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Produktdetails
  • Verlag: MVB
  • Seitenzahl: 703
  • Abmessung: 245mm
  • Gewicht: 1407g
  • ISBN-13: 9783765726477
  • ISBN-10: 3765726478
  • Artikelnr.: 36920912
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 09.08.2004

Neue Bände braucht das Land
Lesebedürfnisse: Eine Geschichte des deutschen Buchhandels

In den letzten Jahrzehnten des neunzehnten und den Anfangsjahren des zwanzigsten Jahrhunderts erschienen viele, noch heute geschätzte Darstellungen der Geschichte von Wissenschaften und Teilgebieten der Wirtschaft, so auch die "Geschichte des deutschen Buchhandels", die Friedrich Kapp und Johann Goldfriedrich 1886 bis 1913 in vier Bänden veröffentlichten. Die Darstellung des "Kapp-Goldfriedrich" reichte bis in die Kaiserzeit und ist immer noch eine beachtenswerte Quelle. Ob jemals eine vollständige Neufassung in Angriff genommen wird, steht dahin. Erfreulich aber ist, daß der Börsenverein des Deutschen Buchhandels seine Historische Kommission mit einer Geschichte des Buchhandels im Kaiserreich beauftragt hat, von der bisher zwei Teilbände vorliegen. Der dritte Teil folgt hoffentlich bald, und man muß wünschen, daß die in Aussicht gestellten Bände über die Weimarer Republik, die NS-Zeit sowie über die Bundesrepublik und die DDR in naher Zukunft erscheinen können.

Das neue Werk behandelt "den gesamten Kommunikationszusammenhang vom Autor bis zum Käufer". Dabei sollen in jeder Phase des Produktions- und Verbreitungsprozesses von Büchern und Zeitschriften die politischen, gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und kulturellen Rahmenbedingungen mit dargestellt, aber auch deren Veränderungen durch verbandspolitische und organisatorische Aktivitäten oder neue Usancen des Buchhandels in den Blick gerückt werden.

Auf einleitende Abschnitte über "Geschichtliche Grundlagen und Entwicklungen des Buchhandels im Deutschen Reich bis 1871" (Monika Estermann, Georg Jäger) und "Entwicklungsbedingungen im Kaiserreich" (Dieter Langewiesche) folgen weitere über "Verbote, Normierungen und Normierungsversuche" (Wolfram Siemann mit Andreas Graf), "Recht im Buchwesen" (Andreas Vogel) sowie "Herstellung und Buchgestaltung" (Peter Neumann). Den Abschluß dieser grundlegenden Passagen bildet ein mehr als hundert Seiten umfassender Überblick über Strukturen des Verlagsbuchhandels und deren Veränderungen im Kaiserreich (Georg Jäger). Diese Beiträge, auf souveräne Kenntnis der Quellen und der Sekundärliteratur gegründet, bewegen sich auch analytisch allesamt auf dem hohen Niveau, das die Historiographie in den besten Arbeiten der letzten Jahrzehnte erreicht hat.

Der folgende Abschnitt behandelt dann die Geschichte des Verlagsbuchhandels in der Kaiserzeit nach Sparten oder, wie es in dem Werk heißt, "Programmbereichen". Weitere Abschnitte gelten den Zeitschriften, neuen Vertriebsformen und schließlich dem Zwischenbuchhandel.

Viele der Überblicke über Verlagssparten sind nicht nur Meisterstücke der modernen Buchwissenschaft, ihre Bedeutung reicht vielmehr weit über die Grenzen dieses Faches hinaus. Georg Jägers Artikel über den Verlag für Militaria E. S. Mittler & Sohn ist ein wichtiger Beitrag zur Mentalitätsgeschichte des Kaiserreichs, sein Überblick über die Medizinverlage eine vorbildliche Studie über die Leistungsfähigkeit deutscher Wissenschaftsverlage und ihre enge Verbindung mit der Universitätswissenschaft, sein Abschnitt über die Musikalienverlage eine Quelle für die Geschichte der geselligen Kultur im Deutschland jener Zeit. Auch der ausführliche Artikel von Gangolf Hübinger und Helen Müller über "Politische, konfessionelle und weltanschauliche Verlage" sollte von jedem gelesen werden, der sich mit der Kulturgeschichte des Kaiserreichs beschäftigt. Von vielen anderen Beiträgen ließe sich ähnliches sagen.

Kritik kann man allenfalls an Details üben, an denen freilich eine Grundsatzentscheidung der Herausgeber nicht ganz unschuldig ist, nämlich die zum Verzicht auf "eigens ausgewiesene Konzepte und Begrifflichkeiten". Das Ziel war, dem großen Publikum den Zugang zu der Darstellung nicht zu erschweren und zugleich Wissenschaftlern die Grundlage für eine theoriegeleitete Arbeit zu bieten. Jägers und vieler anderer glänzende Beiträge lassen schon nach flüchtiger Lektüre erkennen, daß das sinnvoll sein kann. Aber diese methodologische Askese hat auch eine Gefahr, der einige Autoren - zum Glück nur gelegentlich - erliegen: derjenigen nämlich, daß theoriegeladene Begriffe wie "Öffentlichkeit" oder "Bürgertum" sich gleichsam ungeprüft in die Darstellung einschleichen.

Die Behauptung, daß in den achtziger Jahren mit dem Aufkommen des Straßenverkaufs von Zeitungen und Zeitschriften "eine allmähliche Verflechtung der beiden Öffentlichkeiten von Straße und Presse" eingesetzt habe, klingt apart, hat aber nicht die geringste Erklärungskraft. Auch eine Aussage wie die, daß Arno Holz' Buch "Dafnis" mit den "Freß-, Sauffund Venusliedern" Ausdruck "moderner Antibürgerlichkeit" sei, bleibt mit ihrem vagen Begriff von Bürgerlichkeit nicht nur hinter der analytischen Strenge der modernen Gesellschaftsgeschichtsschreibung zurück, vielmehr muß man daran zweifeln, daß sie überhaupt, in welchem Sinn auch immer, zutrifft.

Problematisch sind auch die nicht wenigen Stellen, an denen mit dem Begriff der "Unterhaltung" operiert wird. Man muß, was die Zeitschriften oft schon im Titel verkünden, nicht schon für einen untrüglichen Beleg für die Leserbedürfnisse halten. Ein Drittel der Gesamtbevölkerung - Mirjam Sforim weist darauf in ihrem Beitrag über den Kolportage-, Reise- und Versandbuchhandel hin - kam aus Familien, in denen die Eltern noch weitgehend Analphabeten gewesen waren. Was die Erstalphabetisierten suchten, wenn sie Hefte der "Nick Carter"-Serie oder das Zehn-Pfennig-Heft "Franz Wetterstein" lasen, ließe sich wohl genauer sagen, ohne daß man dem Kompensationstheorem, das einer der Beiträger in anderem Zusammenhang anwendet, auf den Leim ginge. Aber das alles sind angesichts der Gesamtleistung geringfügige Einwände.

Das Werk ist auf eine bewundernswürdige Weise umfassend angelegt. Allenfalls vermißt man eine historische Statistik, die das ausgezeichnete Kapitel von Barbara Kastner über "Statistik und Topographie des Verlagswesens" ergänzen würde und die Geschichte des Verlagsbuchhandels in seiner Gesamtheit vor Augen führte. Grundzüge der Entwicklung werden gleichwohl sichtbar. Hatte sich schon in den vierziger Jahren des neunzehnten Jahrhunderts eine bis dahin völlig unbekannte Dynamik des Marktes bemächtigt, so wurde die unter den veränderten Bedingungen des nunmehr geeinten Deutschlands immer stärker. Die Industrialisierung bot technische Möglichkeiten für eine Massenproduktion, die Verbesserung des Verkehrswesens ermöglichte eine stärkere Durchdringung des Marktes, und zugleich bildete sich mit der zunehmenden Alphabetisierung ein Publikum heraus, das den Verlagen bis dahin ungeahnte Absatzchancen eröffnete.

Die Verlags- und Buchhandelslandschaft differenzierte sich: Auf der einen Seite entstanden Neugründungen von Verlegern, die mit einem anspruchsvollen Programm aufwarteten, auf der anderen Konzerne, die einen Massenmarkt versorgen konnten. Die Spezialisierung nahm rasch zu. Mit einer bis dahin beispiellosen und vielleicht noch heute nicht übertroffenen unternehmerischen Energie entwickelten Verlage neue Publikationsformen wie etwa die Familienblätter mit zum Teil hohen Auflagen und besetzten Buchhändler neue Absatzfelder, ob es dabei um den Bahnhofs- und Schiffsbuchhandel oder den Kaufhausbuchhandel ging. Daß in diesen in Bewegung gekommenen Markt auch Neulinge drängten, ist verständlich: Nicht wenige der Gründer von Großunternehmen kamen aus dem jetzt aufblühenden Annoncengeschäft. Das eindrucksvollste Beispiel ist Rudolf Mosse, der als Inseratenpächter humoristischer Blätter begann und in nur fünfzig Jahren aus seiner Firma einen Konzern mit Anzeigenagenturen im In- und Ausland, technischen Betrieben und erfolgreichen Zeitungen und Zeitschriften gemacht hatte.

Im internationalen Vergleich stand Deutschland, was die Vielfalt des Verlagsbuchhandels und die Zahl der produzierten Bücher angeht, an der Spitze. Am Beispiel der wissenschaftlichen und technischen Zeitschriften macht Georg Jäger eindrucksvoll deutlich, welchen Einschnitt der Erste Weltkrieg darstellte. Waren bis 1914 die deutschen Referateblätter, die über die Fortschritte eines Fachgebietes, etwa der Medizin oder der Chemie, berichteten, weltweit führend, so daß niemand es sich leisten konnte, kein Deutsch zu lesen, so brach diese Vormachtstellung der deutschen Wissenschaftsverlage in den letzten Jahren des Kaiserreichs zusammen. Überhaupt war der Erste Weltkrieg für den deutschen Buchhandel eine Katastrophe: In nahezu allen Programmbereichen kam es zu drastischen Produktions- und Absatzrückgängen.

Der Anspruch der Herausgeber und der Autoren ist hoch, aber er wird erfüllt. Sie haben ein bedeutendes Handbuch vorgelegt, das nicht nur die Geschichte des Verlagsbuchhandels in den Jahren 1870 bis 1918 auf hohem Niveau darstellt, das vielmehr zugleich ein wichtiger Beitrag zur Kulturgeschichte des Kaiserreichs ist.

Leider kann man die Leistung des Verlags nicht ebenso günstig beurteilen. Auswahl und Plazierung der Illustrationen sind noch zu loben, und auch Satz und Druck sind gut. Aber schon die Typographie ist nicht gerade ein Meisterwerk, und ganz und gar ärgerlich sind Nachlässigkeiten und Kunstfehler. Auch bei einem Sammelband haben Autoren einen Anspruch darauf, daß man sie auf dem Titelblatt nennt, was hier nicht geschieht. Die Hierarchie von Überschriften typographisch kenntlich zu machen gehört zu den eher einfachen Aufgaben eines Buchherstellers; hier war man damit offensichtlich bei den Überschriften der dritten und vierten Stufe überfordert. Daß man nicht jedem Teilband ein Register beigegeben hat, sondern den Benutzer auf den Abschlußband vertröstet, ist eine Zumutung. Vollends unverständlich ist, daß man ein Handbuch dieses Anspruchs und dieser Qualität mit einem kläglichen Pappband ausgestattet hat. So hat man die Chance vertan, ein Beispiel für die - immer noch vorhandene - Qualität der Buchherstellung in Deutschland zu bieten.

ERNST-PETER WIECKENBERG.

"Geschichte des deutschen Buchhandels im 19. und 20. Jahrhundert". Im Auftrag des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels herausgegeben von der Historischen Kommission. Band 1: "Das Kaiserreich 1871-1918". Teil 1. Hrsg. v. Georg Jäger in Verbindung mit Dieter Langewiesche und Wolfram Siemann. 645 S., zahlr. Abb., geb., 128,- [Euro]. Teil 2. Hrsg. v. Georg Jäger. K. G. Saur Verlag, München 2001/2003. 701 S., zahlr. Abb., geb., 128,- [Euro].

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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension

Hans-Albrecht Koch freut sich, dass dieses Buch endlich erschienen ist, nachdem er "jahrzehntelang darauf gewartet hat". Sehr gut lesbar sei es, folge keinen gerade gängigen Paradigmen und betrete überdies methodisches Neuland, resümiert der Rezensent und sieht damit all seine Erwartungen an eine Buchhandelsgeschichte erfüllt, "die nicht für den Tag geschrieben ist". Koch findet, dass wesentliche Lücken geschlossen werden, wie die urheberrechtlichen Fragen und die Handelsstufen des Buchhandels und "bisher nicht mögliche wirtschaftsgeschichtliche Aussagen über das Ganze" getroffen werden können. Außerdem ist er erleichtert, dass die Rettung des Vorhabens einer Geschichte des Deutschen Buchhandels geglückt ist.

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