Marktplatzangebote
Ein Angebot für € 17,65 €
  • Gebundenes Buch

Der Jäger des verlorenen Sinns: "Ich verlange in einem Interview alles von mir", sagte der Autor und Journalist André Müller, der als Meister des literarischen Verhörs gilt. Mit seiner direkten Art, nach den intimsten Dingen zu fragen, zumeist nach Liebe und Tod, brachte er seine Gesprächspartner dazu, sich um Kopf und Kragen zu reden. Seine Interviews, die in allen großen Zeitungen abgedruckt wurden, führten zu erschütternden Geständnissen und lösten Skandale aus. Von Karl Lagerfeld und Toni Schumacher über Peter Handke, Salman Rushdie bis hin zu Leni Riefenstahl, Hanna Schygulla und Günter…mehr

Produktbeschreibung
Der Jäger des verlorenen Sinns: "Ich verlange in einem Interview alles von mir", sagte der Autor und Journalist André Müller, der als Meister des literarischen Verhörs gilt. Mit seiner direkten Art, nach den intimsten Dingen zu fragen, zumeist nach Liebe und Tod, brachte er seine Gesprächspartner dazu, sich um Kopf und Kragen zu reden. Seine Interviews, die in allen großen Zeitungen abgedruckt wurden, führten zu erschütternden Geständnissen und lösten Skandale aus. Von Karl Lagerfeld und Toni Schumacher über Peter Handke, Salman Rushdie bis hin zu Leni Riefenstahl, Hanna Schygulla und Günter Grass - legendäre Gesprächsdramen. Mit einem Vorwort von Elfriede Jelinek.
Autorenporträt
André Müller, 1946 in Brandenburg geboren, 2011 in München gestorben, wuchs in Wien auf und studierte Germanistik, Philosophie und Geschichte. Ab 1967 als Gerichtsreporter und Theaterkritiker tätig, 1970 Übersiedlung nach München. Seit 1975 arbeitete er freiberuflich, seine aufsehenerregenden Interviews erschienen vor allem in der Zeit, dem Stern, der Weltwoche, im Spiegel und im Playboy.
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 17.10.2011

Der Mann mit dem
großherzigen Mülleimer
Im April starb der Journalist André Müller – jetzt ist eine
Auswahl seiner großartigen Künstlergespräche erschienen
Im Herbst 1978 sollte Thomas Bernhard in der Aula der Münchner Universität lesen. Außer Peter Handke gab es damals keinen anderen lebenden Autor von Bedeutung, und ausgerechnet der begnadete Salz- und Augsburg-Beschimpfer, der sich Sterblichen, gar gewöhnlichen stud. phil., sonst niemals zeigte, sollte leibhaftig auftreten. Allein, die Marxistische Gruppe (MG) wollt’s nicht leiden und verhinderte die Lesung, um stattdessen über die Lage in Persien zu diskutieren. Mit dem Schah ging es zu Ende, die Demokratie drohte, aber dass dann der barbarische Khomeini kommen sollte, ahnte noch niemand. Bernhard, kein Politiker und wenn, dann doch eher reaktionär, ein Liederjan, ein Freibeuter, ein ziemlicher Irrer, geriet mit den kaum weniger Irren von der MG aneinander, die uns Zuspätgekommenen an der Münchner Uni wenigstens einen Hauch von Revolte spendierten.
Bernhard war über die ausgefallene Lesung nicht besonders betrübt; sein üppiges Honorar bekam er trotzdem. Statt vorzulesen traf er sich mit dem Reporter André Müller, der ihm seit Monaten zugesetzt hatte, sich immer wieder vertrösten ließ und es doch wieder versuchte, der zu ihm nach Ohlsdorf im Salzburger Land fuhr, bis er schließlich ein Gespräch zustande brachte, das im folgenden Jahr über mehrere Seiten in der Zeit ausgebreitet erschien. Unsereiner las es gierig in der Cafeteria des Neuphilologicums, las, umklappert vom Kaffeegeschirr, wie Bernhard über seine Selbstmordgedanken hinwegfilibusterte: „Wenn ich so was beschreibe, so Situationen, die zentrifugal auf den Selbstmord zusteuern, sind es sicher Beschreibungen eigener Zustände, in denen ich mich, während ich schreibe, sogar wohl fühle vermutlich, eben weil ich mich nicht umgebracht habe, weil ich selbst dem entronnen bin. Da kann man ja dann wunderbar d’rüber schreiben. Ein anderer könnte das nicht, oder es würde was vollkommen Hölzernes dabei herauskommen . . . “. Der Reporter wird Teil dieser poeto-letalen Überlegungen, wenn der Todesvogel Bernhard über ihn spottet: „Was denken Sie jetzt? Ihr Gesicht ist auf einmal vollkommen verändert.“
Thomas Bernhard war ein maßloser Polterer, ein Genie der Bösartigkeit, und es war nicht zuletzt André Müller, der den Theatraliker zu Höchstleistungen provoziert hat. Bernhard lässt sich verleugnen, verschiebt das Treffen, sträubt sich und kokettiert und gibt dann, als es endlich zum Gespräch kommt, dem Reporter frei, zu schreiben, was er will; er solle sich sein Interview erfinden. Müller aber will nur das Echte, will böse Sätze, tiefe Sätze, Bernhard-Sätze. Er stellt immer gleich die Fragen nach Allem und dem Nichts. Ob er an Selbstmord denke: „Der Gedanke ist immer da.“ Warum tut er’s nicht? „Ich glaub’, aus Neugier, aus reiner Neugier.“ Und dann überhaupt nicht mehr schwach, sondern selbstbewusst: „Einer, der schwach ist, kann solche Sachen ja gar nicht schreiben.“
Nur André Müller, der wie geschaffen war für die Selbstmordlust der Bernhard’schen Figuren, bekam solche Sachen zu hören und zu schreiben. Die natürliche Geltungssucht der Schauspieler, Regisseure und Schriftsteller fand die ideale Prallwand bei diesem Reporter, der mit Theaterkritik und höherem Klatsch begonnen hatte, erst in Wien für die Kronenzeitung, dann von den frühen Siebzigern an in München für die seinerzeit bedeutende Abendzeitung Interviews führte, die keine Interviews waren, sich nicht um das neue Buch, die neue Platte, die neueste Buhlschaft und den anderen handelsüblichen Quatsch drehten, sondern herzausschüttende und tiefwahrhaftige Gespräche waren.
Immer ist Müller auf Bekenntnisse aus, möchte, da er von sich nicht reden darf, doch die anderen dazu bewegen, dass sie über ihre Selbstzweifel, ihre Depressionen, ihren Schreib- und Lebensüberdruss sprechen. Und sie tun es: Schon um ihn zu beeindrucken, ihn für seine Schonungslosigkeit zu belohnen, legen sie ihm ihre letzten Geheimnisse auf den Tisch. Michel Houellebecq behauptet: „Die Gleichgültigkeit ist meine hervorstechendste Eigenschaft.“ Wenn es richtig übersetzt ist, dann ist das wieder so ein genialer, sturznüchterner Satz: „Sie ist ein Dämon, weil sie gegen die Hellsichtigkeit schützt, die aus dem Bewusstsein kommt.“
Elfriede Jelinek bezeichnet sich als „dumm wie Brot“, gesteht ihm aber auch, dass sie „jede Zuwendung, auch eine positive, als Körperverletzung“ empfinde. Peter Handke schimpft „Sie sind ein Depp“, redet aber trotzdem mit ihm, erzählt ihm zum Beispiel die schöne Phantasie, die er sich für später aufbewahrt: „Ich gründe mit Freunden ein Altersheim. Wir sind gerade dabei, einen Architekten zu suchen. Dort dürfen dann Maler und Schriftsteller und ein paar andere Deppen wohnen. Wir werden Karten spielen oder Schach und auf die Mädchen schauen, die auf der Straße vorbeigehen.“
Was aber hat das bitte mit Literatur zu tun? Es ist natürlich viel besserer Klatsch dabei, wenn Müller zum Beispiel dem Regisseur Wim Wenders entlockt, dass er keine Kinder zeugen könne. Müller spart auch nicht mit Bemerkungen über Abwesende, um die Äußerungssucht seiner jeweiligen Gegenüber die reizen. Es ist aber am Ende gar nichts anderes als genau das: Literatur und zwar Literatur als strengste Kunst betrachtet, Sprechfolter. Müller redet seine Gegenüber um Kopf und Kragen, bis sich beispielsweise Syberberg zu seinen nicht ganz kleinen Faschismen bekennt. Das Gespräch mit dem damaligen Burgtheaterdirektor Claus Peymann brachte Österreich 1988 an den Rand einer Staatskrise. Manche hielten es ohnehin für ein Werk Thomas Bernhards, so weltzerfallen und meuterselig grantelte Peymann vor sich hin.
Bei einigen scheitert sogar Müller. Christoph Schlingensief ist eine viel zu flüchtige Erscheinung, vielleicht auch schon eine Müller-Kreation, die keinen weiteren Mehrwert liefert. Leni Riefenstahl, die alte Hexe, wiederholt ihr lebenslanges Beleidigtsein. Die Begegnung mit Hans Dietrich Genscher kommt gar nicht erst zustande und wird nur phantasiert. Ehrgeizig möchte Müller den Kritiker Marcel Reich-Ranicki zum Weinen bringen, was zwar nicht gelingt, ihm aber eine Beschimpfung einträgt, die der „Interviewer“ (wie sich Müller manchmal unterschrieb) wie ein rares Kompliment verzeichnet: „,Sie sind ein schrecklicher Mensch’, sagte er, ,ein abscheulicher Mensch, ein furchtbarer Mensch!’“
Günter Grass wirft er vor, er sei zu selbstgewiss, er möchte mit ihm tauschen und klagt ihm sein eigenes Unglück, geboren zu sein. Grass, nicht faul: „Halten Sie noch ein bisschen durch!“ Handke nennt ihn einen „Tunichtgut“, Alice Schwarzer war so böse auf das, was sie zu ihm gesagt hatte, dass sie den Abdruck ihrer Worte mit Anwaltshilfe untersagte. Den Torwart Toni Schumacher trieb er zu existenzialistischen Bekenntnissen: „Ich bin ein Raubtier, der Ball ist die Beute.“ Karl Lagerfeld gelangte immerhin zur Erkenntnis seiner totalen Banalität. Ingmar Bergman sagt den rätselhaften Satz: „Der Künstler muss seine Tiere fressen.“
Höhepunkt der Müller’schen Sprechfolter ist aber kein Künstlergespräch, sondern jenes mit seiner gänzlich unprominenten Mutter. Es ist 1989 in der Zeit erschienen, in der guten, alten Zeit, die sich noch mehr zutraute, als Meinungen zu allem und jedem und sonst nichts mehr zu haben. Die sogenannte „Gräfin“, also die Herausgeberin Marion Dönhoff, war regelmäßig empört über das, was Müller aus seinen Gesprächspartnern herausfragte, am Ende siegte aber doch der Genie-Verdacht oder vielmehr der betreuende Redakteur Benjamin Henrichs, ohne den Müller nicht ins Blatt gekommen wäre.
Gerta (nein, nicht Herta!) Müller sträubt sich, nicht anders als die berühmten Künstler, mit denen ihr Sohn sonst so seelenvollen Umgang pflegt: „Das geht dich sozusagen überhaupt nichts an“, sagt sie ihm, als er nach ihrem Liebesleben fragt. Die beiden ringen miteinander, rekapitulieren die Liebschaft mit einem französischen Besatzungssoldaten, bei der er ins Leben kam, und das wechselseitige Unglück, das daraus entstanden ist. Wenn die Mutter nichts preisgeben will, ist der Sohn beleidigt, redet davon, dass er sich beinah umgebracht hätte, ein Argument, mit dem er manchen genötigt hat, seinerseits und zum Ausgleich die verborgensten Seelenfalten auszuschütteln.
André Müller ist im vergangenen Frühjahr an Krebs gestorben. Nun hat der Verlag Langen-Müller seine „Letzten Gespräche und Begegnungen“ herausgebracht, eine schmale Auswahl aus dem Lebenswerk eines Reporters, der härter arbeitete als viele Autoren und oft mit den schönsten Texten belohnt wurde. Wie machte er das bloß? Mit welchen Tricks öffnete er die geheimsten Herzkammern? Müller benimmt sich oft wie ein ungebärdiges Kind, bettelt um Aufmerksamkeit, um Interesse für seine Person oder einfach um offenbarende Sätze. Einer der einfachsten und damit schönsten stammt von ihm selber: „Das Unvorstellbare muss man aufhellen durch Fragen.“ Aber zusetzen konnte er den Autoren nur, weil er sie genauer las und vielleicht auch mehr liebte als andere. Thomas Bernhard lud ihn wieder ein, weil Müller so genau beschrieben hatte, wie der Autor melancholisch mit dem Pantoffel wippte.
Elfriede Jelinek, die ein sehr schönes Vorwort für diesen Band geschrieben hat, wettert gegen die Leute, die über romantische Erlebnisse sülzen müssen, während sie, die Arbeiterin, sich nur immer schinde. „Ich räume den Gefühlsdreck weg“, sagt sie. „Ich bin in der Literatur die Trümmerfrau, die Frau mit dem Mülleimer.“ André Müller war in der deutschen Literatur der Mann mit dem großherzigen Mülleimer. Ohne ihn, ohne seine Gespräche, denen leider keine mehr folgen werden, stünd’s noch viel schlimmer um sie. Wer schwach ist, wird ihn nicht aushalten; um die andern ist es nicht schad.
WILLI WINKLER
ANDRÉ MÜLLER: „Sie sind ja wirklich eine verdammte Krähe!“ Letzte Gespräche und Begegnungen. Mit einem Vorwort von Elfriede Jelinek. Verlag Langen-Müller, München 2011. 368 Seiten, 19,99 Euro.
Den Theatraliker Thomas
Bernhard hat André Müller
zu Höchstleistungen provoziert
Ingmar Bergman sagt den
rätselhaften Satz: „Der Künstler
muss seine Tiere fressen“
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
…mehr

Perlentaucher-Notiz zur ZEIT-Rezension

Moritz von Uslar rät Journalistenschülern, alle guten Ratschläge über Bord zu werfen, die ihnen in Sachen Interviewtechnik mit auf den Weg gegeben werden, und stattdessen, die Interview Andre Müllers zu lesen. Hier können sie nämlich wie er lernen, dass alle Rede von der Distanz Quatsch ist. Wichtig für gute Interviews sind "Nähe, Wärme und Herzlichkeit". Und so schafft es denn Müller auch, seinen Gespächspartnern - Jelinek, Handke, Grass, Bergman, Houellebecq und Co. nicht nur Bekenntnisse zu entlocken, sondern "totale Bekenntnisse". Alles kommt auf den Tisch, staunt Moritz von Uslar, der "ganze Schmerz, das ganze Aua". Das imponiert dem Rezensenten, der sehr bedauert, Andre Müller nicht interviewt zu haben.

© Perlentaucher Medien GmbH