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Der Fotograf Christian Werner beschäftigt sich schon lange mit der Geschichte der alten BRD, "diesem Land, das es nicht mehr gibt und das uns alle so geprägt hat".
Sein neues Studienobjekt ist das Haus eines verstorbenen 80-Jährigen. Mit der Kamera nähert er sich dem individuellen und gleichzeitig kollektiven Gedächtnis so vertrauten Interieurs eines typisch provinziellen, westdeutschen Nachkriegs-Lebens. Die traurig-schöne Fotoserie, geprägt von Werners unverwechselbar klarem Blick, wird mit rund 100 Bildern in einem Katalogbuch und in der Ausstellung im Kunstpalais präsentiert. Autoren…mehr

Produktbeschreibung
Der Fotograf Christian Werner beschäftigt sich schon lange mit der Geschichte der alten BRD, "diesem Land, das es nicht mehr gibt und das uns alle so geprägt hat".

Sein neues Studienobjekt ist das Haus eines verstorbenen 80-Jährigen. Mit der Kamera nähert er sich dem individuellen und gleichzeitig kollektiven Gedächtnis so vertrauten Interieurs eines typisch provinziellen, westdeutschen Nachkriegs-Lebens. Die traurig-schöne Fotoserie, geprägt von Werners unverwechselbar klarem Blick, wird mit rund 100 Bildern in einem Katalogbuch und in der Ausstellung im Kunstpalais präsentiert. Autoren unterschiedlicher Disziplinen ergänzen die Fotografien durch textliche Miniaturen.

Christian Werner lebt als freier Fotograf in Berlin und veröffentlicht neben seinen fotografischen Essays auch regelmäßig Arbeiten aus dem Reportage- und Porträtbereich in Magazinen und Zeitungen (ZEITmagazin, Spex, Interview, 032c, NEON, Spiegel, Welt am Sonntag). In Kürze erscheint ein anderes Buch,in demer sich mit der Geschichte der Bundesrepublik befasst: In "Bauformen des Gewissens. Über Fassaden deutscher Nachkriegsarchitektur" geht es um die verkachelten Fassaden westdeutscher Häuser.
Rezensionen

Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Das Betrachten von Christian Werners opulenten Farbfotografien lohnt sich auf jeden fall, meint Rezensent Jan Wiele, der hier vom Häkelbild über die Marmortischplatte bis zum braunen Cordsofa und zum Partykeller mit Fototapete alles entdeckt, was das westdeutsche Spießerherz höher schlagen lässt. Die literarischen Essays hinterlassen bei Wiele allerdings gemischte Gefühle: Timo Feldhaus' Gedanken über die "Zwischenexistenz" des CD-Ständers sind zwar durchaus vergnüglich, findet der Rezensent. Einige Texte geraten ihm aber doch zu bedeutungsschwer: Wenn Philipp Felsch im Vorwort hinter jeder Kachelwand Nazi-Pädagogik und Abgründe à la David Lynch vermutet oder bei Markus Krajewski der Partykeller als "Asservatenkammer gutbürgerlicher Frivolitäten" der Unterwelt gleicht, vermisst der Kritiker eine ambivalente Perspektive auf die BRD.

© Perlentaucher Medien GmbH

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 05.04.2016

Nicht hinter jeder Wand lauert eine Bestie
Schläft ein Lied in jedem Partykeller - aber welches? Ein literarischer Bildband deutet das "Stillleben BRD"

Dieser prächtig ausgestattete Band schafft eine eindrucksvolle ästhetische Erfahrung. Er hält in den Farbfotografien von Christian Werner tatsächlich einen verdichteten Moment bundesrepublikanischer Geschichte fest: Wir blicken in ein westdeutsches Haus, das in den sechziger Jahren nahe Paderborn gebaut wurde. Wir sehen es genau so, wie der letzte Bewohner es nach seinem Tod im Jahr 2014 hinterließ, mit einer angebrochenen Schachtel Käsestangen noch auf dem Schrank. Wir schauen in jeden Winkel dieses Hauses, sehen die schmiedeeiserne Garderobe, das Häkelbild an der Wand, das braune Cordsofa, den Brotkasten mit Blumenmotiv, die kleine Gießkanne, deren Bauch seltsamerweise mit Holzfurnier umkleidet ist, die Speisekammer mit Dosenfisch, Maggi-Suppen und Puszta-Salat und vor allem: den Partykeller mit Fototapete.

Die "Inventur des Hauses von Herrn und Frau B." offenbart Möbel, Gegenstände und architektonische Ideen, die heute vielen als schrecklich gelten. Dazu liefert der Band auch noch einige kurze literarische Essays, die das Inventar der Spießigkeit beträchtlich erweitern: Kannte man bislang vielleicht schon Jägerzaun oder "Gelsenkirchener Barock", liest man nun auch die Typologie der Marmortischplatte, des Sonntagsgeschirrs, des Messing-Rauchglases und eben des Partykellers.

Das ist stellenweise auch amüsant, etwa wenn der Schriftsteller und Designer Rafael Horzon in einem ironisch-spielerischen Text beschreibt, wie eigentlich er den Teppichfransenkamm erfunden habe - ein Werkzeug, von dem vielleicht nicht jeder wusste, dass es tatsächlich existiert, aber auch dafür gibt es hier ein erstaunliches Beweisbild. Oder wenn Timo Feldhaus in einer Betrachtung über den CD-Ständer, der im Zuge der Digitalisierung ja fast schon wieder auf dem Müllhaufen der Geschichte gelandet ist, eine "Melancholie der Zwischenexistenz" entdeckt (in Herrn B.s Fall musikalisch bestückt mit "Viva Hits 13", "Chöre der Welt", "Ein Prosit der Gemütlichkeit" und "Wir machen durch bis morgen früh").

Aber trotzdem gerät diese Publikation etwas auf die schiefe Bahn. Vorangestellt ist ihr ein kurzer Text des Historikers Philipp Felsch, der besonders durch sein Buch "Der lange Sommer der Theorie" bekannt geworden ist. Felschs Eingangswort trägt den Titel "BRD noir" - ein Begriff, den er zuerst in einer Rezension im vergangenen Herbst verwendete. Es geht diesem Begriff um die Abgründe hinter vermeintlich harmlosen bundesrepublikanischen Dingen. "Was verbargen die abwaschbaren Kachelfassaden der Kölner Nachkriegsarchitektur?", fragte Felsch damals. "Reichte die schwarze Pädagogik der Nazis nicht viel tiefer als bisher angenommen in die Nachkriegszeit hinein?" Nun variiert er diese Vermutungen: Jüngst ist unter dem Begriff "BRD noir" ein Gespräch zwischen ihm und dem Buchpreisträger Frank Witzel, seinerseits Spezialist für Deutschlands dunkle Seiten, als Buch beim Verlag Matthes & Seitz erschienen. Darin wird erörtert, warum wir die alte Bundesrepublik heute "nicht als heiles, sondern als versehrtes Land imaginieren". Vor allem Felsch scheint sie so zu imaginieren - und angesichts des fotografierten Hauses mutmaßt er im vorliegenden Band: "Hinter jeder Tür könnte wie bei David Lynch ein haariges Monster zum Vorschein kommen."

Was Felsch in immer neuen Formen präsentiert, ist eine in der Sprache der Popkultur neu aufgelegte Restaurationsthese, bei der langsam, aber sicher das zu große Deutungskaliber sichtbar wird. Von dieser These sind offenbar auch einige weitere Essays des Bandes geleitet: also von dem Wunsch, überall Monster zu vermuten. Zum Beispiel hinter einer zugezogenen Gardine, die hier nicht nur als Zeichen des prüden Verbergenwollens gesehen wird, sondern auch als solches eines "untergründigen Antisemitismus der Deutschen", wie Clemens Niedenthal unter Verweis auf den angeblichen "Wohnsoziologen" Alphons Silbermann schreibt. Oder hinter einem Aufkleber mit Reklame für BiFi-Wurst, wie er auch bei Herrn B. auf dem Schrank pappt. Nun hat der 1972 geprägte Wurstslogan "Aufreißen - rausschieben - reinbeißen" tatsächlich nur hässliche Konnotationen, aber wie die auf Zeichentheorie spezialisierte Nina Franz darin noch die Resonanz eines giftigen "Kraft durch Fleisch"-Rülpsens hört, das "aus dem Verdrängten der ehemals gleichgeschalteten deutschen Feierabendseele nach oben kam", wirkt dann doch sehr gewollt.

Bleibt noch der Partykeller: Von welchen Ausschweifungen künden wohl Klinkersteintapete oder Vollvertäfelung? Natürlich vom Stolz des Heimwerker-Papas, der hier seine Samstage verbrachte und deswegen für die Kinder unerreichbar war. In dieser "Asservatenkammer gutbürgerlicher Frivolitäten" konnte, wer strauchelt, nicht mehr besonders tief fallen, schreibt Markus Krajewski in seinem Beitrag. Aber ob der Partykeller darum auch schon dem Hades gleicht, wie es hier heißt?

Genauso wenig, wie man glauben muss, dass das Lebensgefühl "Generation Golf" bei allen gleich war, nur weil sie im Frotteebademantel "Wetten, dass . . ?" geschaut oder Nutella gegessen haben, muss man hinter jeder Kachelwand oder Klinkersteintapete gleich Nazi-Pädagogik vermuten. Beides zeugt von einem Denken in Stereotypen. Das prägt vielleicht Weltbilder, ist aber genau das Gegenteil des Literarischen und des Individuellen. Da ist man dann schnell beim prüden Puritanismus, bei den miefigen fünfziger Jahren. Was zum Beispiel diese betrifft, gibt es ein literarisches Jahrbuch ("Treibhaus"), das gegründet wurde, um eben gegen zu einfache Epochenzuschreibungen vorzugehen. Zum Glück entdecken andere Kurzessays in diesem Buch auch die Ambivalenzen des "Stilllebens BRD". Um es noch einmal positiv zu formulieren: Wer sagt eigentlich, dass nicht gerade in den Partykellern die wildesten Ideen entstanden sind? Zudem sollte man nie unterschätzen, wie schnell die eben noch als furchtbar empfundene Mode der jüngsten Vergangenheit plötzlich zum Retro-Chic erklärt wird. Wer hätte das noch vor kurzem etwa vom Klapprad gedacht? Der vorliegende Band selbst könnte durch seine überaus geschmackvolle Präsentation der vermeintlichen Horror-Ästhetik (eingebunden in lila Leinen!) selbst dazu beitragen, dass der Partykeller morgen schon wieder cool ist.

JAN WIELE

Christian Werner:

"Stillleben BRD". Inventur des Hauses von Herrn und Frau B.

Hrsg. von Amely Deiss.

Kerber Verlag, Bielefeld 2016. 186 S., geb., zahlr. Abb., 35,- [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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