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Wilhelm Keil zählte über Jahrzehnte zu den führenden Parlamentariern in Deutschland. Zusammengenommen über 60 Jahre - davon 22 Jahre im Reichstag und 39 Jahre in südwestdeutschen Volksvertretungen - war er maßgeblich an der politischen Entscheidungsfindung beteiligt. Parallel dazu verfasste er unzählige Leitartikel während der knapp 30 Jahre als Chefredakteur der "Schwäbischen Tagwacht". Die Reihe seiner politischen Weggefährten reicht von Clara Zetkin über Friedrich Ebert und Kurt Schuhmacher, dessen ungeliebter "Lehrmeister" Wilhelm Keil in der Weimarer Republik war, bis hin zu Willy Brandt,…mehr

Produktbeschreibung
Wilhelm Keil zählte über Jahrzehnte zu den führenden Parlamentariern in Deutschland. Zusammengenommen über 60 Jahre - davon 22 Jahre im Reichstag und 39 Jahre in südwestdeutschen Volksvertretungen - war er maßgeblich an der politischen Entscheidungsfindung beteiligt. Parallel dazu verfasste er unzählige Leitartikel während der knapp 30 Jahre als Chefredakteur der "Schwäbischen Tagwacht". Die Reihe seiner politischen Weggefährten reicht von Clara Zetkin über Friedrich Ebert und Kurt Schuhmacher, dessen ungeliebter "Lehrmeister" Wilhelm Keil in der Weimarer Republik war, bis hin zu Willy Brandt, der ihn bei seinem Tod als "Nestor der deutschen Arbeiterbewegung der deutschen Parlamentarier" bezeichnete. Basierend auf einer sorgfältigen Quellenrecherche, zeichnet der Autor entlang der Zäsuren und Wendepunkte deutscher Geschichte nicht nur eine lebendige Politikerbiografie, sondern zugleich ein überzeugendes Panorama des deutschen Parlamentarismus vom ausgehenden 19. Jahrhundert bis zur Konsolidierung der politischen Verhältnisse im Nachkriegsdeutschland.
Autorenporträt
Jürgen Mittag, geb. 1970, Dr. phil., wissenschaftlicher Geschäftsführer des Instituts für soziale Bewegungen und Geschäftsführer der Stiftung Bibliothek des Ruhrgebiets.
Rezensionen

Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Sehr gut gefällt Rolf Steininger diese Biografie des Sozialdemokraten Wilhelm Keil, der sowohl in der Kaiserzeit als auch der während der Weimarer Republik politisch aktiv war, in der Nazizeit in die innere Emigration ging und nach dem Krieg wiederum Landespolitiker in Baden-Württemberg wurde. Nach Steiningers Ansicht ist diese Porträt mehr als die Biografie einer Einzelperson, sie ist vielmehr ein Zeitdokument, denn "Keil steht auch exemplarisch für die innere Zerrissenheit der Sozialdemokratie, vor allen Dingen in der Weimarer Zeit." Besonders interessant findet der Rezensent den seiner Ansicht nach höchst anschaulich geschilderten Konflikt zwischen Keil und dem jungen Kurt Schumacher. Es wäre nach Steininger lohnenswert gewesen, diese für die unterschiedlichen Haltungen in der SPD paradigmatische Auseinandersetzung noch weiter zu verfolgen.

© Perlentaucher Medien GmbH

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 27.10.2001

Der Tagwächter wollte nicht Reichsminister werden
Von der Kaiser- bis zur Adenauerzeit: Der längst vergessene, einflußreiche Sozialdemokrat Wilhelm Keil

Jürgen Mittag: Wilhelm Keil (1870-1968). Sozialdemokratischer Parlamentarier zwischen Kaiserreich und Bundesrepublik. Eine politische Biographie. Droste Verlag Düsseldorf 2001. 649 Seiten, 148,- Mark.

Der Biograph beginnt seine vorzügliche Arbeit mit einem Zitat aus einem Telegramm der SPD-Führungsspitze - Willy Brandt, Helmut Schmidt, Herbert Wehner - anläßlich des Todes von Wilhelm Keil am 4. April 1968. Wilhelm Keil wird als "Nestor der deutschen Arbeiterbewegung und der deutschen Parlamentarier" gewürdigt. Daran schließen sich Zitate von Kurt Schumacher und Theodor Heuss an. Deren Einschätzungen über Keil könnten nicht kontroverser sein. Während der SPD-Vorsitzende ihm vorwarf, "in einer für Deutschland glücklicherweise einzigen Art eine Kapitulation vor den Nazis vollzogen" zu haben, bezeichnete der liberale Heuss ihn als "Vorbild" und zollte ihm Ehrerbietung, die "vom Respekt bis zur Bewunderung" reichte. Wer also war Keil?

Keil gehörte zu jenen sozialdemokratischen Politikern der Kaiserzeit und der Weimarer Republik, für die das gilt, was Keil in den 1940er Jahren in seinen Lebenserinnerungen selbst formulierte, nämlich: "Wir sind gescheitert. Ich mit." Wie so manch anderer Sozialdemokrat kam auch Keil aus einfachen Verhältnissen. Geboren 1870, evangelisch, besuchte er die Volksschule, erlernte das Drechslerhandwerk, bereiste als Handwerksgeselle Nord- und Westdeutschland, war in England, wurde 1806 Redakteur der "Schwäbischen Tagwacht" (der SPD-Parteizeitung in Württemberg) und war seit 1900 jahrzehntelang zugleich Reichstags- und Landtagsparlamentarier. Er agierte zwar auch in Berlin, behielt seine Wurzeln aber im Südwesten Deutschlands, von wo er kam. Und dort nahm er bei allen wichtigen Zäsuren zu einem beträchtlichen Grad Einfluß.

Die "Schwäbische Tagwacht" war das zentrale politische Instrument Keils. Hier war er 30 Jahre Chefredakteur, verfaßte unzählige Leitartikel. 1914 verteidigte er vehement die Burgfriedens-Politik der Reichsregierung. Er war überzeugt davon, daß "der Sieg des Deutschen Reiches in der gegenwärtigen Weltkatastrophe mit dem kulturellen Fortschritt und dem sozialen Aufstieg der Arbeiterklasse unlösbar verknüpft" ist. Mit den Gegnern dieser Politik ging er hart ins Gericht, und so verwundert es auch nicht, daß die Spaltung der SPD früher als irgendwo anders im Reich in Württemberg vollzogen wurde, nämlich bereits im Juni 1915. Die Reichstagsfraktion brach erst im März 1916 auseinander. Wie viele seiner Parteigenossen glaubte er an den Sieg und an den Staat.

Bei Kriegsende drängte die SPD in Württemberg noch weniger als anderswo auf eine eigentliche Revolution. Die Sozialdemokratie, maßgeblich von Keil geleitet, setzte früher als im übrigen Reich auf einen kontrollierten Systemwechsel, der die bürgerlichen Mittelparteien in die Zusammenarbeit miteinschloß. Es dauerte nur wenige Stunden, bis man die kurzzeitig ausgeschalteten Parteien der bürgerlichen Mitte wieder in die Regierung zurückbat. Das waren deutliche Parallelen zu jener Politik, für die Friedrich Ebert in Berlin eintrat. Das Scheitern der Weimarer Republik war aber sicherlich keine notwendige Folge ihrer Geburtsfehler. Daß Fehler gemacht wurden, ist unbestritten. Keil hatte seinen Anteil daran.

Faszinierend der tiefgehende Konflikt zwischen dem durch Disziplin und akribische Pflichterfüllung geprägten Keil und dem jungen Kurt Schumacher, der 1920, mit 25 Jahren, in die Redaktion der "Tagwacht" einzog und vier Jahre später in den Landtag gewählt wurde. Hier trafen zwei grundverschiedene Politikertypen aufeinander - und das blieb so bis zum Tode Kurt Schumachers 1952. Das zu verfolgen, wäre ein Thema gewesen!

Keil steht auch exemplarisch für die innere Zerrissenheit der Sozialdemokratie, vor allen Dingen in der Weimarer Zeit. Die 1919 im Weimar-Deutschland etablierte Demokratie war für ihn das entscheidende parlamentarische Fundament. Dennoch lehnte er ein halbes dutzendmal Ministerämter auf Reichsebene entschieden ab. Das zeugt von den erheblichen Zweifeln und inneren Spannungen. Wichtig war wohl der Wille, die württembergische Machtposition zu sichern. Um mehr zu erreichen, hätte es hier einer größeren Unerschrockenheit und Waghalsigkeit bedurft. Die aber sucht man bei Keil vergebens. Er wirkte im Hintergrund als klassischer Ausschuß-Schwerarbeiter im Reichstag, der in völliger politischer Kurzsichtigkeit 1929 sogar den eigenen Finanzminister bekämpfte und damit auch grundsätzlich die Position der Sozialdemokraten im Kabinett Müller schwächte.

Was dann kommt, sind ganz dunkle Flecken in Keils Biographie. Da ist zum einen die innerparteiliche Auseinandersetzung im Herbst 1932. Um Hitler von der Macht fernzuhalten, war Keil bereit, temporär auch ein autoritäres Rechtsregime unter Franz von Papen zu tolerieren. Für die SPD Württemberg setzte Schumacher die Schlagzeile "Sozialdemokraten gehen nicht zu Papen" in die Parteipresse. 1933 war Keil in völliger Verkennung der Realität bereit, weitestgehende Konzessionen gegenüber den NS-Machthabern zu machen, um so einen Rest sozialdemokratischen Einflusses zu wahren. Mit dieser Haltung unterschied er sich deutlich von Kurt Schumacher. Aus jener Zeit - und sogar noch in den unveröffentlichten Erinnerungen - sind auch drastische Kommentare Keils über jüdische Weggefährten erhalten, mit denen er nach 1933 in die Nähe antisemitischer Rhetorik geriet.

Bis 1945 ging er in die "innere Emigration", nach dem Motto: "Ich halte Ruhe und wünsche in Ruhe gelassen zu werden", wie er 1934 schrieb. Vom Widerstand schloß er sich damit vollständig aus, wiederum anders als Schumacher, dessen Weg ins KZ führte. Nach Meinung Keils mußte man sich 1933 darauf einrichten, "als loyaler Staatsbürger" im NS-Staat zu leben. Von jenen, die das Land verlassen hatten, hielt er wenig. Er selbst überstand die NS-Diktatur unbehelligt wie kaum ein anderer Politiker der sozialdemokratischen Weimarer Führungsgarde, keine Verhaftung, nichts. Für die Zeit nach 1945 stellte das fast schon einen Makel dar.

Bei Kriegsende war Keil wieder da. Er wurde Vorsitzender des "Antinazi-Komitees" und "Schatten"-Oberbürgermeister in Ludwigsburg und half, wo es ging. Aus seinem Scheitern von 1933 bis 1945 zog auch er seine persönlichen Konsequenzen und trat mehr als je zuvor mit Nachdruck für die neue Demokratie und den neuen Parlamentarismus ein. Anfang 1946 wurde er Präsident der vorläufigen Volksvertretung Württemberg-Badens, er war wieder an der Spitze der Landespolitik. Aber er blieb, wie schon zuvor, Landespolitiker. Daß es 1952 zum Zusammenschluß der drei südwestdeutschen Länder zum Land Baden-Württemberg kam, war auch sein Verdienst. Schumacher blieb sein erbitterter Gegner, der jede überregionale politische Tätigkeit verhinderte. Keil rechtfertigte gegenüber Schumacher mehrmals seine Haltung während der NS-Machtergreifung 1933: er habe selbst an Hermann Göring geschrieben, um sich für die Freilassung Schumachers aus dem KZ einzusetzen. Beide verband nur eines: die ablehnende Haltung zum Kommunismus, sonst nichts. Keil entwickelte damals zudem Gedanken, die Schumacher nicht gefallen konnten: Er zielte auf eine Ausrichtung der Sozialdemokratie, die sich von der klassischen Arbeiterpartei zur modernen Volkspartei wandeln sollte - ein Prozeß, der erst Ende der fünfziger Jahre mit dem Godesberger Programm einsetzte.

ROLF STEININGER

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