Marktplatzangebote
2 Angebote ab € 25,00 €
Produktdetails
  • Verlag: Brill Fink / Wilhelm Fink Verlag
  • Artikelnr. des Verlages: 1884168
  • Seitenzahl: 430
  • Deutsch
  • Abmessung: 233mm x 157mm
  • Gewicht: 655g
  • ISBN-13: 9783770536634
  • ISBN-10: 3770536630
  • Artikelnr.: 10451002
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 27.09.2003

Das Tier, das versprechen darf
Tobias Klass versucht, ein Rätsel der Moralphilosophie zu lösen
Es gibt Sätze, die es wert sind, ihnen lange nachzudenken. Sie fordern durch einen Sinnreichtum heraus, der zu wiederholten Klärungsversuchen einlädt, ohne zu einem abschließenden Urteil gelangen zu können. Oft sind es philosophische Sätze, die weder streng sachhaltig und empirisch überprüfbar sind, noch den verführerischen Reiz poetischer Imaginationen besitzen. Sie liegen dazwischen, nicht ohne Weltbezug und Artistik, aber sich darin nicht erschöpfend. Mit einem solchen Satz beginnt Nietzsches Zweite Abhandlung seiner „Genealogie der Moral” (1887), in der es um die Herausbildung von Verantwortlichkeit geht, um die privilegierte Fähigkeit des Menschen, eine Verpflichtung einzugehen: „Ein Tier heranzüchten, das versprechen darf – ist das nicht gerade jene paradoxe Aufgabe selbst, welche sich die Natur in Hinsicht auf den Menschen gestellt hat? ist es nicht das eigentliche Problem vom Menschen?”
Das scheint auf den ersten Blick nur eine rhetorische Frage zu sein. Aber was ist da eigentlich gefragt und gesagt worden? Was hat das Problem vom Menschen mit Tierzüchtung zu tun? Welche paradoxe Aufgabe hat sich die Natur selbst gestellt? Wieso darf das Tier Mensch versprechen, was doch auf etwas anderes zielt als auf das bloße Versprechen-Können? Und darf denn jeder Mensch versprechen oder nur derjenige, der als souveränes Individuum zu den Zuverlässigen gehört, deren Wort wirklich etwas gilt und die allein Vertrauen verdienen? Man weiß, dass Nietzsche gern Fußtritte verteilte für die „schmächtigen Windhunde”, welche versprechen, ohne es zu dürfen, und dass er seine verbale Zuchtrute bereit hielt für die „Lügner”, die ihr Wort brechen in dem Augenblick, in dem sie es geben.
Fünf Jahre hat Tobias Nikolaus Klass an seiner philosophischen Doktorarbeit geschrieben, an deren Anfang Nietzsches in mehrfacher Hinsicht rätselhafte Frage steht. Zunächst verwirrt und überrascht durch dessen eigenwillige philosophische Rhetorik, versprach er sich eine grundlegende Klärung des Verhältnisses zwischen Sprache und sozialer Wirklichkeit, wenn es ihm gelänge, dem Geheimnis des Versprechens auf die Spur zu kommen. Nietzsches Frage lockte ihn in ein gedankliches Labyrinth, das immer komplexer wurde. So kam auf langen und verwickelten Wegen eine umfangreiche philosophische Untersuchung zustande, die auf mehr als 400 eng bedruckten Seiten mit vielen Fußnoten eine akademische Hochleistung vorführt.
Auf sein Wort ist kein Verlass
Es hätte eine lesbare Arbeit werden können, wenn Klass sich auf die Fragen konzentriert hätte, die seine Neugier weckten. Nietzsches Sätze hätten genügend Sprengstoff geboten, um nicht nur die moralische Tiefendimension der Verantwortlichkeit als fragwürdigstes Problem des Menschen zu entfalten. Sie hätten auch zu einer philosophischen Erhellung dessen dienen können, was uns von politischen und religiösen Windhunden und Lügnern versprochen wird: blühende Landschaften und ständige Wachstumsraten, bedingungslose Solidarität und militärische Teilnahmslosigkeit, die Zerstörung der Achse des Bösen oder das Glück im himmlischen Jenseits. Politiker sollen handeln, aber sie dürfen nicht versprechen, ließe sich mit Nietzsche begründen. Denn es fehlt ihnen die Souveränität dessen, „der sein Wort gibt als etwas, auf das Verlass ist”.
Nietzsches Sätze hätten Klass auch als Leitfaden durch das Labyrinth dienen können, in das sie ihn gelockt haben. Statt dessen las er alles zusammen, was ihm über das Phänomen des Versprechens als philosophisches Problem begegnete. Immer neue Gedanken, Theorien, Hypothesen, Methoden und Hinweise lernte er während seiner Studienaufenthalte in Bochum, Hamburg, Paris und Berkeley kennen, und zunehmend sah er sich in eine überwältigende Vielfalt eingesponnen. Um in sie „ein wenig Ordnung zu bekommen”, hat sich Klass dazu entschieden, zunächst ausführlich die geistige Entwicklung des Berkeley-Philosophen John Searle nachzuzeichnen, von dessen Sprechakt-Theorie (1969) über die Intentionalitäts-Philosophie (1983) bis zur Sozialontologie seines Spätwerks (1995). Die moralphilosophische Leerstelle in Searles Theorien wurde dann durch David Humes notwendige Fiktion des „moral sense” gefüllt. Und schließlich wurde Nietzsche „als Dritter im Bunde herbeizitiert”, dessen Genealogie-Konzept, Moralvorstellung, Sprachphilosophie und „Rhetorik des Sozialen” breit entfaltet werden, wobei Klass eine „Distanz haltende Art des Umgangs” pflegte. Er wehrte sich „gegen Nietzsches Versuch, textuell auf seine Leser überzugreifen”.
Es war eine lange Reise durch Texte, Doktorandenkolloquien, Graduiertenkollegs und Universitäten. Am Ende steht eine voluminöse Dissertation, hinter der ein kluger Kopf steckt. Man erfährt viel über Searles, Humes und Nietzsches Philosophie. Das Versprechen allerdings, dessen Geheimnis Klass auf der Spur sein wollte, hat er dabei über weite Strecken aus den Augen verloren. Doch diese Abwege schmälern nicht den Reiz, nach der Lektüre vor allem wieder über Nietzsches Übergriffen nachdenken zu wollen.
MANFRED GEIER
TOBIAS NIKOLAUS KLASS: Das Versprechen. Grundzüge einer Rhetorik des Sozialen nach Searle, Hume und Nietzsche. Wilhelm Fink Verlag, München 2002. 430 Seiten, 58 Euro.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
…mehr

Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension

Eine "akademische Hochleistung" erblickt Rezensent Manfred Geier in Tobias Klass' umfangreicher Dissertation über die Frage nach dem Verhältnis zwischen Sprache und sozialer Wirklichkeit. Leicht lesbar findet Geier die philosophische Untersuchung gleichwohl nicht. Das liegt seines Erachtens daran, dass sich Klass nicht auf die Fragen konzentriert, die ihn ursprünglich interessierten, auf Nietzsches' Fragen nach dem Tier, das versprechen kann etwa. "Nietzsches Sätze hätten Klass auch als Leitfaden durch das Labyrinth dienen können, in das sie ihn gelockt haben", hält Geier fest. Statt dessen habe Klass alles zusammengelesen, was ihm über das Phänomen des Versprechens begegnete. So widme er sich zunächst ausführlich der geistigen Entwicklung des Berkeley-Philosophen John Searle, von dessen Sprechakt-Theorie über die Intentionalitäts-Philosophie bis zur Sozialontologie seines Spätwerks, um dann auf David Humes Theorie des "moral sense" einzugehen und schließlich Nietzsches Genealogie-Konzept, seine Moralvorstellung, Sprachphilosophie und "Rhetorik des Sozialen" zu entfalten. Zum Bedauern des Rezensenten verliert er dabei sein eigentliches Thema, das Versprechen, über weite Strecken aus den Augen. Nichtsdestoweniger gibt sich Geier versöhnlich: "diese Abwege schmälern nicht den Reiz, nach der Lektüre vor allem wieder über Nietzsches Übergriffen nachdenken zu wollen".

© Perlentaucher Medien GmbH
…mehr