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Wie verändert die Ablehnung der Werkgerechtigkeit die Tugendikonographie und die Hierarchien der dargestellten virtutes in den öffentlichen Bildprogrammen protestantischer Städte, lautet die zentrale Frage der exemplarisch angelegten Untersuchung. Nicht nur in der Ethik, sondern auch in der Malerei mußte eine Antwort auf Luthers Rechtfertigungslehre gefunden werden. Dabei war eine zentrale Forderung zu erfüllen: Bestimmte, im städtischen Zusammenleben notwendige Normen sollten in den Bildprogrammen angemahnt werden, ohne dem Betrachter zu suggerieren, er könne durch tugendhaftes Handeln an seinem Seelenheil mitwirken.…mehr

Produktbeschreibung
Wie verändert die Ablehnung der Werkgerechtigkeit die Tugendikonographie und die Hierarchien der dargestellten virtutes in den öffentlichen Bildprogrammen protestantischer Städte, lautet die zentrale Frage der exemplarisch angelegten Untersuchung. Nicht nur in der Ethik, sondern auch in der Malerei mußte eine Antwort auf Luthers Rechtfertigungslehre gefunden werden. Dabei war eine zentrale Forderung zu erfüllen: Bestimmte, im städtischen Zusammenleben notwendige Normen sollten in den Bildprogrammen angemahnt werden, ohne dem Betrachter zu suggerieren, er könne durch tugendhaftes Handeln an seinem Seelenheil mitwirken.
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 08.08.2003

Caritas, die herrische Matrone
Gnadenlos tugendhaft: Margit Kern untersucht protestantische Bildprogramme
Die Reformation ist nicht zufällig ein beliebtes Forschungsgebiet der Kunstgeschichte, die gern zur Bildwissenschaft werden möchte. Wo, wenn nicht in der Auseinandersetzung über den „richtigen” Gebrauch der Bilder und ihre gefährliche Macht offenbart sich das Bild- und Wortverständnis der Frühen Neuzeit besser, ja lässt sich sogar auf ein frühes Bewusstsein für die Wirkweise von Medien schließen? Die dabei von der Forschung vorrangig behandelten Themen sind der Bildersturm sowie die Erfindung von Ikonographien für die adäquate Umsetzung der neuen Lehre etwa im Altarbild. Diesen engen Rahmen bricht nun eine Studie auf, die durch neue Fragen und Solidität gleichermaßen überzeugt. In ihrer den Tugenddarstellungen der Frühen Neuzeit gewidmeten Untersuchung nimmt sich Margit Kern ein Phänomen vor, das in Zusammenhang mit Luthers Gnadenkonzeption steht und paradoxe Züge trägt.
Es ist essentieller Bestandteil der protestantischen Rechtfertigungslehre, dass die guten Taten, die der Mensch auf Erden vollbringt, unter dem Aspekt der Heilserlangung irrelevant sind. Allein die Gnade Gottes bewirkt nach Luther die Erlösung der Menschen. Damit hebelt er indirekt nicht nur die scholastische Tugendlehre aus, sondern mit ihr auch gleich die humanistische Ethik. Die „Tugenden der Heiden” sind für Luther nichts als eine „Täuschung”, da sie nicht mit der Allmacht Gottes zu vereinbaren sind.
Das Paradox, von dem Kerns Argumentation ihren Ausgang nimmt, besteht darin, dass in und nach der Reformation weit mehr Tugendzyklen im öffentlichen Raum entstanden als vor ihr, und dies nicht etwa in katholischen Gebieten, wie man meinen möchte, sondern gerade in protestantischen. Gute Beispiele sind der Brunnen neben der Nürnberger Lorenzkirche, in dem sieben Tugendpersonifikationen als Wasserspender fungieren, und das monumentale Bildprogramm an der Fassade des Rathauses in Ulm, in dem die Inschriften die Anleitung zur ethischen Deutung der dargestellten biblischen Historien boten. Betrachtet man Bilder als simple Illustration von Theorien oder Glaubenssätzen, lässt sich eine solche Dissoziation von Theorie und Praxis nicht erklären.
Geduld statt Klugheit
Kern vermeidet sie diesen methodischen Kurzschluss. In ihren differenzierten Ausdeutungen der Bildzyklen geht sie von den Verschiebungen im visuellen Repertoire aus. So ist im Nürnberger Brunnen nicht nur die Prudentia (Klugheit) durch die nicht zum Kanon der vier Kardinal- und drei theologischen Tugenden gehörigen Patientia (Geduld) ersetzt; auch die hervorgehobene Stellung der Iustitia (Gerechtigkeit) auf der Brunnenspitze ist augenfällig. Versteht man erstere als „patientia civilis”, lassen sich beide als genuine „Bürgertugenden” im Sinne von Ciceros „De officiis” lesen. Sie zielen auf die Mäßigung der Affekte und bürgerlichen Gehorsam im Handeln, denn auch Iustitia ist mit der gerechten, also der angemessenen und vernünftigen Handlungswahl betraut.
Auch das Ulmer Rathausprogramm propagiert das aktive Handeln des Menschen für die Gemeinschaft und räumt den Tugenden der Gelehrsamkeit wie eben der Prudentia entsprechend geringen Stellenwert ein.
Kern kann also zeigen, dass die bürgerlichen Tugenden im protestantischen Weltverständnis nicht obsolet geworden sind; es wurde lediglich ihr eschatologisches Vorzeichen getilgt. Auch wenn gute Taten als nicht mehr heilsrelevant angesehen wurden, so waren sie doch ebenso zu leisten wie die letztlich gottgegebenen Gesetze zu befolgen waren. Anknüpfend an das Konzept der Sozialdisziplinierung sieht die Autorin in den Werken jedoch keine Steuerungsmaßnahmen einer städtischen Obrigkeit, sondern den Versuch, mit Hilfe von Bildern die Internalisierung von Normen und die Ausbildung eines Bewusstseins zur Selbstkontrolle der in Geltung stehenden Werte zu erreichen. „Man verpflichtete sich selbst und andere auf ein bestimmtes Ethos, die Bilder im städtischen Raum leisteten dazu ihren unabdingbaren Teil.”
Wie aber legitimierten sich die Tugenddarstellungen im religiösen Bereich? Bereits wenige Jahre nach der Einführung der Reformation in Sachsen entstand in der Pirnaer Marienkirche ein von der Forschung bislang unbeachteter Bilderzyklus, der besonders interessante Voraussetzungen bietet, da der vermutete Autor des Programms in enger Beziehung zu Luther stand. Dass dem Superintendenten Anton Lauterbach an der aussagekräftigen Umsetzung der protestantischen Gnadenlehre ins Medium des Freskos gelegen war, ist anzunehmen. Tatsächlich verkünden in Pirna jedoch vorrangig die Inschriften unter den Tugenden immer dieselbe Botschaft: Sie seien nicht auf die ethische Leistungsfähigkeit des einzelnen Menschen zu beziehen, da die Gnade ausschließlich ein Geschenk Gottes sei.
In gewisser Weise ist diese Verlagerung der Aussage auf das geschriebene Wort als ein Eingeständnis des Scheiterns der Bilder zu werten. Dass sich der anonyme Maler jedoch redlich darum bemühte, auch die Fresken selbst sprechen zu lassen, zeigt seine kuriose Umdeutung der Caritas (Liebe).
In Pirna haben wir keine Mutter vor uns, die ihren blondgelockten Kindern liebevoll zugetan ist, sondern eine herrische Matrone, die ihr störrisches Söhnchen recht rüde am Oberarm packt und mahnend den Zeigefinger erhebt. Er hatte sich offenbar aus einer Truhe mit Goldstücken bedienen wollen, woran er nun von ihr gehindert wird.
Verbunden ist mit dieser ikonographischen Erfindung wohl die Warnung, die Werke der Nächstenliebe nicht in Erwartung himmlischen Lohns auszuüben. Auch wenn die Kombination aus barbusiger Mutter und Kind gerade noch die Wiedererkennbarkeit der spezifischen Tugend gewährleistet, so war der schimpfenden Caritas von Pirna doch kaum zufällig keine bildliche Fortune beschieden.
VALESKA VON ROSEN
MARGIT KERN: Tugend versus Gnade. Protestantische Bildprogramme in Nürnberg, Pirna, Regensburg und Ulm. Gebr. Mann Verlag, Berlin 2002. 493 Seiten, 78 Euro.
Tu keinen Schritt vom rechten Wege ab, mein Kleiner! Marienkirche Pirna 1544/6. Ausschnitt aus den Deckenfresken: Die Tugenden. Hier Caritas und Fides (links und rechts).
Foto: Unger, Pirna / Gebr. Mann Verlag
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension

Für Martin Luther, erklärt Valeska von Rosen, war Tugendhaftigkeit "unter dem Aspekt der Heilserlangung irrelevant". Trotzdem seien gerade zur Zeit der Reformation, und gerade in protestantischen Gegenden eine große Anzahl Tugendzyklen entstanden. Dieses Paradox nehme Margit Kern zum Ausgangspunkt ihrer Untersuchung der Bilddarstellung der Tugend. Das Ergebnis ihrer ebenso soliden wie "differenzierten Ausdeutungen": Gute Taten mögen nicht mehr heilsrelevant gewesen sein, aber sie waren nichtsdestotrotz zu leisten. Die Bildsprache zielte demnach auf die "Ausbildung eines Bewusstseins zur Selbstkontrolle" ab. Erlösung oblag allein der Gnade Gottes - das Ausrufezeichen hinter den Tugenden blieb dennoch erhalten.

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