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  • Broschiertes Buch

Produktdetails
  • Verlag: DuMont Buchverlag
  • Seitenzahl: 335
  • Abmessung: 245mm
  • Gewicht: 796g
  • ISBN-13: 9783770150915
  • ISBN-10: 3770150910
  • Artikelnr.: 24299261
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 27.05.2000

Gilgi im Spiegelland
Die Weimarer Republik – Physiognomie einer Epoche
Michel Houellebecq versucht in seinen Prosatexten zu zeigen, dass seit etwa dreißig Jahren auch noch die letzten Refugien des Einzelnen – das private Glück und die Sexualität – den Gesetzen des wirtschaftlichen Wettbewerbs unterworfen sind. In seinen beiden Romanen gibt es eine Welt der Großeltern, ländlich, freundlich und irgendwie zwischenmenschlich, und in krassem Gegensatz dazu die neonkalte Gegenwart, eine von Liberalismus und egoistischer Selbstverwirklichung verwüstete Kampfzone.
Houellebecq würde staunen, wenn ihm einmal Irmgard Keuns Roman Gilgi – Eine von uns in die Hände fiele. Gilgi, die Stenotypistin, die da im Jahr 1931 spricht, dürfte in etwa so alt sein wie die gute Großmutter in Elementarteilchen. Und doch hat sie all die kalten Mechanismen, die der Franzose erst dem freien Markt der letzten dreißig Jahre zuschreibt, schon längst verinnerlicht. „Hat was Sympathisches, so’n Spiegel, wenn man zwanzig Jahre ist und ein faltenloses, klares Gesicht hat. Ein gepflegtes Gesicht. Gepflegt ist mehr als hübsch. Es ist eignes Verdienst. ”
Gilgi, die fiktionale Verkörperung der sogenannten Neuen Frau der Weimarer Republik, wirkt wie ein Produkt der Werbeindustrie und der Kolumnen der Lifestyle-Magazine ihrer Zeit. In einer Anzeige von Elizabeth Arden heißt es 1929, jede berufstätige Frau habe die Pflicht, „ihr Gesicht zu konstruieren” – sonst habe sie im gnadenlosen Wettbewerb des survival of the prettiest von vornherein verloren. Im selben Jahr 1929 wirbt der amerikanische Puderfabrikant Armand mit dem Satz: „The questions and answers will discover the real you – not as you think you are – but as others see you. ” Das geschminkte Gesicht, die Maske wird zum wahren Selbst; an der Inszenierung physiognomischer Symptome soll das Wesen eines Menschen abzulesen sein.
Man ist, was man scheint. Kaum eine Epoche der deutschen Kulturgeschichte hat so häufig in den Spiegel geblickt wie die Weimarer Republik. Physiognomische Diskurse prägten die verschiedensten Lebensbereiche und geisterten durch die Wissenschaften: Die Kriminalistik war um eine Theorie der Verbrecher-Identifizierung anhand körperlicher Merkmale bemüht, die Biologie träumte vom normierten Gesicht, der Psychologe Ernst Kretschmer entwickelte anhand verschiedener Grundtypen des Körperbaus eine populärmedizinische Konstitutionslehre. Und Oswald Spengler raunte 1918 davon, dass die systematische Historiographie schon bald einer physiognomischen Kulturgeschichtsschreibung weichen werde: „Die physiognomische hat ihre Zeit noch vor sich. In hundert Jahren werden alle Wissenschaften, die auf diesem Boden noch möglich sind, Bruchstücke einer einzigen ungeheuren Physiognomik alles Menschlichen sein. ”
Spenglers Paradigmenwechsel lässt zum Glück noch auf sich warten. Die Literaturwissenschaftler Claudia Schmölders und Sander L.  Gilman haben nun aber den Versuch unternommen, verschiedene interdisziplinäre Beiträge zu einer ersten physiognomischen Kulturgeschichte der Weimarer Republik zusammenzustellen. Keine „einzige ungeheure Physiognomik” ergibt sich daraus, sondern ein kaleidoskopartiger Blick auf eine Epoche der Orientierungslosigkeit und technologischen Umwälzung, auf eine Zeit, in der die operierten Gesichter der Kriegsinvaliden das Straßenbild prägen und die Gesichter des Grauens Eingang in die bildende Kunst finden, in der die politischen Theoretiker von links wie von rechts das „wahre Gesicht” der herrschenden Klasse oder des Bolschewismus, des Jahrhunderts oder gar der Menschheit suchten, und das Auge durch die illustrierte Presse, die Technik der Fotomontage und das neue Medium Kino rasant geschult wurde.
Beim Lesen der verschiedenen Aufsätze spürt man, dass da mit Gilgi eine ganze Epoche vor dem Spiegel stand und fieberhaft nach dem eigenen Wesen in der Oberfläche des Körpers suchte. Und es ist unheimlich, zu beobachten, wie oft in den verschiedenen Diskursen physiognomisch-ästhetisches Urteilen in Evaluation und moralische Verdächtigung umkippt. Willibald Sauerländer etwa schlägt den Bogen von den lebensweltlich-ästhetischen Normierungen der anthropologischen Komparatistik und Kriminalistik zur „Rassen-Kunst”: Von Sedlmayer bis Spengler liest die antimodernistische Kulturkritik der Weimarer Zeit bei allen sonstigen Unterschieden den Niedergang ihrer Epoche durchweg an physiognomischen Symptomen ab. Sauerländer skizziert, wie Paul Schultze-Naumburg, der Architekt und Autor des berüchtigten Buchs Kunst und Rasse, zunächst in seinen populistischen „Kulturarbeiten” physiognomische Urteile auf die Ästhetik der Baukunst überträgt: „Hat es nicht ein breites, gutes, ehrliches Gesicht?” fragt er anlässlich der Abbildung eines schmucklosen Hauses und fährt gemütlich fort: „ . . . es ist ein einfaches, städtisches Gehöftgebäude. Aber es hat Charakter, hat Wahrhaftigkeit. ”
Von dieser „ästhetischen Lavaterei” (Sauerländer) war es dann kein großer Schritt mehr zu Schultze-Naumburgs verheerenden kunsttheoretischen Schriften. Gilgi weiß bei ihrer Morgentoilette und ihrem Theoretisieren über den Marktwert ihrer gepflegten Erscheinung sicher nichts von Rassentheorie. Aber die Literaturwissenschaftlerin Katharina von Ankum arbeitet in ihrem Beitrag zur „Ästhetik des weiblichen Gesichts” am Beispiel der harmlosen Texte von Irmgard Keun heraus, wie stark schon Mitte der zwanziger Jahre alle Diskurse zu Körperkultur und Kosmetik mit rassentheoretischen Ansätzen unterfüttert werden: Die Mediziner und Soziologen, die in den Magazinen zu ästhetischen Fragen Stellung beziehen, scheinen allesamt von der Vorstellung qualitativer ethnischer Unterschiede auszugehen, von der Schönheitspflege als rassischem Wettbewerb, der über längere Zeit in einer „neuen, bubiköpfigen und feingliedrigen Höherzüchtung der Rasse” resultieren wird, wie es in einer Kolumne über die „Girl”-Mode völkisch heißt. Houellebecq lässt grüßen.
ALEX RÜHLE
CLAUDIA SCHMÖLDERS, SANDER L. GILMAN (Hrsg. ): Gesichter der Weimarer Republik. Eine physiognomische Kulturgeschichte. Verlag DuMont, Köln 2000. 334 Seiten, 68 Mark.
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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension

Der Rezensent mit dem Kürzel "rox" erläutert in einer kurzen Rezension zunächst das Konzept des Buches, dem die "Idee einer Kulturgeschichtsschreibung durch Physiognomik" zu Grunde liegt. "rox" äußert kein klares Urteil zu dem Band, jedoch scheint er doch fasziniert zu sein, wenn er einige Beispiele aus dem Buch anführt. So erwähnt er Fotografien von Geisteskranken, Porträts von Verbrechern, aber auch Köpfe von Malern und Kriegsverletzten. Und natürlich werde in dem Band auch das sich bereits ankündigende Schönheitsideal der Nationalsozialisten behandelt.

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