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Produktdetails
  • Verlag: DuMont Buchverlag
  • 2000.
  • Seitenzahl: 219
  • Deutsch
  • Abmessung: 215mm
  • Gewicht: 396g
  • ISBN-13: 9783770153060
  • ISBN-10: 3770153065
  • Artikelnr.: 08616158
Autorenporträt
Arnold Stadler wurde 1954 in Meßkirch geboren und wuchs auf einem Bauernhof im Nachbardorf Rast auf. Er studierte katholische Theologie in München und Rom, anschließend Germanistik in Freiburg und Köln. Seit 1995 lebt er überwiegend in Rast. 1989 erhielt er den Förderungspreis der Jürgen-Ponto-Stiftung. Es folgten zahlreiche weitere Preise und Stipendien. 1999 wurden ihm der Alemannische Literaturpreis und der Georg-Büchner-Preis zugesprochen. Arnold Stadler veröffentlichte bereits einen Gedichtband und mehrere Romane. 2009 erhielt er den Kleist-Preis, im Jahr 2010 den Johann-Peter-Hebel-Preis. 2014 wurde ihm der Bodensee-Literaturpreis für sein bisheriges literarisches Gesamtwerk verliehen.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 20.01.2001

Fast so gut wie ein Schwarzwaldhof
Im Vorgarten der Erkenntnis: Arnold Stadlers Heimaterkundigungen · Von Thomas Wirtz

Nur wenige Schriftsteller halten es bei der Lektüre mit V.S. Naipaul. Auf die Frage, wie er eine der großen Erzählungen aus dem neunzehnten Jahrhundert beurteile, entgegnete der langjährige Anwärter auf den Nobelpreis freimütig, er kenne sie nicht - schließlich schreibe er selbst. Dieses Fremdeln scheint eine Ausnahme. Die meisten Autoren lassen sich vom Lesen nicht abhalten, sind dafür aber in ihrer Verträglichkeitsprüfung äußerst bestimmt. Zwei Typen lassen sich unterscheiden. Der eine - man kann ihn den "Fremdgänger" nennen - stürzt sich mit Begeisterung in unbekanntes Terrain. Je exotischer ihn ein Buch anmutet, je unähnlicher der erste Satz seiner eigenen Schreibhaltung ist, desto begeisterter kommentiert er seine Entdeckung. Jeder fremde Buchrücken verspricht ein Abenteuer, das endlich bestanden werden muß; jedes Buch ist die Eroberung eines fernen Kontinents. Die fremden Zeilen gleichen Pfaden durch einen erschreckend unvertrauten Urwald, der so gar nicht dem heimischen Vorgarten ähnelt.

Dieser Auswanderer kreuzt seinen Weg mit dem Heimkehrer. Der behält jedes Buch nur dann in Händen, wenn ihm eine vertraute Welt darin begegnet. Seine Lektüre sucht Wahlverwandtschaft, möchte von einem Gleichklang berührt werden, der sich eigener Erfahrung schmerzlos einfügt. Das ganz und gar Fremde lockt nicht mit Versprechung, sondern droht durch Unverständlichkeit: Es wäre ein Land, das den Lesereisenden krank machte. Diese gesuchte Ähnlichkeit aber ist mit dumpfem Einverständnis nicht zu verwechseln. Vielmehr bestätigt es das Gefühl, dort draußen gebe es noch andere Einzelgänger, mit denen man gemeinsam ganz allein bei sich bleiben kann.

Zweimal schon hatte der Schriftsteller Arnold Stadler die Atlantiküberquerung auf sich genommen, war aber von wechselnden Widrigkeiten - einer Überschwemmung und dem vergessenen Führerschein - jedesmal zurückgeschlagen worden. Dann, beim dritten Mal, war das Reisegepäck vollständig, und auch der Widerstand der Witterung ließ nach: Es war lediglich der heißeste Tag in Wisconsin seit Beginn der meteorologischen Messungen, doch berührte das den Fahrer in seinem wohlklimatisierten Wagen nicht weiter. Und so fuhr er durch das verschwitzte, verheißene Land, auf der Suche nach Herkunftsspuren des Malers Mark Tobey, der in dieser menschenleeren, aber keineswegs gottverlassenen Gegend das Sehen gelernt hatte. Noch nie hatte der Schriftsteller dieses weite Land besuchen können, dessen Namen nach hungrigen Rinderherden und durstigen Viehtreiberkehlen klang; nur hier durfte der Mississippi an solch einem unaussprechlichen Ort wie Trempealeau vorbeifließen.

Und was er sah, verschlug ihm den Atem, berauschte ihn durch mildgetönte Windschutzscheiben mit seiner Unberührtheit. "So mußte es", dachte der Weitgereiste im Angesicht dieser scheinbar unzerstörten Welt, "auch bei mir zu Hause am Bodensee ausgesehen haben". Und tauchten in der Ferne imitten der endlosen Weizenfelder versprengte und wie vom Himmel herabgefallene Farmen auf, die Verstädterung nur vom Hörensagen kannten und in ihrer Einsamkeit so groß waren wie bundesdeutsche Regierungsbezirke, "so gefielen sie mir auch fast so gut wie ein Schwarzwaldhof". Endlich war der Schriftsteller Arnold Stadler nach zwei gescheiterten Versuchen angekommen. Tausende Kilometer hatten ihn der Heimat näher gebracht, der Sprung über den Atlantik ging auch zurück in ein noch unzerstörtes Paradies, das mit Himmel und Wasser immer dem Bodensee gleichen mußte. Daß Mark Tobey in dieser Gegend nichts zurückgelassen hatte, war nun gleichgültig: Die Wahlverwandtschaft war durch gleiche Herkunft bewiesen, die Vorliebe des Wort- für den Farbsetzer endlich ein gelöster Fall.

Die Aufsatzsammlung "Erbarmen für das Rasiermesser" spricht, so heißt es im Untertitel, "über Literatur, Menschen und Orte". Das mag richtig sein, ist aber mit seiner Vielzahl irreführend. Denn Arnold Stadler ist ein Reiseführer, der aus fremden Gegenden und Bibliotheken mit behutsamer Hartnäckigkeit nur das Bekannte herausgreift. Alterität, diese altkluge Parole aus der universitären Postkolonialwarenhandlung, ist hier eine schöne Unbekannte. Zweiundzwanzig Beiträge versammelt der Band: Er bereist Zisterzienserkloster im Hinterland der Côte d'Azur, wandelt durch vatikanische Bankhallen, durchstreift Hand Benders "Tabakfeld" im Gedicht - und immer sieht die Welt aus wie im "Fleckviehgau", dort, wo Heidegger Kants Großmutter hätte treffen können, wären Sein und Zeiten andere gewesen. Von dort stammt, wie man seit seinem ersten und wohl immer noch schönsten Buch "Ich war einmal" (1989) nicht mehr vegessen hat, der Schriftsteller Arnold Stadler. Und alles, was ihm in der angeblich großen weiten Welt begegnet, muß ihn an diese alemannische Gegend erinnern, damit er es bemerkt. So ist ihm alles eins und gerade deshalb das Gegenteil von gleichgültig. Ein bißchen erinnert dieser Kleinweltenreisende an Till Eulenspiegel, der mit einem Karren mitgebrachter Erde durchs feindliche Land fährt und so behaupten kann, fremden Boden nie betreten zu wollen.

Nun mag ein Auswanderer, gierig nach Exotismus und aufgeregt wie ein Nilquellenentdecker, gegen so viel Bodenständigkeit einwenden, ein solch permantes Heimattreffen sei doch eintönig. Er könnte auf einige Wiederholungen hinweisen, auf gleichlautende Herkunftsformeln etwa ("die Sprache war meine erste Fremdsprache"), die bei einem solchen Wortkundler wie Arnold Stadler tatsächlich auffallen. Hier leidet die Textsammlung ein wenig unter dem selbstauferlegten Gesetz, an all den schon einmal veröffentlichten Beiträgen kein zweites Mal Hand anlegen zu dürfen. Was aber zuvor weit verstreut erschien und die Zuhörer in Bergen-Enkheim oder Darmstadt nicht störte, weil sie von den Selbstzitaten nichts wußten, möchte der Leser nicht immer wieder vor Augen haben; so hätte er sich manche Streichung gewünscht. Doch auch die Rede ist ein Dokument, das man auf seine Echtheit prüfen darf; es erzählt dem Nachbarn noch einmal, was der schon lange weiß.

Falsch aber wäre es, von dem beschränkten Interesse Stadlers grundsätzlich auf eine Beschränktheit zu schließen. Dies ist der Fehler aller Auswanderer, die ihre Heimat der Langeweile beschuldigen und nur deshalb die Flucht in den weiten Raum antreten, weil sie im engen das genaue Sehen verlernt haben. Denn Stadler fotografiert nicht die Heimat, sondern vermißt ihre Abwesenheit: "Ich bin nur einer, der die Heimatlosigkeit beschreibt, ein Phänomenologe, der das, was vorschnell mit ,Heimat' bezeichnet wird, näher anschaut, vielleicht auch aus Anhänglichkeit. Doch ich bin alles, nur kein Nostalgiker. Ich sehe nur, was da ist. Ich sehe nur, daß etwas nicht mehr da ist." Und so ist der plötzlich mit behördlicher Genehmigung niedergewalzte Friedhof das Menetekel, mit dem "Heimat" ihm erscheint: Der Schriftsteller widmet sich dem Verlorenen, bleibt dem Vergessenen treu, hängt am Abwesenden fest. Darüber wird Arnold Stadler zu einem Heimatlosigkeitsschriftsteller, der die Zeiten so lange gegeneinanderreibt, bis daraus ein Satz zündet. Dieses Werk ist eine konzentrierte Rede, die sich nicht vom Kofferpacken ablenken läßt.

Was verloren ist, davon kann man erzählen. Das gilt für das untergegangene Troja und den Friedhof in Rast. Diese Bodenlosigkeit muß man mit Worten füllen, will man nicht hineinfallen. "So muß ich mir meine Welt erklären", sagt der Schriftsteller und setzt zu einem neuen Versuch an. Wer zwischen Playa del Ingles und Santa Monica schon alles gesehen hat, kann sich diesem Reiseführer in die Vergangenheit anvertrauen. Entdeckungen macht er auf jeden Fall.

Arnold Stadler: "Erbarmen mit dem Rasiermesser". Über Literatur, Menschen und Orte. Mit einem Nachwort von Peter Hamm. DuMont Buchverlag, Köln 2000. 219 S., geb., Abb., 34,- DM.

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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension

Angelika Overath zeigt sich in ihrer Kurzkritik enttäuscht von diesem Buch, das die verschiedensten Texte von Arnold Stadler versammelt. Sie glaubt, dass das Zustandekommen des Bandes dem Stadler 1999 verliehenen Büchnerpreis geschuldet ist, der die "Klammer" dieser sehr unterschiedlichen Texte bildet. Die Rezensentin stört, dass sie "offensichtlich nicht überarbeiteten" worden sind und sich dadurch Wiederholungen ergeben, die so manche Pointe durch ein "unfreiwilliges Echo" ruinieren. Überhaupt beurteilt sie zwar das "schöngedruckte" Buch als ein "Geschenk" für die Fans des Autors, doch für diejenigen, die mit dem Autor noch nicht vertraut sind, empfiehlt sie die früheren Romane, in denen der "Stadler-Ton" zu seinem Recht komme.

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