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Welche Bedeutung hat Wissen über Musik für den Konzertbesuch? Christiane Tewinkel diskutiert am Beispiel von Musikeinführungen und Programmheften der Berliner und Münchner Philharmoniker die historische Doppelfunktion des Programmhefts als Instrument einerseits zur Einladung und andererseits zur Ausgrenzung.Sie beleuchtet die Wechselwirkungen zwischen Innovationen im Konzertwesen und in der Einführungsliteratur und zeichnet nach, über welche Personen und Netzwerke sich die institutionalisierte Musikwissenschaft mit der freien Musikpublizistik verbunden hat. So wird analysiert, wie sich…mehr

Produktbeschreibung
Welche Bedeutung hat Wissen über Musik für den Konzertbesuch? Christiane Tewinkel diskutiert am Beispiel von Musikeinführungen und Programmheften der Berliner und Münchner Philharmoniker die historische Doppelfunktion des Programmhefts als Instrument einerseits zur Einladung und andererseits zur Ausgrenzung.Sie beleuchtet die Wechselwirkungen zwischen Innovationen im Konzertwesen und in der Einführungsliteratur und zeichnet nach, über welche Personen und Netzwerke sich die institutionalisierte Musikwissenschaft mit der freien Musikpublizistik verbunden hat. So wird analysiert, wie sich Wissensformen und Wissensbestände zur Musik seit 1945 konsolidiert und verbreitet haben.
Autorenporträt
Christiane Tewinkel wurde 1969 in Unna geboren, sie studierte in Freiburg Schulmusik, Germanistik und Anglistik und an der Harvard University Musikwissenschaft und Musiktheorie und wurde in Würzburg promoviert. Sie arbeitet als Musikwissenschaftlerin an der Universität der Künste Berlin und schreibt für die "Frankfurter Allgemeine Zeitung" und den "Tagesspiegel" über Musik.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 06.12.2016

War das jetzt schon der letzte Satz?

Sie erklären, was einem bevorsteht, wenn man ins Musiktheater geht - Programmhefte und Musikführer. Wie sie diese Bildungsaufgabe erledigen, hat Christiane Tewinkel untersucht.

Musik spricht für sich selbst, sie ist eine verbindende Sprache, die von allen verstanden wird, sie gilt dem Gefühl, sie geht direkt ins Herz - so kann man es allenthalben hören und lesen. Doch werden die Dinge nicht richtiger, wenn man sie nur oft genug wiederholt. Musik ist, wie wenige andere Hervorbringungen des Menschen, an jenen Kulturkreis gebunden, dem sie sich verdankt; Musik kann deswegen auch trennen, allemal in Zeiten ihrer unentwegten Verfügbarkeit; und sie kann mitunter ganz an den Herzen vorbeigehen. Schnitzlers Leutnant Gustl quält sich in einem Konzert unendlich: "Wie lang wird denn das noch dauern?"

Die hohe Dynamik des europäischen Kunstbegriffs hat die Dinge in der Musik nicht einfacher gemacht, im Gegenteil. Das musikalische Kunstwerk bereitet zweifellos Vergnügen, aber es bedarf der Voraussetzungen - nicht nur bei denjenigen, die es zur Geltung bringen. Kunstmusik war lange Zeit ein Privileg der Verständigen, derjenigen mit musikalischem Wissen, für die Mozart noch ganz selbstverständlich komponierte. In der bildungsbürgerlichen Welt des neunzehnten Jahrhunderts haben sich die Dinge jedoch verändert, Musik wurde in ihr zwar auch zum "Besitzstand", aber die Teilhabe daran musste verdient, erarbeitet werden. Die turbulente Steigerung der technischen Schwierigkeiten von Partituren vergrößerte notwendig die Herausforderung an die Hörer. Das bildungsbürgerliche Gut der Musik war nicht leicht zu erwerben.

Dies scheint die Geburtsstunde der "Erklärung" zu sein. Damit ist nicht einfach die Auslegungsbedürftigkeit gemeint, denn die war auch in vormodernen Zeiten gegeben. Es ging um Erklärungen in einem elementaren Sinne. Das wusste schon Leutnant Gustl: "Was ist es denn eigentlich? Ich muß das Programm anschauen ..." Diese Programme wurden umso umfangreicher und eindringlicher, je sperriger und spezialisierter sich der Gegenstand gab. Richard Strauss, der mit seinen Tondichtungen das bildungsbürgerliche Publikum reichlich verstört hat und zu dem es deswegen eine Reihe bemerkenswerter früher "Erklärungen" gibt, spottete dennoch über Schönberg und die Seinen, ihre Musik sei unentwegt auf die verbale Erläuterung angewiesen. Und je "neuer" die Musik wurde, desto massiver der Darlegungsdrang - bis zur ironischen Pointe der endlosen Schleifen von Musica-viva-Konzerten, in denen der Komponist als der privilegierte Exeget seiner selbst auftritt, in störungsfreier Selbstbezüglichkeit.

So enthalten Programmhefte seit über hundert Jahren nicht nur die Titel der Stücke, nicht nur die Namen der Ausführenden, sondern Erklärungen von dem, was den Hörern da bevorsteht - materialisiertes Bildungsgut der Musik, begleitet von zahllosen Musikführern, die vom konkreten Ereignis abgelöst sind, aber zu dessen Vor- und Nachbereitung dienen sollen. Christiane Tewinkel hat nun dieses verwickelte Genre in den Blick genommen. Erstaunlich genug, dass bisher noch niemand darauf gekommen war, sich die unübersehbare Fülle der Programmhefte und Musikführer näher anzusehen.

Die Verfasserin ist dabei glücklicherweise nicht an dem Was dieser Texte interessiert, sondern an dem Wie. Und dieses unterliegt einem erstaunlichen Wandel. Das Verstehen von Musik durch den gebildeten Hörer war eine der Voraussetzungen der musikalischen Blüte um 1900. In ausführlichen Berliner Programmheften aus dieser Zeit findet sich stets der Hinweis, eine ausreichende Zahl von Taschenpartituren stehe zum Erwerb an den Buchtischen der Foyers zur Verfügung. Wie würde es wohl dem heutigen Betreiber eines Konzerthaus-Shops ergehen, wenn er statt der Noten auf Tässchen, Seidenschals oder Untersetzern die Partituren des Abends zum Vorzugspreis anbieten würde? Man mag diese Entwicklung bedauern oder auch nicht, so oder so ist es aber eine Verlustgeschichte.

Die Verfasserin möchte dies nicht recht akzeptieren, weil sie in den Texten gewissermaßen Verfügungsmassen sieht, deren Beschaffenheit allein den Zeitgeist spiegelt - nicht mehr und nicht weniger. Das ist vielleicht der kritischste Punkt dieses informativen, angenehm schlanken Buchs, das am Ende auch eine Geschichte der musikalischen Bildung ist, ohne dies explizit sein zu wollen.

Natürlich, angesichts der unübersehbaren Materialfülle waren eingrenzende Entscheidungen nötig, und diese lassen sich leicht in Frage stellen: Warum eigentlich nur der deutsche Sprachraum, wo es doch zum Beispiel in England eine ganz andere und bis heute in Konzert- oder CD-Besprechungen lebendige Tradition des Sprechens über Musik gibt? Warum nur Berlin und München, warum nicht Wien, Hamburg oder Köln? Warum, bei einer ausführlich dargestellten Vorgeschichte, ein Schnitt bei 1945? Doch in einem kaum vermessenen Terrain sind derlei Bedenken am Ende wohlfeil.

So ist das Buch ein notwendiger Versuch, einen Bereich in den Blick zu nehmen, der in den letzten hundert Jahren in doppelter Hinsicht zentral für die musikalische Bildung gewesen ist: als Quelle des Erwerbs wie als Leistungsausweis. Die Gretchenfrage des Titels, ob man das Programm denn lesen müsse, erübrigt sich vor diesem Hintergrund. Lesen muss man, das wusste auch Leutnant Gustl, so wenig wie zuhören, alle Bildungsideale basieren auf Freiwilligkeit. Allerdings, Musik, jedenfalls die des Konzerts, hört sich anders, wenn man etwas über sie weiß. Und dieser Grundsatz gilt erst recht in Zeiten, in denen musikalische Bildung gerne der hämischen Kritik ausgesetzt wird, verkopft zu sein. Christiane Tewinkels Buch wird hoffentlich eine Diskussion beflügeln

LAURENZ LÜTTEKEN

Christiane Tewinkel: "Muss ich das Programmheft lesen?" Zur populärwissenschaftlichen Darstellung von Musik seit 1945.

Bärenreiter Verlag, Kassel 2016. 328 S., geb., 49,95 [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Laurenz Lütteken sieht Diskussionsbedarf angesichts der stiefmütterlichen Behandlung des Themas, dem Christiane Tewinkel sich hier dankenswerterweise annimmt, wie er findet. Das Wie, nicht das Was der Programmhefte und Musikführer, wie Lütteken schreibt, behandelt die Autorin und erzählt vom Verstehen von Musik durch den gebildeten Hörer und seinem Wandel. Für den Rezensenten eine Verlustgeschichte, informativ und angesichts der jungfräulichen Materialfülle notwendigerweise subjektiv in der Auswahl und Beschränkung auf Berlin und München bis 1945, so Lütteken.

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