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Produktdetails
  • Monumenta Germaniae Historica, Studien und Texte Bd.36
  • Verlag: Hahnsche Buchhandlung
  • Seitenzahl: 200
  • Deutsch
  • Abmessung: 230mm
  • Gewicht: 407g
  • ISBN-13: 9783775257367
  • ISBN-10: 3775257365
  • Artikelnr.: 13804116
Autorenporträt
Arno Borst (1925-2007) war neben Johan Huizinga, Marc Bloch und Georges Duby einer der wirkungsmächtigsten europäischen Historiker des 20. Jahrhunderts. Der vielfach ausgezeichnete Gelehrte wirkte an der neugegründeten Universität Konstanz bis zu seiner Emeritierung 1990 von seinem Lehrstuhl für mittlere und neuere Geschichte aus.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 07.03.2005

Die gezählten Tage des Reiches
Arno Borst und der Streit um den karolingischen Kalender

Elf Jahre lang habe ihn an den Schreibtisch gefesselt "und vom Marktplatz ferngehalten", was er nun endlich als fertiges Werk - 1344 großformatige Seiten in drei Bänden - der Wissenschaft übergebe. Als Arno Borst, emeritierter Professor für Geschichte des Mittelalters in Konstanz, dies im Dezember 2000 notierte, fügte er an, es sei der "Widerwille gegen Zerstreuung des verdinglichten Daseins" gewesen, der ihn statt zur Gesellschaft der lebenden Zeitgenossen zur Kommunikation mit Toten, mit gelehrten Männern des achten bis zwölften Jahrhunderts, getrieben habe.

Das Ergebnis seiner ebenso asketischen wie radikal beglückenden Forschungsleistung war eine Pioniertat sondergleichen, die erste Edition des sogenannten karolingischen Reichskalenders von seiner Erfindung unter Karl dem Großen an bis zu seiner letzten Variante im hohen Mittelalter (2001).

Die Textausgabe in den Monumenta Germaniae Historica stand aber nicht einmal isoliert. Borst begleitete sie durch mehrere gelehrte Abhandlungen, darunter eine fast tausendseitige Monographie über die karolingische Kalenderreform (1998). Seine sensationelle Entdeckung, daß im "Prototyp" des Reichskalenders von 789 die Naturgeschichte des älteren Plinius benutzt sei, der einst seinem Forscherdrang und seiner Hilfsbereitschaft beim Ausbruch des Vesuvs (79 nach Christus) zum Opfer gefallen war, ist ihm schon 1995 eine umfangreiche Studie über "Plinius und seine Leser im Zeitalter des Pergaments" wert gewesen.

Den meisten seiner Zunftgenossen müßte das vielgestaltige Werk als Vollendung und Krönung einer überaus produktiven und erfolgreichen Historikerexistenz gelten, nicht so dem achtzigjährigen Geschichtsforscher am Bodensee. Schon bereitet Borst eine Ausgabe der wichtigsten Streitschriften zur Computistik, also zur Zeitrechnung, aus dem achten Jahrhundert vor; und gewiß wird er noch, wenn ihm dazu Gelegenheit bleibt, zu den Werken des Mönchs Hermann des Lahmen zurückkehren wollen, der ihm als Person und Wissenschaftler schon seit Jahrzehnten die Wege gewiesen hat. Denn der seit seiner frühesten Lebenszeit spastisch gelähmte, an Sessel und Tisch gebannte Mathematiker, Astronom, Musiktheoretiker und Poet hatte bis zu seinem frühen Tod 1054 im Kloster Reichenau, Konstanz benachbart, ohne Anschauung und nur über Bücher gebeugt, Zeitrechnung und Weltgeschichte auf eine neue Grundlage gestellt. Hermanns Forscherschicksal resümierte Borst schon 1984: "Seinen Fund überließ er denen, die es wissen wollten, und schlug sich weiter mit Irrtümern herum, jetzt mit solchen, die er inzwischen selbst begangen hatte. Bevor er mit seiner unerbittlichen Genauigkeit zu Rande kam, starb er, und was nicht vollendet war, wurde vergessen."

Ganz soviel Gelassenheit konnte Borst seinem Vorbild aber doch nicht abgewinnen. Falls er selbst nicht vollbringen könnte, was ihm vorschwebt, möchte er das Begonnene doch durch andere weitergeführt wissen. Der vielgerühmte und mit höchsten Auszeichnungen geehrte Historiker vermachte schon 1996 ein opulentes Preisgeld einer nach ihm benannten Stiftung, um Studien und Editionen "mittelalterlicher Schriftquellen hauptsächlich zur Zeitrechnung und Zeitmessung" anzuregen und zu ermöglichen.

Natürlich war es nicht in erster Linie die Freude des Philologen an der Weitergabe wichtiger Texte durch die Jahrhunderte oder das beklemmende Glück des Pedanten an der wenig besagenden Variante im weitverzweigten Dickicht handschriftlicher Überlieferung, die die entsagungsvolle Arbeit am karolingischen Reichskalender befeuert hatte. Vielmehr war Borst von einer umstürzenden historischen Erkenntnis durchdrungen: Seiner Überzeugung nach hatte nämlich Karl der Große in der Geschichte der Zeitdeutung und Zeitenordnung eine Wende bewirkt, "indem er den Kalendertag zum Hauptmaß erfahrener Gegenwart für Sterbliche machte".

Ein anthropologischer Entwurf

Im Unterschied zu unseren Kalendern, die bestimmten Jahren zugeordnet sind und meist mit diesen vergehen, war der mittelalterliche Kalender zum ständigen Gebrauch bestimmt. Er diente zur Kenntnis zyklisch wiederkehrender Gedenktage, vor allem des Kirchenjahres, konnte aber auch "profane" Daten aufnehmen, Merktage der Astronomie und der Magie, des bäuerlichen Lebens, auch der Biographie jedes Benutzers. Durch diese Integration verschiedener Wirklichkeiten diente der Kalender zur Orientierung über die Vergangenheit, aber auch über die Zukunft. Borsts geniale Einsicht war es deshalb, daß Kalender nicht in erster Linie chronologische Zählwerke, sondern anthropologische Entwürfe seien.

Um zu der tabellarischen Textform des Kalenders zu gelangen, mußte man Zeitrechnung beherrschen, also mit der Erkenntnis umgehen lernen, daß weder das Sonnenjahr noch der Mondzyklus eine bruchlose Anzahl von Tagen ergeben und überdies noch untereinander abgestimmt werden müssen. Dazu dienen in mittelalterlichen Kalendern eine Reihe von Zahlzeichen und Buchstaben, und auf ihrer entscheidenden Einheit, der je einen Zeile für einen Kalendertag, können darüber hinaus Heiligenfeste oder andere Ereignisse der natürlichen und menschlichen Geschichte untergebracht werden. Für Karls Riesenreich war eine Übereinkunft über die Tageszählung und -bezeichnung unabdingbar, deshalb gehörte das Studium des Computus und die Herstellung entsprechender Kalender zu den Reformaufgaben, die der große Frankenherrscher seinen Gelehrten 789 vorgeschrieben hat. Das Karolingerreich war aber kein Zentralstaat, in dem ein Musterexemplar am Hofe entstehen und von hier aus flächendeckend verbreitet werden konnte. Trotzdem glaubt Borst dem erfolgreichsten Kalender auf die Spur gekommen zu sein, der in der Abtei Lorsch noch im Jahr 789 entstanden sein soll.

Die Vorlage soll aus Rom stammen und über angelsächsische Klöster, wo sie mit weiteren Daten angereichert wurde, an den Mittelrhein gelangt sein. Die entscheidende fränkische Innovation sei die Verbindung von natürlichen mit kultischen und historischen Daten gewesen, die in einer jeweils dreiteiligen Gliederung der Tageszeilen im Kalender ihren Platz fanden. Über die geistlichen oder auch monastischen Grundlagen wies der Reichskalender vor allem dadurch hinaus, daß er Ereignisse der gewöhnlichen Lebenswelt aufzunehmen animierte. Im Lorscher "Prototyp" des Reichskalenders ist so noch nachträglich der Geburtstag Karls des Großen zum 2. April eingetragen worden. Von jetzt an setzten sich die Gedenkfeiern für Lebende wieder durch, die man zwar aus der Antike kennt, die aber in der Merowingerzeit verpönt gewesen waren: Die sakral bestimmte Tradition der christlichen Zeitrechnung wurde durch Weltzuwendung erweitert. Der Lorscher Kalender selbst und seine 63 Kopien aus verschiedenen Teilen des Reiches bildeten die Grundlage für Borsts Edition, zu der aber auch noch Hunderte von weiteren Codices mit abgeleiteten Texten herangezogen wurden.

Rütteln an Karl dem Großen

Computistik und Kalenderkritik verlangen ungewöhnliche wissenschaftliche Kenntnisse, und wer sie an mittelalterlichen Autoren und Texten betreibt, verlernt schnell die törichten Vorurteile über die dunklen Jahrhunderte vor der neuen Zeit. Weil aber die Ansprüche so hoch sind, konnte Borst kaum mit einer raschen Resonanz auf seine Arbeiten rechnen. Um so mehr hat ihn der rasche Widerspruch gegen seine Entdeckung des Reichskalenders erstaunt, der unabhängig voneinander sogleich in Amerika, England und bei einer jungen deutschen Mediävistin laut geworden ist. Hier wird zwar ebenso eine grundlegende Kalenderreform im achten Jahrhundert angenommen, diese aber nicht auf Karl den Großen zurückgeführt, sondern eine oder zwei Generationen früher datiert. Insbesondere die These des Harvard-Professors Paul Meyvaert hat Borst herausgefordert, daß sein "Reichskalender" tatsächlich auf den angelsächsischen Computisten und Mönch Beda Venerabilis (gestorben 735) zurückgehe.

Arno Borst hat die Herausforderung sofort angenommen und seinen Opponenten, wie es seine Art ist, gleich mit einem neuen Buch geantwortet. In nobler Manier und mit jener "geschwisterlichen Verbundenheit der Schaffenden", die sie - nach Max Frisch - vor dem Sumpf der Selbstgerechtigkeit bewahrt, in den Rezensenten leicht abzusinken pflegen, hat er jedes neue Argument sorgsam abgewogen. Auch wenn er sich manche Detailkorrekturen gefallen ließ, sieht er seine These und Rekonstruktion im ganzen als unerschüttert an. Von einem vollkommen schlüssigen Beweisgang kann tatsächlich auf keiner Seite die Rede sein, so daß die unterschiedlichen Datierungen vorerst nebeneinander bestehenbleiben.

Entscheidend ist letztlich, und Borst hat dies auch gar nicht verhehlt, wie die nach Hunderten zählende Kalenderüberlieferung des frühen Mittelalters historisch eingeordnet wird. Soll einem gelehrten Mönch in Northumbrien die Durchsetzung des Reformkalenders zugeschrieben werden oder Karl, "dem Imperialisten"?

Den Hauptakzent legt Borst in seinem neuen Buch aber gar nicht auf die Frage der richtigen Rekonstruktion verlorener Geschichtszeugnisse. Vielmehr wirft er Meyvaert und den anderen vor, sie verfolgten einen ganz falschen Ansatz bei ihrem Verständnis der Kalendarien. Sie suchten nämlich nach dem "Archetyp" der Überlieferung, so daß sich die Gesamtdeutung nach den ursprünglichen Entstehungsbedingungen richten müsse; er hingegen nenne seinen ersten Überlieferungsträger nur "Prototyp" und konzentriere sich weniger auf einen Ursprung als auf die Frage, was aus den Anfängen geworden sei.

Jeder Kalender ist seinem anthropologischen Verstehensansatz nach ein Individuum, ein von älteren Vorlagen zwar abhängiges, aber doch auch je besonderes Zeugnis für den Lebensentwurf des Schreibers beziehungsweise seines Nutzers. Diesem Deutungsansatz, mit dem sich Borst zu Recht auf Marc Bloch ("der größte Mittelalterhistoriker des zwanzigsten Jahrhunderts") bezieht, kann man nur lebhaft zustimmen. Andererseits hat Borst dem von ihm kritisierten Standpunkt aber auch Vorschub geleistet. Hätte er nämlich die eigene Einsicht schon in seiner Edition umgesetzt, dann hätte er wohl nicht alle herangezogenen Überlieferungen in einem einzigen Kalendertext vereinigt, sondern in separaten Drucken mehrere Fassungen (gewiß nicht alle) präsentiert.

MICHAEL BORGOLTE

Arno Borst: "Der Streit um den karolingischen Kalender". Monumenta Germaniae Historica. Studien und Texte, Band 36. Hahnsche Buchhandlung, Hannover 2004. XXVIII, 200 S., geb., 25,- [Euro].

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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Beeindruckt zeigt sich Rezensent Michael Borgolte von Arno Borsts Antwort auf diverse Einwände gegen seine Forschung über den Reichskalender. Die von mehreren gelehrten Abhandlungen begeleitete Edition des karolingischen Reichskalenders von seiner Erfindung unter Karl dem Großen an bis zu seiner letzten Variante im hohen Mittelalter würdigt Borgolte als eine "Pioniertat sondergleichen". Dass Karl der Große in der Geschichte der Zeitdeutung und Zeitenordnung eine Wende bewirkt habe und Kalender nicht in erster Linie chronologische Zählwerke, sondern anthropologische Entwürfe seien, nennt Borgolte eine "geniale Einsicht". In vorliegendem Buch gehe Borst auf Einwände gegen seine Arbeiten ein, etwa den des Harvard-Professors Paul Meyvaert, nach dem der "Reichskalender" auf den angelsächsischen Mönch Beda Venerabilis zurückgeht. Borst wiege "in nobler Manier" jedes neue Argument sorgsam ab. "Auch wenn er sich manche Detailkorrekturen gefallen ließ", so der Rezensent, "sieht er seine These und Rekonstruktion im Ganzen als unerschüttert an".

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