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Selten ist ein Autor mit seinem Land und seinem Volk so hart ins Gericht gegangen wie Anatoli Pristawkin. Humanisierung des teilweise noch mittelalterlichen Strafvollzugs und Aussetzung der Todesstrafe - das waren die Ziele der Begnadigungskommissionen, deren Vorsitzender er zehn Jahre lang war. Anhand zahlreicher, unser Vorstellungsvermögen übersteigender Lebensläufe führt er uns durch eine Hölle der Rechtlosigkeit. So erschütternd wie seine Bilanz, so tief empfunden ist sein Plädoyer für Mitmenschlichkeit und Aufklärung.
1992 wurde Anatoli Pristawkin zum Vorsitzenden der
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Produktbeschreibung
Selten ist ein Autor mit seinem Land und seinem Volk so hart ins Gericht gegangen wie Anatoli Pristawkin. Humanisierung des teilweise noch mittelalterlichen Strafvollzugs und Aussetzung der Todesstrafe - das waren die Ziele der Begnadigungskommissionen, deren Vorsitzender er zehn Jahre lang war. Anhand zahlreicher, unser Vorstellungsvermögen übersteigender Lebensläufe führt er uns durch eine Hölle der Rechtlosigkeit. So erschütternd wie seine Bilanz, so tief empfunden ist sein Plädoyer für Mitmenschlichkeit und Aufklärung.
1992 wurde Anatoli Pristawkin zum Vorsitzenden der Begnadigungskommission berufen. Gegen den erbitterten Widerstand der Behörden konnte die Kommission vielen Todeskandidaten das Leben retten und manches Urteil mildern.

»Dieses Buch handelt nicht nur von Häftlingen, von Menschen, die in der Todeszelle sitzen. Es handelt von uns allen, von jedem, der eingeschlossen ist in das kriminelle Straflager, das Rußland heißt«, sagt Pristawkin über sein Werk, das er als Quintessenz seiner zehnjährigen Tätigkeit vorlegt. Hatte Solschenizyn im Archipel Gulag das gigantische Unrechts- und Strafsystem unter Stalin beschrieben, so zeigt uns Pristawkin das gleiche System in den neunziger Jahren, aber mit Rückblick in alle Perioden der Geschichte Rußlands. Und immer wieder erhebt sich für die Kommission die Frage, ob nicht die Todesstrafe einer lebenslänglichen Haft vorzuziehen wäre: Pristawkin zitiert Täter, die um ihre baldige Hinrichtung bitten.
Als Hauptursache der Verbrechen nennt Pristawkin den Alkoholismus. Die tiefere Begründung des Zustandes der russischen Gesellschaft sieht er aber im »grausigen Menschheitsirrtum der Lenin und Stalin« und in der jahrhundertelangen Unterdrückung und Unfreiheit davor. Im Bolschewismus wurden alle humanitären Tugenden für obsolet erklärt und durch eine einzige ersetzt, die bedingungslose Treue zum Sowjetsystem.
1999 wandelte Präsident Jelzin die letzten Todesurteile in Begnadigungen um. 2001 löste Präsident Putin die Begnadigungskommission auf.

Autorenporträt
Anatoli Pristawkin, 1931 bei Moskau geboren, hat mehrere Erzählbände und Romane veröffentlicht. Im Dezember 2002 wurde er mit dem Aleksander-Men-Preis ausgezeichnet für seine Verdienste um die interkulturelle Vermittling zwischen Russland und Deutschland.
Rezensionen
Stimme aus dem Verlag
"Was die Lektüre von Pristawkins "Ich flehe um Hinrichtung" so beeindruckend macht, ist die Gleichzeitigkeit von unbestechlicher Analyse und Empathie seinem Land gegenüber. Man möchte nicht glauben, was man da liest: eine erschütternde Zustandsbeschreibung unseres östlichen Nachbarn."
(Luchterhand Literaturverlag)

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 17.03.2003

Schwärzer als schwarz
Das russische Straf- und Begnadigungssystem arbeitet mit den Gefühlen der Ohnmacht und des Schmerzes
In der Nacht zum ersten Juli trafen an einer Kreuzung die Jugendlichen Noskow und Orlow ein Mädchen namens Lichatschowa, das auf dem Weg zu seiner Mutter war. Sie bedrängten und schlugen es, überredeten einen Minderjährigen, ihnen zu helfen, Stunden der Verfolgung und Misshandlung begannen. Im Wald schließlich zwangen sie die Lichatschowa, sich auszuziehen, vergewaltigten sie, warfen ihr einen Pullover über das Gesicht, stachen sie mit einem Messer mehrfach in die Brust und ließen das Messer dann im Körper des Mädchens stecken. Orlow trat auf die Klinge, um es tiefer in den Leib zu treiben. Dann warfen sie das Mädchen in eine Grube und schaufelten diese zu. „Als sie sahen, dass Lichatschowa sich unter der Erdschicht noch bewegte, traten Orlow und Noskow auf ihren Körper, um ihn mit ihrem Gewicht niederzudrücken, und als aus der Erde ein Fuß der Geschädigten zum Vorschein kam, schlug Noskow mehrfach mit der Hacke darauf.” Am nächsten Tag kehrten sie zur Grube zurück, gruben den Leichnam aus, übergossen ihn mit Benzin und zündeten ihn an.
Im Tal der Schatten
Ein Gnadengesuch Noskows, der zum Tode verurteilt worden war, kam Anfang der neunziger Jahre auf den Schreibtisch Anatoli Pristawkins. Der Schriftsteller hatte sich von seinen Freunden überreden lassen, in der Begnadigungskommission des russischen Präsidenten Boris Jelzin den Vorsitz zu übernehmen. Er hatte das Amt inne, bis unter Putin die zentrale Begnadigungskommission aufgelöst und durch eine Vielzahl regionaler Kommissionen ersetzt wurde. In einem dreibändigen Werk unter dem Titel „Im Tal des Todesschattens” hat Pristawkin seine Erfahrungen und Erlebnisse beschrieben. Eine Auswahl daraus ist nun von Thomas und Renate Reschke ins Deutsche übertragen worden. Es ist eines der eindrucksvollsten Bücher dieses Frühjahrs. „Weinen um Russland” hat Pristawkin selbst das Genre seines Buches genannt. Es handelt „vom Abschaum der Gesellschaft”, „von Menschen, die selbst auf große Entfernung Entsetzen verbreiten und unsere Sicherheit wie auch unsere Seelenruhe bedrohen”.
Politisch wichtig wurde das Buch im Kampf für die Abschaffung der Todesstrafe und die Reform der Haftbedingungen in Russland. Mindestens ebenso erschreckend wie die Tatberichte sind die Schicksale der Häftlinge. Da wird berichtet, dass zwei Offiziere von einem Unschuldigen das Eingeständnis eines Mordes erpressen wollten. Sie haben ihn zu diesem Zwecke eine Nacht lang gefoltert und ihm schließlich drei Pepsi-Cola-Flaschen in den Darmausgang geschoben. Er starb. Pristawkin zitiert auch aus dem Brief eines Häftlings über die Situation in seiner Zelle, in der „einem Menschen ein Reifen um den Kopf gelegt und mit einem Schraubenschlüssel so lange festgezogen wird, bis das Opfer das Bewusstsein verliert. Oder man spielt Karten um Menschenblut: Wer verliert, öffnet eine Vene und lässt die im Spiel verlorene Menge Blut in eine Schüssel laufen...”
Kann es da noch Barmherzigkeit genannt werden, wenn, wie im Falle Noskows, die Todesstrafe in eine lebenslange Freiheitsstrafe umgewandelt wird? „Fließband der Entmenschlichung” haben Häftlinge das Lagersystem der Sowjetunion und des späteren Russlands genannt. Oft sind halbe Kinder, 15-, 16jährige, aufgrund von Lappalien auf dieses Fließband gelangt, es begannen kriminelle Karrieren, die irgendwann fast zwangsläufig mit der Todesstrafe endeten. Dennoch hat die Kommission in der russischen Öffentlichkeit viel Ablehnung erfahren, als sie die Begnadigung von Mördern empfahl.
Wenn Pristawkin über den weltweit bekannten Triebtäter Tschikatilo aus Rostow am Don schreibt, der übrigens nicht begnadigt wurde, kann er sich der Aufmerksamkeit seiner Leser sicher sein. Es dürstet, wie er schreibt, alle „nach starken Empfindungen”. Doch Pristawkin geht es nicht um spektakuläre Einzelfälle. Er nutzt seine Erfahrungen mit dem Verbrechen und dem Strafsystem für eine christlich-philosophisch inspirierte Analyse der gegenwärtigen russischen Gesellschaft. Die Kapitel über die „Alltagskriminalität” und über das „Volk” sind daher die wohl wichtigsten in diesem Buch. Pristawkin bescheinigt der Bevölkerung Russlands „Züge von Persönlichkeitsveränderung”. Besonders charakteristisch seien „Grausamkeit, Verlogenheit und Fertigkeiten, sich ohne Arbeit Geld zu beschaffen (nicht zum Leben, sondern zum Saufen), sowie eine rohe, zynische Einstellung zu Frau und Kindern” .
In der Tradition Dostojewskis und Solschenizyns führt Pristawkin die Verkommenheit des sozialen Lebens, die Verrohung der menschlichen Beziehungen auf die lange Tradition des Untertanentums, der Unfreiheit und Unselbständigkeit in Russland zurück: von Iwan dem Schrecklichen über Peter den Großen bis hin zur Sowjetzeit. Das Strafsystem, mit dem gegen die Verbrechen vorgegangen wird, scheint mithin ein Teil des Problems zu sein, der verbreitete Wunsch nach harten Strafen Ausdruck eines Klimas, in dem das einzelne Leben wenig zählt.
Licht am Horizont wird man in diesem Buch vergeblich suchen. Geschrieben aus dem „Gefühl der Ohnmacht und des Schmerzes”, zeichnet es ein Bild Russlands, das schwärzer kaum gedacht werden kann. Immerhin aber hatte Jelzin die Begnadigungskommission eingesetzt, ist ihren Empfehlungen gefolgt. Immerhin lässt sich Putin von Pristawkin jetzt beraten. Wer in diesem Erfahrungsbericht die Seiten über das sowjetische Straf- und Begnadigungssystem gelesen hat, wird – aller offenkundigen Trostlosigkeit zum Trotz – darin einen Fortschritt erkennen.
JENS BISKY
ANATOLI PRISTAWKIN: Ich flehe um Hinrichtung. Die Begnadigungskommission des russischen Präsidenten, Luchterhand Literaturverlag, München 2003. 381 Seiten, 24 Euro.
Im Chernokozovo-Gefängnis wird dem Vernehmen nach gefoltert. Häftlinge bestreiten das – solange die Aufseher zuhören.
Foto:
AP
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Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension

30.000 Morde pro Jahr; mehr als die Hälfte der arbeitsfähigen russischen Bevölkerung hat noch nie gearbeitet, jeder fünfte dagegen saß schon einmal im Gefängnis, wo nach Angaben von Amnesty International katastrophale Bedingungen herrschen, die manchmal dazu führen, dass Häftlinge um die unverzügliche Ausführung der Todesstrafe bitten. Mittlerweile hat Russland eine Million Häftlinge. Zahlen, die das Dilemma der russischen Gesellschaft widerspiegeln. In dem vorliegenden Buch widmet sich Anatoli Pristawkin der Begnadigungskommission des russischen Präsidenten, welche es sich zur Aufgabe gemacht hat, die zahlreich verhängten Todesurteile, welche teilweise schon für Vergehen wie die Annahme von Schmiergeldern verhängt werden, zu überprüfen. Immerhin 56.000 Häftlinge konnten daraufhin von Pristawkins "Inselchen der Barmherzigkeit" begnadigt werden, ehe die Kommission 1991 nach einer Pressekampagne entrüsteter Funktionäre aufgelöst wird. Die Rezensentin Natascha Freundel bescheinigt dem Autor, ein zutreffendes Bild des Ist-Zustandes der russischen Gefängnisse abgeliefert zu haben. "Wenngleich sein Bericht aus jener höchst unstabilen Periode nach der Perestrojka stammt und Präsident Putin ihn zu seinem persönlichen Berater für Begnadigungen gemacht hat: In den Gefängnissen und Straflagern Russlands herrscht noch immer jener Geist der schonungslosen Maßregelung, der einst den Archipel Gulag hervorgebracht hat", hat Freundel gelernt.

© Perlentaucher Medien GmbH
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"Das Buch ist ein Befreiungsakt, ein auf Papier gebändigter Aufschrei." (Die Zeit) "In einer dramatischen Denkschrift rechnet der Schriftsteller Anatoli Pristawkin, Putins Berater für Begnadigungen, mit dem unbarmherzigen Justizsystem ab." (Der Spiegel) "Bei aller Resignation über den Befund ist das Buch auch eine Quelle der Hoffnung: Hier gibt es Keime für eine humane und liberale Zivilgesellschaft." (Neue Zürcher Zeitung)