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Produktdetails
  • Verlag: DuMont Buchverlag
  • Seitenzahl: 958
  • Abmessung: 190mm
  • Gewicht: 726g
  • ISBN-13: 9783770145546
  • ISBN-10: 3770145542
  • Artikelnr.: 24386015
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 02.11.1999

Perlentaucher fürchten den Modder nicht
Ein Cousin Wilhelm Meisters: Eduard Douwes Dekkers "Die Abenteuer des kleinen Walther" / Von Stephan Wackwitz

Da hat man sich auf seine Belesenheit dies und jenes eingebildet - und noch nie davon gehört, dass in einer der "kleinen" europäischen Sprachen, auf Niederländisch, zur Zeit Dickens', Kellers und Flauberts ein Schriftsteller gearbeitet hat, der als legitimer Nachfolger Sternes, Jean Pauls und Lichtenbergs ebenso gelten kann wie als Vorläufer des Joyce'schen "Ulysses", des frühen Arno Schmidt, der großen Romane Italo Svevos und Eckhard Henscheids. Ein Schriftsteller, in dessen Werk eine verfrühte Avantgarde aus den alteuropäischen Traditionen des komischen Romans mit einer Zwangsläufigkeit hervorgeht, die erst ein Leser des zwanzigsten Jahrhunderts würdigen kann.

Eduard Douwes Dekker, der sich als Schriftsteller Multatuli nennen sollte (was lateinisch ist und "ich habe viel getragen" bedeutet), wurde 1820 in Amsterdam geboren und machte im holländischen Kolonialdienst Karriere. Die niederländische Eingeborenenpolitik war von berüchtigter Brutalität, und Dekken, der seit 1851 Ministerresident auf der Molukkeninsel Amboina gewesen war, nahm 1857 angeekelt seinen Abschied, ging nach Mainz und schrieb seinen autobiografischen Roman "Max Havelaar", ein Gegenstück zu Joseph Conrads "Heart of Darkness", einem der großen sozialkritischen Kolonialromane des neunzehnten Jahrhunderts. Die kaum verschlüsselte Entlarvung der hinterindischen Ausbeutung und Unterdrückung muss in Holland ein ähnliches Medienereignis gewesen sein wie Dickens' Romane in Großbritannien oder Harriet Beecher Stowes "Onkel Toms Hütte" in den Vereinigten Staaten. Zeitgenössische Politiker schrieben, das Buch habe eingeschlagen wie ein Blitz und ein "Schaudern durch das Land gehen lassen". Gleichsam nebenher revolutionierte "Max Havelaar" die niederländische Literatursprache und schuf ihre moderne Orthografie.

"Die Abenteuer des kleinen Walther" ist eine von zwei fiktionalen Einlagen in Multatulis dritter Veröffentlichung, den monumentalen, siebenbändigen "Ideen" (1862 bis 1877). Es ist ein ganz inkommensurables Buch: eine Montage aus Bildungsroman, langen und geistreichen essayistischen Abschweifungen, kurzen und ebenso geistreichen aphoristischen Blitzlichtern sowie akribischen Milieuschilderungen aus dem Amsterdam des frühen neunzehnten Jahrhunderts. Der Roman ist eine rührende und poetische Erziehungs- und Leidensgeschichte; eine vernichtende Kritik protestantischer Erziehungspraxis; vor allem jedoch ein piranesihaft ausgedehntes, anstrengend skurriles und absolut bewunderungswürdiges Arsenal der originellsten Erzählformen. Den "inneren Monolog" hat Multatuli in der Geschichte des kleinen Walther Pieterse sozusagen mit links und ein halbes Jahrhundert avant la lettre erfunden, ebenso die merkwürdigsten Second-order-Prosaformen, die antike oder jüngste niederländische Geschichte komisch spiegeln in den Kleinbürgerhändeln der Amsterdamer Gesellschaft. Multatuli parodiert die sentimentalen Gattungen seiner Zeit so virtuos wie Joyce im "Nausikaa"-Kapitel den Dienstmädchenroman. Er gestaltet ganze Kapitel in Balladenform, er ventriloquiert die verschiedensten Schichten und Typen seiner Heimatstadt, er ist unerschöpflich.

Das Feuerwerk dieses formalen Aufwands gilt einer eher "kleinen", in weiten Teilen autobiografischen Geschichte: der éducation sentimentale eines Jungen aus dem holländischen Bürgertum, dessen Empfindsamkeit und poetischer Sinn sich gegen die Härte der Schule und Fantasielosigkeit seiner Familie, der Lehre in einem Kaufmannskontor und der banalen Spießerwelt seiner Gesellschaftsschicht durchsetzen müssen. Der kleine Walther verliebt sich, schwärmt für eine Prinzessin, wird geschlagen, lebt aber so unverdrossen und treuherzig in seinen verschiedenen Fantasiewelten, dass ihm letztlich alle Dinge zum Besten dienen. Die Erzählung endet nach 958 Seiten mit dem Satz "Hier bricht die Geschichte vom kleinen Walther ab". Doch wir wissen dann längst, dass wir die Entwicklung eines Menschen begleitet haben, dem auch Schlimmeres und Geisttötenderes als die Amsterdamer Bürgerwelt seinen Sinn für Poesie nicht wird nehmen können. "Ein Perlentaucher fürchtet den Modder nicht": in diese Sentenz hat der Autor "das Thema dieser Kapitel und in gewissem Sinn der ganzen Walthergeschichte" zusammengefasst.

Eine feenhafte Musengestalt steht Walther in seinen Wachstumskrisen bei. Multatuli hat seiner Figur - er liebt sie so sehr, wie Autoren nur das Bild der eigenen Kindheit lieben - den eigenen Schutzengel beigegeben, jene "Fancy", die auch in seinem zweiten Buch, den "Minnebriefen", eine wichtige Rolle spielt und die man als Allegorie des sieghaften und realitätstüchtigen Sinns für Poesie bezeichnen könnte. Auch die Figur des "guten Erwachsenen", die man aus den meisten kindlichen Entwicklungs- und Leidensromanen kennt, fehlt nicht. Es ist der katholische Pater Jansen, der dem jungen Helden in Gesprächen und Geschichten jene Möglichkeit des Kompromisses zwischen Poesie und Wirklichkeit, Traum und Leben aufzeigt, den sein protestantisches Milieu ihm verweigert hat. Denn Walther "empfand wohl, dass Liebliches zu lesen stand auf der Seite des großen Lebensbuches, die hier vor ihm aufgeschlagen wurde, begriff aber nicht, wie seine Eingenommenheit sich reimte mit der wenig romantischen Form, darin ihm das Schöne vorgestellt wurde".

Wie die Helden des komischen Romans, wie die des klassischen Bildungsromans ist Walther zu Beginn seines Wegs ein weltloser Leser, ein Nachfahr des Don Quichotte. Schon im ersten Kapitel sehen wir ihn in einer Leihbibliothek, und durch das ganze Buch hindurch zeigt er sich benommen und hingerissen von den Gestalten, Träumen und Heldentaten der zeitgenössischen Groschenromane. Multatuli führt ihn aus dieser Verblendung heraus durch die Stationen der Desillusionierung und "Bildung", die er - Dekker konnte und schrieb sogar gut Deutsch - im "Wilhelm Meister", in Jean Pauls "Titan" oder in den romantischen Nachfolgern studieren konnte.

So wird Walther in der Schule bestraft und verspottet dafür, dass die Romane über Helden, Damen und Schurken seine Aufsätze und Hausaufgaben ruinieren, die romantischen Verliebtheiten des Jungen führen zu nichts als endlosen Jeremiaden seiner Mutter, "mit dem Jungen sei immer etwas". Vollends in Walthers Lehrzeit bringt seine weltlose Innerlichkeit ihn in ernste Gefahr, den Kontakt zu allen realen Bewährungsmöglichkeiten zu verlieren, eine Möglichkeit des Scheiterns, vor der Doktor Holsma, ein anderer jener "guten Erwachsenen", freundlich warnt: "Das ist nun der Fehler von vielen jungen Leuten, und - werde nicht böse deswegen: ich war auch so! - er entspringt größtenteils der Trägheit. Es ist bequemer, sich einzubilden, man schwebe über einem Berge, der weit in der Ferne liegt, als in Wirklichkeit seinen Fuß anzuheben, um über ein Steinchen zu schreiten."

Multatulis "Geschichte des kleinen Walther" ist nicht nur ein großer Vorläufer der Moderne, sondern zugleich eines der wichtigsten durch die deutsche Tradition des Bildungsromans angeregten europäischen Bücher, gleichsam der niederländische Cousin Wilhelm Meisters und seiner deutschen Brüder. Dekkers Roman hier zu Lande wahrzunehmen könnte nicht nur eine gravierende Bildungslücke schließen. Multatuli zu lesen würde einem Buch Gerechtigkeit widerfahren lassen, das als korrespondierendes Mitglied in einen glanzvollen Zusammenhang deutscher Romane des achtzehnten und neunzehnten Jahrhunderts gehört. Leider ist die Ausgabe des DuMont-Verlags, so verdienstvoll ihre schiere Tatsache sein mag, nicht dazu angetan, diesem großen Buch deutsche Leser zu verschaffen. Wenn man sich schon dazu entschloss, ein so wichtiges und schwieriges Werk wieder aufzulegen, hätte man es gleich mit der nötigen Sorgfalt tun sollen.

Aber schon die durch Arnold Thünker bearbeitete Übersetzung Wilhelm Spohrs von 1902 setzt einem Genuss und zum Teil dem schlichten Verständnis des Textes über weite Passagen unüberwindliche Schwierigkeiten entgegen. Wer zum Beispiel bereits im zweiten Abschnitt des Prologs in der Übersetzung Thünker/Spohrs das Folgende liest, weiß, dass ihm auf den fast tausend folgenden Seiten ein Leseerlebnis der besonderen Art bevorsteht: "Poesie etwas, mein Gott", heißt es da, "und wär's zum Dank allein, dass sie dich schuf! Nicht wahr, du bist doch nicht? Du würdest nicht so müßig sein mit Allmacht? Du würdest ruhen nimmer wie ein träger Faulpelz, der's nüchtern ansieht, wie die Untat herrscht? Wie Niedrigkeit erhöht steht, und was hoch ist, niedrig?"

Mit sprachlichen Verzweiflungen dieses Kalibers ist die Übersetzung des wunderbaren Buches auf jeder Seite gespickt; besonders qualvoll ist es, mitzuerleben, wie die Übertragung den Dialekt der Figuren ins Deutsche zu bringen sich müht. "Zu, Walther, du musst doch aus, mach' du man mal auf, wie's 'n Jungen zukommt!" sagen sie dann etwa, oder: "Ich mein' man, Mutter . . ." "Unser Prinzlein hat Laps uns zerschmettert, mich, dich und uns alle, Gott besser's" ruft der Erzähler aus; seine Personen "geraten in Range". Es ist ein wirklicher Graus mit dieser Übersetzung.

Als ebenso gravierender editorischer Fehler wie der Rückgriff auf die historische Übersetzung erweist sich der Verzicht auf einen Kommentar. Multatuli hat seine Geschichte auf beinahe jeder Seite mit Anspielungen auf Politik, Kulturgeschichte und Alltagsklatsch seiner Zeit verwoben, die heutigen Lesern völlig fremd sind. Auch wäre es notwendig gewesen, einen so wichtigen und zugleich so wenig bekannten Autor dem Leser ausführlicher vorzustellen als durch die dürren Angaben des Klappentexts.

Multatuli: "Die Abenteuer des kleinen Walther". Roman. Nach der Übersetzung von Wilhelm Spohr herausgegeben und bearbeitet von Arnold Thünker. DuMont Buchverlag, Köln 1999. 958 S., geb., 64,- DM.

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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

"Unter dem Titel "Perlentaucher fürchten den Schmodder nicht" liefert Stephan Wackwitz eine begeisterte Besprechung des Romans, die zugleich eine strenge Kritik an der Übersetzung und Ausgabe beinhaltet. Multatuli, mit wirklichem Namen Eduard Douwes Dekker, gehört für Wackwitz zu den ganz großen Schriftstellern des 19. Jahrhunderts. Zugleich nehme er, im Anschluss an Romanciers des 18. Jahrhunderts, avancierte Techniken voraus, die man eigentlich erst als Leser des 20. Jahrhunderts würdigen könne. Die "Abenteuer..." ein Teil der siebenbändigen Ideen seien, so Wackwitz, "ein ganz inkommensurables Buch", eine geniale Mischung aus Essay, Erzählungen und Aphorismen, und ein "anstrengend skurriles und absolut bewunderswürdiges Arsenal der originellsten Erzählformen". Besonders bedeutsam findet Wackwitz, dass Multatuli an den deutschen Erziehungsroman, etwa den "Wilhem Meister" anschließt - eine niederländische Hommage an den deutschen Geist, die in Deutschland ungerechterweise unbekannt blieb. Schlimm aber dann, was Wackwitz zu Ausgabe und Übersetzung schreibt: Man habe einfach eine alte Übersetzung von 1902 neu bearbeitet. Nach Wackwitz sei diese Übersetzung mit ihren "sprachlichen Verzweiflungen" kaum zu retten. Fatal weiterhin der Verzicht auf einen Kommentar - so dass der heutige, der niederländischen Geschichte unkundige Leser die meisten Anspielungen kaum verstehe. Auch ein Vor- oder Nachwort über den hierzulande fast unbekannten Autor, so Wackwitz, wäre mehr als angebracht.

© Perlentaucher Medien GmbH"
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