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Sieglindes Geschichte wäre eine andere, wenn sie nicht in der DDR aufgewachsen wäre. Aber nicht die besonderen Verhältnisse sind die Hauptsache in diesem Roman, sondern Sieglinde selbst in ihrer forschen Art, den Dingen auf den Grund zu gehen. Und weil sie Fragen hat, stößt sie auf Menschen, die ihr helfen, sich zu orientieren - über die deutsche Vergangenheit, über Menschlichkeit und in Bezug auf ihr eigenes künftiges Leben.

Produktbeschreibung
Sieglindes Geschichte wäre eine andere, wenn sie nicht in der DDR aufgewachsen wäre. Aber nicht die besonderen Verhältnisse sind die Hauptsache in diesem Roman, sondern Sieglinde selbst in ihrer forschen Art, den Dingen auf den Grund zu gehen. Und weil sie Fragen hat, stößt sie auf Menschen, die ihr helfen, sich zu orientieren - über die deutsche Vergangenheit, über Menschlichkeit und in Bezug auf ihr eigenes künftiges Leben.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 13.04.2002

Nur nicht zu den Jungen Pionieren
Sigrun Caspers lebendiger Roman einer DDR-Jugend

Vieles mag autobiographisch sein. Sigrun Casper, 1939 in Kleinmachnow bei Berlin geboren, ist wie Sieglinde, die kindliche Erzählerin ihres Romans, mit den Spuren des Krieges aufgewachsen. Sie hat erlebt, wie Bomben einschlugen und Nachbarn mitsamt ihrem Dackel umkamen und wie eines Tages die Sirenen schwiegen und niemand sich so recht über den ersehnten Frieden freuen konnte, weil Frauen sich vor Russen fürchten mußten, die eigenen Männer noch in Gefangenschaft waren und der Hunger immer schlimmer wurde. Was nimmt ein Kind wahr und was kann es schon begreifen von der Vergangenheit, die wie eine unverheilte Wunde weiter schwärt, und von der Gegenwart, in der auch die Erwachsenen verunsichert sind? Sieglinde wächst im Arbeiter-und Bauern-Staat auf. Er spaltet nicht nur ihre Familie in zwei Lager.

Sigrun Casper hat sich in die Anfangszeit des sozialistischen Deutschlands, bevor die Mauer gebaut wurde, zurückversetzt. Mit ihrer klaren, schnörkellosen Sprache kann sie bereits Kindern im Grundschulalter vermitteln, wie es damals war. Sie bietet ihnen Teilstücke von lebendigen Bildern und Szenen an. Wie ein Puzzle lassen die sich allmählich zu einem Ganzen zusammenfügen. Das ist gelegentlich belehrend, meist aber regelrecht spannend, weil ihre Hauptfigur Sieglinde, ein aufgewecktes Mädchen, mit dem sich Gleichaltrige mühelos identifizieren können, beharrlich Zusammenhänge sucht und aus ungenauen Andeutungen einleuchtende und manchmal auch komische Schlußfolgerungen zieht.

Sie besitzt außerdem eine verblüffende Fähigkeit: Auf Anhieb kann sie schwierigste Wörter rückwärts lesen. Die Perspektive verändert sich dabei und selbstverständlich auch der Wortsinn. Sumsilaizos bleibt zwar vorerst noch ein Rätsel, aber hört es sich nicht interessanter an als Sozialismus? Was ein Fosoleiv, ein Vielosof in Sieglindes Schreibweise, sein mag, ist fast genauso schwer herauszufinden, denn jeder hat eine andere Erklärung. Ein Vielosof ist auf jeden Fall nicht nur wegen seiner schwarzen Limousine, seiner Brille und seiner Baskenmütze eine geheimnisvolle, faszinierende Gestalt in Kleinmachnow.

Schauplatz von Sigrun Caspers Roman ist ein stilles Wohnviertel, wo die Nachbarn sich grüßen. Die kleinen Häuser und Gärten haben den Krieg leidlich überstanden. Doch keiner hat Zeit, die Einschußlöcher in den Hauswänden auszubessern, und von Hitler, der ein Wahnsinniger gewesen sein soll, will niemand sprechen. Sieglinde bekommt zu Haus auf die meisten ihrer Fragen nur unbefriedigende Antworten, deshalb reimt sie sich manches allein zusammen oder sucht sich andere Informanten. Den Standpunkt der Eltern und der beiden großen Brüder - "dafür bist du noch zu klein" - vertreten zum Glück nicht alle.

Frau Kühn ist ihre ergiebigste Auskunftsquelle. Zu der alten Frau, die in einem ausgedienten Zirkuswagen in einer Rumpelecke der Straße haust, geht Sieglinde oft, auch wenn sie keine zerrissene Bettwäsche hinzubringen hat. Frau Kühn sitzt an ihrer Nähmaschine, flickt und bessert aus und erzählt dabei gern von früher, von ihrem Geschäft, an dem sie nicht wie fast alle anderen das Schild "Juden raus" angebracht hatte. Deshalb wurde sie gezwungen, es zu schließen. Was Juden sind, ist einfach zu erklären, nämlich "Menschen wie wir". Aber warum hat Hitler sie dann als Feinde bezeichnet, die vernichtet werden müßten? Was bedeutet das überhaupt? Darauf gibt es zu Hause wieder keine Antwort, weil der Vater, noch mitgenommen von vierjähriger Kriegsgefangenschaft, sich aufregt und anfängt zu weinen. Hitler, ein Mörder, ein Verbrecher, ein Kriegstreiber, solche schweren Wörter hört das Kind und wagt nicht weiter zu fragen. Frau Kühn versucht ihr zu erklären, warum sich fast ein ganzes Volk verführen ließ: "Er hat den Leuten ein besseres Leben versprochen."

Was in Konzentrationslagern mit den Juden geschah, erfährt Sieglinde von ihrer Freundin Erika, deren Vater, ein Ingenieur, nach dem Krieg eines Tages von Russen abgeholt wurde. Daß Menschen umgebracht wurden, "bloß weil sie Juden waren, so etwas muß ein Kind wissen", findet Sieglinde. Vielleicht kann ihr der geheimnisvolle Vielosof, der Bücher schreibt, Gedankengebäude baut und über das Leben gründlicher nachdenkt als andere, mehr sagen. Auf jeden Fall hat er für sie gute Ratschläge, zum Beispiel wie sie im Schulchor mitsingen kann, ohne zu den Jungen Pionieren gehen zu müssen. Denn sie will nicht, daß andere bestimmen, was sie tun soll. "Seid bereit!" brüllen die Pioniere als Gruß. Niemand kann Sieglinde dazu zwingen mitzubrüllen. Wozu soll sie eigentlich bereit sein?

Der älteste Bruder Helmut versucht es ihr vergeblich zu erklären. Er studiert Planökonomie in Karlshorst, "wo nur die Besten hinkommen". Darauf sind die Eltern stolz, obwohl sie dem Arbeiter-und Bauern-Staat skeptisch gegenüberstehen. Der jüngere Sohn Frank darf deshalb auf ein Gymnasium im Westen gehen und über die idealistischen Thesen seines Bruders spöttisch lächeln.

Den Westen kennt Sieglinde von Besuchen bei der Tante in Steglitz. Bunter und heller ist es dort, und in den Schaufenstern stehen Lederschuhe mit Kreppsohlen, die sie sich sehnlich wünscht. Daß der Schulfreund Bernd mit seiner Mutter nach Lichterfelde zieht, "so lange es noch möglich ist", macht sie nachdenklich und traurig. Sieglinde lernt Schicksale kennen, die exemplarisch sind für diese Zeit.

Sigrun Casper ist es gut gelungen, deutsche Wirklichkeit aus der Perspektive eines Kindes zu beschreiben, das im Osten des geteilten Landes aufwuchs. Der Schlußsatz bestätigt noch einmal die Authentizität: "Sieglinde V. ging am 30. Dezember 1961 mit einem geliehenen Schweizer Paß über den Grenzübergang Kochstraße von Ost- nach Westberlin." Genauso ist auch Sigrun Casper in den Westen gelangt. Sie war damals zweiundzwanzig Jahre alt, hatte eine Ausbildung als Industrienäherin und keine Aussicht auf einen Studienplatz. In Westberlin schlug sie sich mit verschiedenen Berufen durch, ehe sie Kunst und Sonderpädagogik studieren konnte. Mit "Sumsilaizos" bringt sie uns nun die unmittelbare Nachkriegszeit in der DDR so nahe, wie man es selten lesen kann.

MARIA FRISÉ

Sigrun Casper: "Sumsilaizos". Verlag Freies Geistesleben, Stuttgart 2002. 149 S., geb., 13,40 . Ab 12 J.

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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Sumsilaizos heißt Sozialismus, jedenfalls wenn man das Wort rückwärts liest. Rezensentin Maria Frisé hat dies mit großen Vergnügen getan, und das dazugehörige Buch ebenso. Denn Autorin Sigrun Casper bringt die unmittelbare Nachkriegszeit in der DDR so nahe, wie man es der Rezensentin zufolge selten lesen kann. Mit ihrer "klaren, schnörkellosen Sprache" könne sie bereits Kindern im Grundschulalter vermitteln, "wie es damals war". Sie biete Teilstücke von lebenden Bildern und Szenen an. Wie ein Puzzle würden die sich allmählich zu einem ganzen zusammenfügen. Das Spektrum der angesprochenen Themen reicht vom Krieg, dem Schicksal der Juden bis zu den Jungen Pionieren und dem Mauerbau. Dass das Buch nicht allzu belehrend ausfällt, verdankt es nach Ansicht der Rezensentin seiner aufgeweckten Protagonistin, dem Mädchen Sieglinde. Dies Kind besitzt, erfährt man auch, die verblüffende Fähigkeit, auf Anhieb schwierigen Wörter rückwärts lesen zu können. Sozialismus zum Beispiel.

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