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Nichts ist erfunden, kein Wort hinzugefügt
Jürg Amann hat die Aufzeichnungen, die Auschwitz-Kommandant Rudolf Höß vor seiner Hinrichtung niederschrieb, zu einem ungeheuerlichen Monolog verdichtet: Dieses Buch sperrt seinen Leser in den Kopf eines Massenmörders.
'Angesichts der Wirklichkeit ist alles Erfinden obszön. Vor allem da, wo man die Wirklichkeit haben kann. Auch wenn sie immer wieder geleugnet wird. Dann erst recht. Das habe ich nie so stark empfunden, wie als Die Wohlgesinnten von Jonathan Littell vor ein paar Jahren auf Deutsch erschienen sind: die affirmative Einfühlung in…mehr

Produktbeschreibung
Nichts ist erfunden, kein Wort hinzugefügt

Jürg Amann hat die Aufzeichnungen, die Auschwitz-Kommandant Rudolf Höß vor seiner Hinrichtung niederschrieb, zu einem ungeheuerlichen Monolog verdichtet: Dieses Buch sperrt seinen Leser in den Kopf eines Massenmörders.

'Angesichts der Wirklichkeit ist alles Erfinden obszön. Vor allem da, wo man die Wirklichkeit haben kann. Auch wenn sie immer wieder geleugnet wird. Dann erst recht. Das habe ich nie so stark empfunden, wie als Die Wohlgesinnten von Jonathan Littell vor ein paar Jahren auf Deutsch erschienen sind: die affirmative Einfühlung in einen NS-Täter in Form eines Romans. Mir waren bei einer thematisch verwandten Theaterarbeit in Wien kurz zuvor die Aufzeichnungen von Rudolf Höß, des Kommandanten von Auschwitz, in die Hände gefallen. Da hatte ich die Antwort. Aus diesen Selbstzeugnissen, aus dieser auf erschütternde Weise naiven Selbstdenunziation ließ sich aus der Wirklichkeit eine Antwort auf die Fiktion gewinnen. Höß selbst hatte die Aufzeichnungen in der Zeit zwischen seiner Verhaftung nach Kriegsende durch die britische Militärpolizei und seiner Verurteilung zum Tod durch das polnische Oberste Volksgericht in der Krakauer Untersuchungshaft ohne Anflug von Reue oder auch nur Einsicht kalt zu Papier gebracht. An die dreihundert eng bedruckte Seiten waren im Dokument daraus geworden. In einem dramaturgischen Prozess der Strukturierung und der Verknappung, zuerst großteilig, dann immer kleinteiliger, habe ich sie auf ihre Essenz hin zugespitzt. Ein Monodrama in sechzehn Stationen ist daraus entstanden. Nichts ist erfunden, kaum ein Wort ist hinzugefügt, kaum ein Satz ist verändert, alles ist durch das gelebte und verwirkte Leben des Rudolf Höß gedeckt.'
Jürg Amann
Autorenporträt
Jürg Amann, 1947 in Winterthur geboren, Studium der Germanistik in Zürich und Berlin, Promotion über Franz Kafka. Zuerst Literaturkritiker und Dramaturg, seit 1976 freier Schriftsteller (Prosa, Theaterstücke, Hörspiele, Lyrik, Essays). Lebte bis zu seinem Tod im Mai 2013 in Zürich. Zahlreiche Auszeichnungen, u.a. Ingeborg-Bachmann-Preis, Conrad-Ferdinand-Meyer-Preis, Schiller-Preis.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 13.02.2012

Der Liebende nimmt immer den Nachtexpress nach Paris

Ein Massenmörder, ein Puppenspieler und zahlreiche Opfer der Liebe: Der Schweizer Jürg Amann untersucht in drei neuen Büchern die Möglichkeiten fiktiven Erzählens.

Für Jürg Amann war 2011 ein produktives Jahr. Mehrere Bücher hat der Schweizer Schriftsteller veröffentlicht, in denen er ganz unterschiedliche Welten erkundet und zudem sehr anschaulich die Möglichkeiten und Grenzen von Fiktionalität untersucht.

Der Band mit dem Titel "Der Kommandant" und der schlichten Gattungsangabe "Monolog" ist das beklemmendste dieser Werke, denn nichts daran ist fiktional. "Angesichts der Wirklichkeit ist alles Erfinden obszön", erläutert Amann in einem Nachwort sein Verfahren. Dem dichten Monolog liegen die Aufzeichnungen von Rudolf Höß zugrunde, dem Kommandanten von Auschwitz, der vor seiner Hinrichtung im April 1947 einen umfassenden Lebensbericht niederschrieb, ein einzigartiges Dokument der Gefühlskälte, gepaart mit einer beklemmenden Mischung aus Gehorsam, Pflichterfüllung und dem Bestreben, sich selbst als Familienvater in Szene zu setzen. Jürg Amann hat diesen Bericht erheblich gestrafft und Höß' Lebensgeschichte zu einem Monodrama in sechzehn Stationen verdichtet.

Die Streichungen nehmen der Biographie nichts von ihrer verstörenden Kraft. Im Gegenteil: In der einfachen, oft unbeholfenen Sprache des 1900 geborenen Höß entsteht in einem dichten Spannungsbogen das bedrückende Lebensbild des Mannes, der in streng katholischen Verhältnissen aufwuchs, als Kind Missionar werden wollte, als Fünfzehnjähriger Soldat wurde, sich später der NSDAP anschloss, wegen Mordes inhaftiert war, danach in einer völkischen Landkommune lebte und 1933 der SS beitrat. Hier fand der pflichtbewusste Höß neue Aufgaben: Himmler übertrug ihm den Aufbau und die Leitung des Konzentrationslagers Auschwitz, wo Höß, wie er selbstgefällig berichtet, Lösungen für den industriell betriebenen Massenmord finden musste. Vieles in diesem Bericht lässt an Hannah Arendts Diktum von der "Banalität des Bösen" denken, doch kann auch diese Diagnose nicht begreiflich machen, wie sich in Höß rationale Planungen zur Vernichtung von Millionen Menschen mit der Fürsorge für seine Untergebenen verbanden: "Es kam nur Gas in Frage, denn durch Erschießen die zu erwartenden Massen zu beseitigen wäre schlechterdings unmöglich und auch eine zu große Belastung für die SS-Männer, die dies durchführen müssten im Hinblick auf die Frauen und Kinder."

Jürg Amann hat diesen Monolog, in dem nichts erklärt oder kommentiert wird, auch unter dem Eindruck von Jonathan Littells "Die Wohlgesinnten" verfasst. Für den Schweizer ist die "naive Selbstdenunziation" des Kommandanten von Auschwitz eine triftige Antwort auf die Fiktion seines Kollegen und dessen "affirmative Einfühlung in einen NS-Täter in Form eines Romans". Hier formuliert Amann eine zutiefst moralische Poetik, gegen deren humane Grundlagen nichts einzuwenden ist, deren literarische Folgerungen aber doch zumindest diskussionswürdig sind. Sollte das Böse tatsächlich nicht Gegenstand der Literatur werden dürfen, und sollte fiktionale Einfühlung nur den "Guten" vorbehalten bleiben?

Das zweite Buch kann durchaus in diesem Sinne verstanden werden, denn der reale Held dieser fiktiven Geschichte gehört zweifellos auf die Seite des Guten. "Die Briefe der Puppe" nämlich, um die es hier geht, gehören zu den begehrten Objekten eifriger Literaturdetektive. 1923 hatte der bereits schwerkranke Franz Kafka in einem Berliner Park ein heftig weinendes Mädchen getroffen, das den Verlust seiner Puppe beklagte. Um das Kind zu trösten, verfasste Kafka, wie es seine Gefährtin Dora Diamant berichtet, eine Reihe von Briefen, angeblich von der Puppe geschrieben, die in die Welt hinausgegangen war und nun ihre ehemalige Besitzerin trösten wollte. Drei Wochen lang überbrachte Kafka seine Puppenbriefe dem fremden Kind, bis er eine glückliche Lösung für die sich fortspinnende Handlung ersann, die das Mädchen mit seinem Verlust versöhnte. Bis heute konnte weder das Kind identifiziert werden, noch haben sich Kafkas Briefe gefunden, die dafür um so mehr die Phantasie der Schriftsteller gereizt haben.

Jürg Amann, der ein ausgezeichneter Kenner Kafkas ist, legt nun seine Version dieser verschollenen Puppenbriefe vor, die, so die Herausgeberfiktion, Dora Diamant eigenhändig seinem Großvater übergeben habe. Amann entwirft eine regelrechte Odyssee, die die entlaufene Puppe nach Prag, Wien, Zürich und in andere europäische Städte führt. Dabei erweist sich der Erzähler als ein versierter Stimmenimitator, legt er seiner korrespondierenden Puppe doch nicht allein Kafka-Zitate in den Mund, sondern spielt auch mit weiteren literarischen Verweisen, etwa auf Thomas Bernhard und Georg Büchners "Lenz"-Erzählung, vor allem aber auf Friedrich Hölderlin. Seiner Fußwanderung nach Bordeaux folgt die reiselustige Puppe zusammen mit einem ihrer Weggefährten, dem zugleich recht flüssig einige bekannte Hölderlin-Verse über die Lippen gehen. Das dichte Geflecht von literarischen Anspielungen ist gewiss keine leichtgängige Kinderliteratur, sondern ein vertracktes Vexierspiel für Kenner der Literaturgeschichte, bei dem die Suche nach den versteckten Zitaten schnell in den Vordergrund treten kann.

Vollends in das Reich der Fiktion begibt sich Jürg Amann schließlich mit den zehn Erzählungen seines jüngsten Bandes, die allesamt von "letzten Lieben" erzählen, von vergangenen Leidenschaften ebenso wie von unglücklichen Selbstmördern und hoffnungslos Verliebten. Es sind kunstfertige Miniaturen, die ihre Leser an die Strände von Berliner Seen, auf hohe Eisenbahnbrücken oder in den Nachtexpress nach Paris führen. Doch verglichen mit der dokumentarischen Wucht des Monologs von Rudolf Höß, erscheint selbst die handwerklich überzeugende Erzählung über einen fanatischen Lustmörder, der sich seine letzte Liebe buchstäblich einverleiben will, wie eine fade Episode aus dem Horrorkino.

SABINE DOERING

Jürg Amann: "Der Kommandant". Monolog.

Arche Verlag, Zürich und Hamburg 2011. 112 S., geb., 14,- [Euro]. -

Jürg Amman: "Die Briefe der Puppe".

Nimbus Verlag, Wädenswil 2011. 60 S., br., 19,80 [Euro].

Jürg Amman: "Letzte Lieben".

Arche Verlag, Zürich und Hamburg 2011. 108 S., geb., 16,- [Euro].

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Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension

Der Banalität des Bösen gewärtig, stößt Judith von Sternburg in diesen vom Schweizer Schriftsteller Jürg Amann übersichtlich zusammengestellten Text aus Aufzeichnungen des Auschwitz-Kommandanten Rudolf Höß auf schieres sprachliches Unvermögen. Die Erklärungen des Lagerkommandanten Höß scheinen ihr ungeheuerlich in ihrer Kombination aus bürgerlichen Floskeln und dem offensichtlichen Willen und Glauben des Schreibers, "noch etwas ins Lot" bringen zu können und sich als Mensch mit Herz darzustellen. Dass Amann die entsprechenden Passagen so stehenlässt, macht für Sternburg die besondere Qualität des Buches aus.

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