Marktplatzangebote
5 Angebote ab € 4,90 €
  • Gebundenes Buch

Im Reich der alten Männer
In Sommernächten, wenn Vollmond herrscht, wandert der alt gewordene Pjotr Petrowitsch durch seine Datschensiedlung und beglückt die jungen Frauen der Nachbarschaft. Er dringt über die Veranda ins Schlafzimmer ein, setzt sich auf die Bettkante, betrachtet eine Weile verzückt die Schönheit der Schlafenden und versucht anschließend, ans Ziel seiner Träume zu gelangen. Was ihm erstaunlicherweise manchmal tatsächlich gelingt.
Doch meist nehmen diese nächtlichen Abenteuer eine böse Wendung. Mal wird Petrowitsch vom Ehemann verprügelt oder von einer Frau im reiferen
…mehr

Produktbeschreibung
Im Reich der alten Männer

In Sommernächten, wenn Vollmond herrscht, wandert der alt gewordene Pjotr Petrowitsch durch seine Datschensiedlung und beglückt die jungen Frauen der Nachbarschaft. Er dringt über die Veranda ins Schlafzimmer ein, setzt sich auf die Bettkante, betrachtet eine Weile verzückt die Schönheit der Schlafenden und versucht anschließend, ans Ziel seiner Träume zu gelangen. Was ihm erstaunlicherweise manchmal tatsächlich gelingt.

Doch meist nehmen diese nächtlichen Abenteuer eine böse Wendung. Mal wird Petrowitsch vom Ehemann verprügelt oder von einer Frau im reiferen Alter, zu der er sich verirrt hat, mit Schlaftabletten außer Gefecht gesetzt, mal landet er in der Psychiatrie. Doch die jungen Schönen sind Petrowitsch nicht wirklich böse, man kennt ihn ja im ganzen Dorf als 'Schlafwandler', manchmal laden sie ihn später gar auf ein nachgeholtes Schäferstündchen ein. Nur die schöne blonde Dascha hat etwas gänzlich Anderes mit Pjotr vor. Denn Dascha fühlt sich in ihrer Luxusdatscha wie im Gefängnis. Sie schnappt sich Petrowitsch und fährt mit ihm nach Moskau geradewegs zum Weißen Haus. Dort herrscht der Kampf zwischen Präsident Jelzin und dem Parlament, die Panzer sind bereits aufgefahren. Petrowitsch geht verloren im Getümmel, doch als er plötzlich nackt im Scheinwerferlicht steht, verstehen das die Truppen als Zeichen der Kapitulation; und der Johannistrieb triumphiert durch seine befriedende Macht.

"Selten läßt sich aus einem Roman, der unterhaltende wie intellektuelle Qualitäten besitzt, so viel über die psychische Innenausstattung eines Landes erfahren." Frankfurter Rundschau zu "Underground"
Autorenporträt
Wladimir Makanin, geb. 1937 in Orsk, war Mathematiker und Filmemacher, bevor er 1965 literarisch debütierte. Makanin gilt heute als »Klassiker« unter den gegenwärtigen russischen Schriftstellern. 1993 erhielt er den Booker-Preis, 1998 den Puschkin Preis für das Gesamtwerk, 1999 den russischen Staatspreis, 2001 den italienischen Penne-Preis und 2012 den Europäischen Preis für Literatur der Stadt Straßburg.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 28.11.2008

Die Last der Nymphe mit dem Satyr

Wladimir Makanins burlesker Roman erzählt von einem alten Mann mit einer alten Lust in einem alten Land.

Von Lena Bopp

Pjotr Petrowitsch liebt die Geisterstunde. Wenn der Mond aufgeht, wirft sich der alte Mann in Schale, zieht das dunkelgraue Jackett an, die dunkle Hose und eines der guten, weißen Hemden ("er hat zwei davon!"). Er verlässt sein Haus, durchstreift die Siedlung und wartet, bis hinter den Fenstern die Lichter ausgehen. Pjotr Petrowitsch ist kein Dieb. Er ist ein Mann, ein "alter Zausel", wie er selbst sagt, aber eben doch ein Mann - und als solcher sucht er in der Nacht nach einer Frau. Die Frauen kennen ihn. Petrowitsch ist der Narr des Dorfes, mondsüchtig, aber harmlos. Er ist von der Vorstellung beseelt, in fremde Schlafzimmer zu schleichen und den Frauen zuzuschauen - wie sie sich im Mondschein räkeln, wie ihre Laken verrutschen, wie sie schlaftrunken und nicht wissend, wer und wie ihnen geschieht, den Alten zu sich nehmen. Das ist sein Traum. Pjotr Petrowitsch tut viel, ihn sich zu erfüllen.

Er lässt sich zum Beispiel von einer gewissen Anna überreden, sich selbst in eine Irrenanstalt einzuliefern, aber nicht ohne der jungen Frau vorher das Versprechen abzuringen, ihn dort jedes Wochenende zu besuchen. Laut Psychiater stimmen seine Symptome mit dem bekannten Leiden alter Männer sowie "mit dem noch bekannteren Verhalten des Satyrs in einigen Mythen" überein. Pjotr Petrowitsch nimmt die Rolle des Unzurechnungsfähigen daraufhin nicht nur an, sondern macht sie sich zu Diensten: Die Krankenschwester Raja ist nur die erste von vielen Frauen, die er nun verführt.

Eines Tages begegnet Pjotr Petrowitsch der blonden Dascha, die ihn im Auto nach Moskau mitnimmt. Einfach nur so, denn er weiß gar nicht, was sie dort will, aber er weiß, dass er sie will, und das reicht. An diesem Tag drängt sich die Wirklichkeit in sein Leben: Wir schreiben den Herbst 1993, und die beiden fahren zum Weißen Haus, dem Sitz des Obersten Sowjets. Das Gebäude wird von Panzern belagert, schon bald wird Präsident Jelzin Befehl geben, den Sitz des Parlaments zu beschießen. Dort haben sich ein paar hundert Aufständische verbarrikadiert, die sich gegen die zuvor unrechtmäßig beschlossene Auflösung des Parlaments zur Wehr setzen. Die Historiographen - dieses Wissen setzt Wladimir Makanin voraus - haben den Sturm des Parlaments später als russische "Verfassungskrise" bezeichnet und als größten Aufstand im Land seit 1917. Außerdem gelten die Ereignisse als wichtiger Schritt auf dem Weg zu jener russischen Präsidialdemokratie, die wir heute kennen.

Dascha und Petrowitsch schlagen sich bis in das Weiße Haus durch, allerdings ist das Motiv der jungen Frau nicht politisch: Sie nimmt Drogen, ist auf Entzug und sucht nach einem Bekannten, der ihr neuen Stoff besorgen soll. Als sie im achten Stock des Parlamentsgebäudes zusammenbricht, nimmt Petrowitsch die Drogen. Im Rausch zieht er sich aus, tanzt in der Nacht auf dem Dach des Weißen Hauses und geht so in die Geschichte des Landes ein - als der Mann, der den Angreifern durch seine Performance zu verstehen gab: Wir kapitulieren! Im Mondschein, versteht sich.

Auf die große Party folgt eine bittere Erkenntnis.

Vielleicht ist es so, wie der russische Autor Wladimir Kaminer vor kurzem schrieb: Dass hinter jedem russischen Buch, das etwas auf sich hält, eine Gebrauchsanweisung steckt: "Wie leben und was tun." So gesehen gleicht auch der burleske Roman von Wladimir Makanin einer Suche nach Orientierung. Petrowitsch lebt in einem Land, dessen alte Ordnung zusammengebrochen ist, ohne dass eine neue bereits zu erkennen wäre. In diesem Schwebezustand vermag niemand zu sagen, wo er sich gerade befindet: Pjotr Petrowitsch nicht, der sein Dasein als Sonderling so sorgfältig pflegt; sein Neffe Oleg nicht, der als junger Soldat aus dem Tschetschenien-Krieges zurückkehrt; auch nicht die junge Dascha, die fernab jeglicher historischer Begebenheit ihre eigene Sinnsuche betreibt.

Makanin inszeniert die frühen neunziger Jahre, die Russland vor allem Verteilungskämpfe und Armut gebracht haben, als große Party und erotischen Rausch, an deren Ende allerdings eine bittere Erkenntnis steht. Denn der Protagonist mag sich am Rande des Irrsinns bewegen, als er aber durch das Weiße Haus geistert, auf das geschossen wird, begreift er plötzlich, "dass hier kein neues Russland entsteht . . . sondern eine Macht. Das ist alles. Nichts Besonderes, ihr Alten. So etwas kommt vor." Es ist dennoch keine beschwichtigende Nachricht. Und vielleicht ist das auch der Grund dafür, dass Petrowitsch sein Leben nach jener Nacht so fortführt, als wäre nichts geschehen: Er besucht seine Freundin Lidussja.

Hier zeigt sich der einzige Schwachpunkt des ansonsten phantastischen Sittengemäldes. Denn hier wird deutlich, dass der greise Petrowitsch nicht nur der Anti-Held des Romans sein soll, der spielerisch den Lauf der Geschichte bestimmt und dem desinteressierten russischen Publikum erklärt, was es unter der neuerlichen Episode zu verstehen hat. Stattdessen wirkt der Protagonist wie das Alter Ego des einundsiebzigjährigen Autors. Wenn Schriftsteller sich zu später Stunde berufen fühlen, siehe García Márquez oder Walser, von ihren Phantasien mit jungen Frauen zu erzählen, weiß der Leser oft nicht, ob er lachen oder weinen soll. Sicher ist nur, dass man manches so genau nicht wissen will.

Wladimir Makanin: "Der Schreck des Satyr beim Anblick der Nymphe". Roman. Aus dem Russischen übersetzt von Annelore Nitschke. Luchterhand Literaturverlag, München 2008. 443 S., geb., 22,95 [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
…mehr

Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension

Mit einer überraschenden Schlusspointe wartet Wladimir Makanins neuer Roman auf, berichtet Jörg Plath. Und die könne für einige Längen des Romans entschädigen, der anhand einer Datschensiedlung wie durch ein Brennglas ein Bild der russischen Gesellschaft entwerfe. Zugleich trägt die Handlung Züge eines Schelmenromans: Ein Rentner mit dem Allerweltsnamen Pjotr Petrowitsch steigt nachts jungen Frauen nach. Dieser moderne Satyr zeigt, entgegen einem klassische Topos, keinen "Schreck beim Anblick der Nymphe". Die Plath zufolge etwas "ermüdende" Serialität seiner Abenteuer wird erst unterbrochen, als eine seiner Eroberungen ihn auf der Suche nach ihren Dealern in das von Jelzins Truppen belagerte Weiße Haus einschleust. Und hier wird die karnevalistische Burleske zu einer Analyse gegenwärtiger Traumata der russischen Gesellschaft: Der vermisste Schrecken stellt sich angesichts der auf den geilen nackten Alten zielenden Panzerrohre ein, und der Satyr ahnt, dass die neue russische Gesellschaft im Zeichen der Gewalt stehen wird. Jörg Plath lobt ausdrücklich die Übersetzung durch Annelore Nitschke, die auch unterschiedlichen Stillagen gerecht werde.

© Perlentaucher Medien GmbH