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Mitreißend und spannend schildert Fritz J. Raddatz Stufe für Stufe, wie ein naiver Jugendlicher zum Anhänger des Nationalsozialismus wird, und wie dieser später, während des Bombenhagels auf Berlin, von seiner Mutter ein schreckliches Geheimnis erfährt...

Produktbeschreibung
Mitreißend und spannend schildert Fritz J. Raddatz Stufe für Stufe, wie ein naiver Jugendlicher zum Anhänger des Nationalsozialismus wird, und wie dieser später, während des Bombenhagels auf Berlin, von seiner Mutter ein schreckliches Geheimnis erfährt...
Autorenporträt
Fritz J. Raddatz, geb. 1931 in Berlin, gestorben 2015. 1960-69 stellvertretender Leiter des Rowohlt Verlags, 1977-85 Feuilletonchef der Zeit, von 1969- 2011 Vorsitzender der Kurt-Tucholsky- Stiftung. 2010 wurde er mit dem Hildegard-von-Bingen-Preis für Publizistik geehrt.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 04.12.2001

Oedipus bei der SS
Fritz J. Raddatz orakelt herum / Von Burkhard Scherer

Der eine Mann ist "ängstigende Wirklichkeit ohne Bauch", der andere "ist ein Fabelwesen mit Augen, die erzählen". Da ist die Qual der Wahl gering, und sogar jemand wie Achim Moesgaard schafft es hier, seine Zuneigung nachvollziehbar zu verteilen. Das soll ihm später kaum noch gelingen. So früh aber - 1930, Achim ist erst acht - bekommt sie, die Zuneigung, der Augenerzähler, sein Onkel Sami, bürgerlich Dr. Samuel Steinkraut, Schokoladenfabrikant. Die bauchlose Angstwirklichkeit gibt sein Vater Josef, Anwalt in Berlin mit dänisch-pastoralem Hintergrund. Onkel Sami nun ist ein Nennonkel. Er hat sich wie Josef Moesgaard im Ersten Weltkrieg ein Eisernes Kreuz erster Klasse erkämpft, in französischer Kriegsgefangenschaft im Elsaß wurden sie Freunde.

"Ich empfinde eine bitter ziehende, abstoßende Zärtlichkeit für Onkel Sami", gibt Klein Achim zu Protokoll. Der Sami-Magnetismus wirkt aber auch auf die anderen Moesgaards, Bruder Hansi, acht Jahre älter, zieht jederzeit ein Wochenende in der Onkel-Villa am Wannsee, wegen ihrer Aura von Weite und Abenteuer von Achim "der Dampfer" genannt, einem Verbleib in der großen, aber toten Familienwohnung am Corso in Tempelhof vor, und die Mutter ist durch Sami-Nähe gleich verwandelt: "Am Corso ist sie Hausfrau. Auf dem Dampfer ist sie Dame."

So hätte es ja nun auch alles weitergehen können, wandelten sich nicht die politischen Verhältnisse gründlich und die Menschen in ihnen. Die bislang so erfreulichen Moesgaard-Steinkrautschen Familientreffen enden bald regelmäßig in bleierner Sprachlosigkeit und Rückzug von Frau Moesgaard oder Onkel Sami, weil Josef Moesgaard seine neuen Nazieinsichten nicht bei sich behalten kann. Daran zerbricht auch ein von Achim sehnlich herbeigewünschter gemeinsamer Urlaub auf Hiddensee nach kurzer Zeit. Dann verschwindet Onkel Sami ganz aus seinem Gesichtskreis; der sei jetzt in Paris und der Dampfer verkauft, wird ihm erklärt. Nichts davon versteht der Knabe, es scheint ihn nicht weiter zu interessieren, aber er hat nun auch andere Sorgen. Wegen abweichender körperlicher Merkmale - "scharfe Nase, groß flappende Ohren, schwarz strubbelndes Haar" - im Gymnasium als Außenseiter gehänselt, sucht er soziale Anerkennung durch forciertes Strebertum und reüssiert besonders im Sportlichen, das ein "Jagdfuchs" genannter Pädagoge verwaltet.

Der hat auch Außersportliches im Angebot, eine neue Heimat für das scharfe Talent: die Hitlerjugend und dann die SS. Die passen Achim: "Im streng gegliederten, chronisch gruppierten Aufmarsch der Tausenden von Hitlerjungen wurde ich erwachsen", bemerkt er über den Auftakt der Olympischen Spiele, kurz vorher ging es noch einmal mit der Mutter im Flugzeug nach Paris, zu Onkel Sami. Der, jetzt "ein Kapitän ohne Dampfer", kommt ihm aufmunterungsbedürftig vor, und zur Stimmungsaufhellung erscheint ihm nichts besser geeignet, als ihm seinen Schulaufsatz "Warum ich in die Hitlerjugend gehe" vorzulesen. Das wird nicht der erhoffte Erfolg. "Schluß. Es ist genug. Ich habe dich anders gedacht", unterbricht Sami die Vorstellung, die Mutter fragt bald darauf den Sohn: "Bist du mit all deinen Liedern und deiner Uniform denn noch so ahnungslos dumm? Onkel Sami ist Jude!"

Mutters Frage nach der ahnungslosen Dummheit, die Achim leider nicht beantwortet, ist die Kernfrage an das neue Buch von Fritz J. Raddatz. Warum läßt er, der Herr der Geschichte, ihn so viel falsch verstehen, daß selbst seine Mutter es nicht begreift? Warum läßt er SS-Sturmbannführer Achim später mitten in der Siegesfeier im besetzten Paris erneut zur Wohnung des einstigen Idols fahren und auf die Feststellung, daß es hier nicht mehr wohnt (die Concierge deutet etwas von Marseille an), jammern: "Schokoladensamijudenonkelohnehut. Du bist der einzige Mensch, den ich geliebt habe. Wo ist Onkel Sami?" So kann nur einer fragen, der der Concierge nicht zugehört hat. Raddatz hat das. Der verlegt Achims SS-Einheit auch bald in nämliche Hafenstadt, der Achim-Sami-Beziehung den Rest zu geben. Dort geht es dann, vom Alkohol beflügelt und unter Anleitung von Obersturmführer Bärwald, ins Bordell, erst zu den Damen und dann, "die Schwänze wurden zu Waffen", hinter auf dem Dachboden vermuteten Juden her. Einen der dort aufgespürten Menschen könnte Achim kennen - ob er ihn gleich erkennt, bleibt offen - und entleert in den seine Waffe, immerhin vier Kugeln. Da ist Onkel Sami! Der ist, Achims Mutter weiß das, Raddatz weiß das und der Leser bis dort hin auch längst, natürlich obendrein - und: Halt! Keiner verläßt die Rezension! - Achims leiblicher Vater. Ist das nicht tragisch? Beziehungsweise ein einziger obszöner Schmarren?

Eindeutig letzteres: Bauerntheater meets Landserroman, um nur die ungefähren Hausnummern zu nennen. Im Bauerntheater ist es immer die Resi, die als einzige nicht weiß, daß der Onkel Gustl eigentlich ihr Papa ist, und Achims Waffe wird gegen Schluß dann wieder Schwanz, als ihm beim Genesungsurlaub auf Hiddensee Karbolmäuschen Kerstin am Strand einen abreitet. Doch auch das geht vorbei, "widerlich erregt rase ich durch das schneidende Dünengras". Ausgebreitet wird die ganze Geschichte auf dem Teppich des raddatzüblichen Satz- und Wortmulms, inhaltlich durchwoben mit literarisierten Auszügen aus dem Oberstufenlehrbuch "Drittes Reich" und einer kräftigen Prise Theweleit. "Ich hatte mir aus dem kühl glänzenden Gestänge von Maschinen, Fahnenmasten, Schellenbaum und Tambourstab eine metallene Festung konstruiert", sinniert der alte Sturmbannführer und Vatermörder sensibel, "Trakehner" hatte ihn schon bei selbigem Konstruktionsprozeß auf genau dieses aufmerksam gemacht.

"Trakehner" kam von der anderen Seite, denen mit Mädchen, Bier und Zigaretten, schaute vom Rande den Nazi-Sportlern zu und beeindruckte Achim durch die "Selbstverständlichkeit, mit der er akzeptierte, nirgendwohin zu gehören". Da hatten sich die Richtigen getroffen, und weiter ging's wie bei und mit Konrad Lorenz: "Argwöhnisch wie dem Rudel entlaufene Wölfe beargwöhnten wir einander." Da sei der Hinweis erlaubt, daß man in dem Satz, wenn man schon mal dabei ist, problemlos drei weitere Portionen Argwohn unterbringen kann, aber das würde der Geschichte auch nicht weiter aufhelfen, denn Achim Moesgaard, der sich nie entscheiden kann, ob er nun aus der unmittelbaren oder der seicht reflektierenden Perspektive erzählt, dem geht's doch nur um das eine: "Stahl wollte ich greifen, nicht mein langes dünnes Ding." Darum ging es Achim. Worum geht es Fritz J. Raddatz?

Fritz J. Raddatz: "Ich habe dich anders gedacht". Erzählung. Arche Verlag, Zürich/Hamburg 2001. 110 S., geb., 29,81 DM.

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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Burkhard Scherer kann der Erzählung, in der der Junge Achim in der Nazizeit seinen jüdischen Nennonkel verliert, eine steile Karriere bei der SS macht und zu guter Letzt seinen eigenen Vater erschießt, beim besten Willen nichts abgewinnen. Die tragischen Verwicklungen, so der Rezensent entrüstet, sind lediglich "ein einziger obszöner Schmarren" und changieren irgendwo zwischen "Bauerntheater" und "Landserroman", wobei ihn besonders die naive Unwissenheit der Hauptfigur auf die Palme bringt. Dass dies alles auch noch im "raddatzüblichen Satz- und Wortmulm" dargeboten wird, kann Scherer auch nicht besänftigen, und er bleibt dabei, dass der Erzählung "nicht aufzuhelfen" ist.

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