonn
  • 2000.
  • Seitenzahl: 541
  • Deutsch
  • Abmessung: 210mm
  • Gewicht: 726g
  • ISBN-13: 9783801202934
  • ISBN-10: 3801202933
  • Artikelnr.: 08720466
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 12.07.2000

Der versteckte Staatsmann
Wilhelm Kaisen: Landesvater in Bremen und Gegner von Kurt Schumachers "linkem Nationalismus"

Karl-Ludwig Sommer: Wilhelm Kaisen. Eine politische Biographie. Herausgegeben von der Wilhelm und Helene Kaisen-Stiftung Bremen. Verlag J. H. W. Dietz, Bonn 2000. 540 Seiten, Abbildungen, 39,80 Mark.

Von deutschen Politikern des 20. Jahrhunderts verdienen nur wenige das Prädikat Staatsmann. Zu ihnen gehört der Sozialdemokrat Wilhelm Kaisen, Präsident des Senats der Freien Hansestadt Bremen 1945 bis 1965. Er zählt zu den Gründungsvätern der Bundesrepublik Deutschland wie zu den Garanten ihrer Stabilisierung. Dabei steuerte Kaisen, der die "Lehren von Weimar" verarbeitet hatte, stets einen Kurs des inter- und innerparteilichen Ausgleichs, selbst wenn er damit der Linie des SPD-Vorstands entgegenlief. Er wurde zum Prototyp eines erfolgreichen, bodenverhafteten Landesvaters. Von seiner Popularität zehrte die SPD im kleinsten Land der Bundesrepublik.

Kaisen, 1887 in Hamburg geboren, stammte aus sozialdemokratischem Arbeitermilieu. Die Ausbildung zum Facharbeiter (Stuckateur) und die Militärdienstzeit prägten ihn weniger als die Lehrzeit im Arbeiterbildungsverein, vor allem aber die Jahre 1913 und 1914 auf der Parteischule in Berlin, der "ideologischen Kaderschmiede der SPD". Hier faszinierte ihn neben der feurigen Dozentin Rosa Luxemburg die einzige Kursgenossin, Helene Schweiga, die er 1916 heiratete. Sie wurde ihm zur unentbehrlichen, zunächst durchaus links außen stehenden politischen Gesprächspartnerin, später zur wichtigsten Stütze im familiären Hintergrund.

Die vier Jahre des Ersten Weltkriegs überlebte Kaisen als Artillerist in Frankreich. Sein steiler politischer Aufstieg begann im Sommer 1919 in Bremen, der Heimat seiner Frau. Dort gelangte der "Neue aus Hamburg" rasch zu Ansehen. Als Redakteur des "Bremer Volksblattes" (1920) und zwei Jahre später als Chefredakteur der "Bremer Volkszeitung" gehörte er seit 1920 der Bürgerschaft an und übernahm 1928 im Senat das Ressort Wohlfahrtswesen. Kaisen bezog mit seiner Frau und drei Kindern ein eigenes Haus, blieb aber trotz bürgerlich-mittelständischen Lebensstils ein "Mann der Basis". Die reibungslose Zusammenarbeit mit den Koalitionspartnern bildete die Grundlage des von ihm später praktizierten "Bündnisses von Kaufleuten und Arbeiterschaft", das zu seinem Markenzeichen wurde.

Kaisens optimistische Prophetie von Ende 1932, "das Dritte Reich kommt niemals", war bereits zwei Monate später widerlegt. Im März 1933 schlugen die neuen Machthaber auch in Bremen zu, wobei ihnen die SPD durch Selbstausschaltung die Gleichschaltung erleichterte. Die Arbeitslosigkeit zwang Kaisen zu einem beruflichen Neuanfang. Er erwarb in der kleinen Ortschaft Borgfeld eine Siedlerstelle mit fünf Hektar Land, mied jeglichen politischen Kontakt, führte ein hartes Leben als Kleinlandwirt und gewann schließlich aus dem rustikal-bescheidenen Dasein einen neuen Lebenssinn. Diese Erfahrungen machten ihn nach 1945 zu einem Verfechter ländlichen Siedlungswesens und Förderer des Eigenheimbaus.

Seine zweite Karriere begann unfreiwillig. Amerikanische Offiziere holten den früheren SPD-Politiker Ende April 1945 "vom Acker weg", wie die Legende überliefert, in die Bremer Stadtverwaltung. Sie übertrugen ihm sein früheres Amt als Senator für das Wohlfahrtswesen und ernannten ihn am 1. August 1945 zum Präsidenten des Senats. Damit begann die "Ära Kaisen"in Bremen. Der Regierungschef gewann das Vertrauen der Machthaber, erhielt aber schon bald die Bestätigung durch freie Wahlen, die zu Gunsten seiner Partei ausfielen.

Kaisen blieb darauf bedacht, den Wiederaufbau der zerstörten Region ("Erst der Hafen, dann die Stadt") im Konsens mit den Koalitionspartnern CDU und FDP vorzunehmen. Er erwartete von seiner eigenen Fraktion in der Bürgerschaft getreuliche Gefolgschaft, das "Regieren" wollte er dem Senat überlassen wissen. Ihn führte er, je länger, je mehr, ebenso selbstsicher und autokratisch wie effizient.

Das Hauptziel des Senatspräsidenten blieb die Sicherung der früheren "Reichsunmittelbarkeit" Bremens. Für die Hafen- und Handelsfunktion der Stadt beanspruchte er die Rolle als "Treuhänderin des Reiches". Der Wiederaufbau war umso schwieriger, als die Siegermächte weiter Industriewerke demontierten und zunächst den Bau von Handelsschiffen untersagt hatten. In einer späteren Phase des Wohnungsbaus geriet Kaisen mit Teilen seiner eigenen Fraktion in Konflikt, weil er sich der Errichtung der Hochhäuser widersetzte.

Dem Senatspräsidenten fiel es schwer, sich von seinen Vorstellungen eines raschen "Weges zum Reich" zu lösen. Nach der Gründung der Bundesrepublik Deutschland hoffte er vergeblich darauf, Bundespräsident zu werden, denn der SPD-Vorsitzende Kurt Schumacher kandidierte seinerseits und unterlag Theodor Heuss. Seit 1950 unterstütze Kaisen die Westintegrationspolitik der Bundesregierung. Zu Adenauer fand er ein gutes Verhältnis.

Zusammen mit den SPD-Kollegen Max Brauer (Hamburg) und Ernst Reuter (Berlin) zählte Kaisen zur "Bürgermeister-Fraktion" der SPD, die Schumachers Grundsatzopposition ablehnte. Der "Atlantiker" Kaisen hielt Schumachers "linken Nationalismus" für verhängnisvoll. Für diese Haltung wurde er mit persönlicher Missachtung bestraft, 1950 auch nicht wieder in den erweiterten Parteivorstand gewählt. Kaisens Dauerkonflikt mit der SPD-Spitze endete erst Ende der fünfziger Jahre, als die Partei mit dem Godesberger Programm ihren ideologischen Ballast abwarf.

Zu diesem Zeitpunkt missfiel in Bremen einzelnen SPD-Politikern Kaisens nicht enden wollende Übermacht. Unter Führung des "nassforschen Machers" Richard Boljahn drängte eine jüngere Generation darauf, den 1962 inzwischen 75 Jahre alten Kaisen vor der nächsten Wahl abzulösen. Sie nutzte einen allgemeinen Stimmungswechsel nach Abschluss der ersten Wiederaufbauphase ebenso wie wirtschaftliche Schwierigkeiten, zumal nach dem spektakulären Konkurs der Borgward-Werke. Kaisen litt unter diesen Querschüssen, blieb allerdings unangefochten, da die innerparteiliche Opposition keinen "Kronprinzen" besaß.

Der von ihm ins Auge gefasste Nachfolger, Adolf Ehlers, schied aus Krankheitsgründen wieder aus. Deswegen ließ sich Kaisen 1963 noch einmal "reaktivieren", obwohl ihn seine Partei in der Wahlwerbung "versteckt" hatte. Zwei Jahre später gab er sein Amt auf und zog sich auf sein ländliches Anwesen zurück. 1967 veröffentlichte er schmucklose Memoiren, deren Titel "Meine Arbeit, mein Leben" seine Prioritätensetzung erkennen ließ.

Anfang der siebziger Jahre entdeckte seine Partei den "Senior" wieder und ließ ihn im Wahlkampf 1972 mitwirken. Kaisen schrieb weiterhin politische Zeitbetrachtungen. Beim Staatsakt nach seinem Tode am 19. Dezember 1979 würdigten ihn Bundespräsident Carstens, Bundeskanzler Schmidt und der SPD-Vorsitzende Brandt als vorbildlichen Demokraten und deutschen Patrioten.

Karl-Ludwig Sommer konnte sich für diese überfällige und eindrucksvolle Biographie auf eigene Studien zur Landeszeitgeschichte Bremens stützen. Er schreibt mit verständlicher Sympathie, aber um Distanz bemüht. In seiner schlüssigen Darstellung stören lediglich einige falsch geschriebene Eigennamen.

RUDOLF MORSEY

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Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension

"Bernd Ulrich bemüht sich in seiner Besprechung dieser politischen Biographie Wilhelm Kaisens, der Bürgermeister in Bremen war und heute zu Unrecht etwas in Vergessenheit geraten ist, um Gerechtigkeit, aber er kann seine Enttäuschung nicht verhehlen. Zwar äußert er sich anerkennend über die Nüchternheit und Vorsicht, mit der sich der Autor der Person Kaisens nähert und findet, dass sie gut zum "Pragmatismus" Kaisens passen. Doch dann bricht der Ärger über die "staubtrockene" Schreibweise Sommers hervor, und Ulrich macht seinem Unmut über "Bandwurmsätze" des Autors und den "umständlichen Aufbau seiner Beweisführung" Luft. Besonders bedauerlich findet er dabei, dass die "Konturen" von Wilhelm Kaisen durch diese Biographie "immer blasser" werden. Und so wolle er das Buch zwar nicht gänzlich schlecht machen - immerhin sei es "fleißig recherchiert"- aber am Ende blieben zu viele Fragen offen und die Lektüre sei einfach zu "dröge", so der Rezensent enttäuscht.

© Perlentaucher Medien GmbH"