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Die Italiensehnsucht seit der Epoche der Grand Tour im achtzehnten Jahrhundert richtete sich immer wieder auf Neapel. Auch auf die deutschen Italienreisenden - von Goethe bis Benjamin - hat diese Stadt eine große Faszination ausgeübt. Die Bilder reichen vom idealistischen Gegenentwurf einer scheinbar glücklicheren Welt bis zur zivilisationskritischen Begeisterung für eine angeblich vorkapitalistische städtische Oase. Marino Niola weiß von all diesen Bildern, die sich nicht selten zu neapolitanischen Selbststilisierungen gewandelt haben. Er nimmt den fremden Blick als methodischen Blick der…mehr

Produktbeschreibung
Die Italiensehnsucht seit der Epoche der Grand Tour im achtzehnten Jahrhundert richtete sich immer wieder auf Neapel. Auch auf die deutschen Italienreisenden - von Goethe bis Benjamin - hat diese Stadt eine große Faszination ausgeübt. Die Bilder reichen vom idealistischen Gegenentwurf einer scheinbar glücklicheren Welt bis zur zivilisationskritischen Begeisterung für eine angeblich vorkapitalistische städtische Oase. Marino Niola weiß von all diesen Bildern, die sich nicht selten zu neapolitanischen Selbststilisierungen gewandelt haben. Er nimmt den fremden Blick als methodischen Blick der Verwunderung auf, um in kurzen Essays eine andere als bloß touristische Reise kreuz und quer durch seine Stadt anzutreten. Er führt den Leser in die Vororte und auf die Friedhöfe, zu den Heiligen und den Krippen, in die Welt des organisierten Verbrechens und des Untergrundes. Wir lernen das barocke Neapel kennen, das die Symmetrien scheute, die Doppelbödigkeit liebte und noch heute das Gefüg e der neapolitanischen Gesellschaft bestimmt. Wir erfahren etwas über die anthropologischen Grundlagen der Pasta oder über die Frage, was die Mamma zu einer der zentralen Institutionen der süditalienischen Gesellschaft macht. Totem und Rag ist ein Vielgängemenü. Seine Happen sind mit einem Schuss subtiler Ironie gewürzt, machen Appetit auf mehr, und vor allem haben sie Biss.
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 29.03.2000

Neapelspalter
Marino Niola hat seine Stadt als
verliebter Ethnologe beschrieben
Eine Stadt, in der Schmutz und Armut, Korruption und protzig zur Schau getragener Reichtum eine mehr oder weniger friedliche Koexistenz eingehen – das ist das populäre, nicht gerade schmeichelhafte Bild, das sich von Neapel heute verfestigt hat. Ein Bild, das nicht zuletzt seit dem 18. Jahrhundert durch die Berichte von Italienreisenden geprägt wurde, aber auch von den Einwohnern selbst, die alles taten, um den Vorurteilen in einer Art Selbstinszenierung zu entsprechen.
Eine andere Annäherung an die Stadt führt der in Neapel aufgewachsene Ethnologe Marino Niola in seiner Essay-Sammlung „Totem und Ragù” vor. Ihm ist die Stadt ein Ort diffuser Differenz und des versöhnlichen Nebeneinanders zahlreicher Epochen, der nie zerstört wurde und deshalb auch nie wiederaufgebaut werden musste. Schmutz und Abfall werden dann zur Oberfläche, unter der sich verbirgt, was elementar Neapels Einzigartigkeit ausmacht: die antike Einheit von Örtlichkeiten, Epochen und Verhaltensformen. Niola zeigt ein Neapel, das gleichzeitig vertraut und fremd erscheint. „Die Faszination dieser Stadt, dieses Wahrzeichen des Mittelmeerraums, besteht in dem fantastischen Gesamtbild ihrer materiellen und immateriellen Erinnerungsstücke, das sie dem Reisenden präsentiert, das Spektakel ihrer einzigartigen Fähigkeit, zusammen mit ihrem Mythos existieren zu können, ohne von ihm erdrückt zu werden. ”
In kurzen Essays – das Vorbild ist Walter Benjamin mit seinem Blick auf die Stadt – führt Niola den Leser zu den verschiedenen Plätzen und Winkeln Neapels, er macht ihn mit Mythen, Geschichten und Gegenwart vertraut. Nur auf den ersten Blick erscheint Neapel als chaotische und unregierbare Stadt – dabei werden hier Ordnungen ständig in Frage gestellt und in vielerlei kulturellen Systemen neu verhandelt. Am Beispiel des Viertels Spaccanapoli („spaltet Neapel”) veranschaulicht Niola, wie man beim Flanieren durch die schachbrettartig angelegten Straßen auf Gebäude und Anlagen unterschiedlicher Epochen stößt, einfach nur, indem man eine dieser Straßen überquert oder um die Ecke biegt. Deshalb sei die Stadt vor allem eine „Metropole der Erinnerung” mit ihren englischen Gärten, den exotischen Symbolen ihrer „arabischen Seele”, den europäischen Einflüssen vom Barock bis in die Gegenwart.
Gigantischer Stau
Nichts ist hier für die Ewigkeit, alles verändert sich und bleibt auf merkwürdige Weise doch gleich. Und obwohl gerade beim täglichen Verkehrschaos der Eindruck von Stillstand vorherrscht, ist die Stadt immer in Bewegung. Als schönstes Beispiel ist einem noch der gigantische Stau in Luciano di Crescenzos Film „Also sprach Bellavista” in Erinnerung, als die Autofahrer – wie durch eine unsichtbare Hand gelenkt – „das Hakenkreuz machten”, um sich mit einem lauten Hupkonzert wieder in Bewegung zu setzen.
Auch die unverwüstliche neapolitanische Mama, die ihr Leben für die Kinder geben würde, ist eins der Klischees, das Niola auf den Kopf stellt, indem er in ihrem Beschützerinstinkt ein gehöriges Maß an Unterdrückung aufdeckt. Es gibt freilich keine klare Differenz zwischen weiblichen und männlichen Elementen, den schützenden und den aggressiven – und keine zwischen Mythos und Realität, Religion und Nichtglauben. Die vermeintliche Verflüssigung des Blutes von San Gennaro, die einmal im Jahr von Tausenden bestaunt wird, zeigt genau jene Lücke zwischen Wahrnehmung und Interpretation, die der Ethnologe Niola im Auge hat. Dabei ist es nicht relevant, ob sich dieses Wunder tatsächlich vollzieht oder wie es physikalisch zu erklären wäre, sondern was es für die Bewohner Neapels ist: ein Zeichen ihrer Verbundenheit und ein Akt der Reinigung.
„Nicht zufällig wird Neapel wegen des unaufhörlichen Ineinandergreifens von Vergangenheit und Zukunft als unruhiger und zugleich faszinierender Ort beschrieben. Es ist dieselbe Stadt, die einerseits viele Probleme der gegenwärtigen Metropolen vorwegnimmt und die andererseits die elementaren, primitivsten Bezugspunkte wie Körper, Blut, Sexualität bewahrt. ” Kein Wunder also, dass der Diego Maradona, der mit dem SC Neapel in den Achtzigern große Triumphe feierte, für die Bewohner trotz seines offensichtlichen Niedergangs immer noch ein Heiliger ist.
Das schönste Kapitel dieses an klugen Gedanken reichen Buches ist deshalb dem neapolitanischen Fußball und dessen fast religiöser Bedeutung gewidmet. Begeisterung und Hingabe sollen nicht nur von Arbeitslosigkeit, Elend und Armut ablenken, sie sind säkularisierter Kult, der die Siegesfeiern elementar von denen anderer europäischer Städte unterscheidet. Und wenn der Flaneur mit offenen Augen durch Neapel geht, stößt er auf kleine Altäre, Plakate und Graffiti, auf denen der verehrte Maradona die Insignien eines Heiligen trägt.
Niolas wunderbare Annäherung an Neapel besticht einerseits durch die kaum verhohlene Zuneigung des Einwohners, andererseits durch die ungewöhnliche Sicht des Ethnologen, der uns mitnimmt auf seine Spaziergänge über Friedhöfe, durch Gärten und Straßen, und dann die Steine erzählen lässt. „In Neapel . . . ist alles Zeichen” – gerade das möchte man liebend gern an Ort und Stelle überprüfen.
ELKE SCHUBERT
MARINO NIOLA: Totem und Ragù. Neapolitanische Spaziergänge. Deutsch von Anton Holzer und Benedikt Sauer. Luchterhand Literatur Verlag, München 2000. 168 Seiten, Abb. , 29,80 Mark.
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Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension

Recht ärgerlich findet der Rezensent Yaak Karsunke diese Sammlung von Kurzessays des Autors über seine Heimatstadt Neapel. Mal setzt Niola zu viel an Vorwissen voraus, kritisiert der Rezensent, dann wieder lässt er die "Vertrautheit" mit dem Gegenstand "vermissen". Geschrieben sei das Buch in kaum lesbarem Seminarstil, der, da ist sich Karsunke aber gar nicht sicher, in einem der Kapitel sogar persifliert wird. Das aber mache die Sache nicht besser und wenn schon nicht unterhaltsam, so doch immerhin interessant werde das Buch nur, "wenn es mit konkreten Details aufwartet".

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