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Die Gegend südlich von Rom wird von zwei Gegensätzen beherrscht: den kargen Lepinischen Bergen und den unter Musolini trockengelegten und besiedelten Pontischen Sümpfen. Nie haben sich die Bewohner der beiden Landschaften aneinander gewöhnt, zu unterschiedlich ist ihre Herkunft und Mentalität. Antonio Pennachi erfindet die Figur eines Erzählers, der aus der Ebene stammt und gegen seinen Willen beauftragt wird, einen Bericht über einen schrecklichen Doppelmord in einem kleinen Bergdörfchen zu schreiben. Über den Täter muss eine Art Blutrausch, eine "rote Wolke" gekommen sein, wie die Leute…mehr

Produktbeschreibung
Die Gegend südlich von Rom wird von zwei Gegensätzen beherrscht: den kargen Lepinischen Bergen und den unter Musolini trockengelegten und besiedelten Pontischen Sümpfen. Nie haben sich die Bewohner der beiden Landschaften aneinander gewöhnt, zu unterschiedlich ist ihre Herkunft und Mentalität. Antonio Pennachi erfindet die Figur eines Erzählers, der aus der Ebene stammt und gegen seinen Willen beauftragt wird, einen Bericht über einen schrecklichen Doppelmord in einem kleinen Bergdörfchen zu schreiben. Über den Täter muss eine Art Blutrausch, eine "rote Wolke" gekommen sein, wie die Leute sagen. Was der Erzähler daraufhin uns, den Lesern abliefert, ist alles andere als ein Bericht: Während er Fakten zusammenträgt und Polizeiprotokolle wiedergibt, kommentiert und terrorisiert er, verliert sich in absonderlichen, überraschenden und amüsanten Abschweifungen, streitet mit seinem Psychoanalytiker und taucht gleichzeitig tief hinein in die Geschichte dieser Landschaft, in der no ch die Erinnerung an die Römer oder die Zauberin Kirke lebt und das letzte rituelle Menschenopfer nicht lange her zu sein scheint.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 23.12.2002

Alles klar, Herr Kommissar?
Antonio Pennacchi löst den Krimi im Säurebad des Diskurses auf

Antonio Pennacchi hatte eine gute Idee. Bis Mitte der neunziger Jahre war er als Arbeiter in einem Kabelwerk beschäftigt. Dann studierte er Literatur - und begann Romane zu schreiben. Sein dritter gibt sich als Kriminalroman, eine blutige Geschichte von einem Doppelmord in den Bergen südlich von Rom. Doch sie ist nur ein Vorwand. Die Ermittlungen werden in diesem Fall über den Kriminalroman selbst geführt. Pennacchi bezichtigt ihn des fortgesetzten Betrugs. Sooft das Verbrechen den Glauben an das Gute im Menschen auch widerlegen mag - der Kriminalroman gibt die Hoffnung nicht auf. Liebäugelt seine Aufklärung nicht ganz offen mit jener anderen, großen, die seit zweihundert Jahren ihre moralische Hand über den Fortschritt hält? Oder floriert seine schöne Zuversicht nur deshalb, weil die Verhältnisse in Wirklichkeit gerade so nicht sind?

Diesen illusionären Tauschhandel, sonst eigentlich nicht der Rede wert, will Pennacchi aufdecken. Dadurch kommt heraus, was die Aufklärer des Kriminellen wirklich bewegt: Mit Scharfsinn und Methode spüren sie hinter der Untat eine Logik auf, die zum Täter führt. Sie wenden den klaren Verstand an, wo die Tat doch trüben oder blinden Leidenschaften folgt. Die 184 Messerstiche in den Opfern zeigen, daß das Verbrechen gerade seine eigenen, bestialischen Gründe hat. Wollte man diese Geschichte begrifflich etwas härter anfassen, so könnte man ihr zugute halten, daß sie dem Kampf nachgeht, den die Evidenz gegen die Hydra der Kontingenz führt.

Pennacchi tut ein übriges und läßt die Liebhaber von Kriminalromanen ins Leere laufen. Nichts ist am Ende gewiß, nicht einmal der Erzähler selbst. Hat er aus den "90 Prozent ungesühnter Delikte" gar den logischen Schluß gezogen, seinen Psychoanalytiker ungestraft überfahren zu können? Der (fingierte) Verleger dementiert hastig; das ganze Werk stimme nicht. Wirklich wahr ist nur der Zweifel an der Wahrheit, und so flimmert der Roman wie die Luft über den Pontinischen Sümpfen bei Rom, wo der Erzähler herkommt.

Für Problemvorrat wäre also gesorgt. Eine andere Frage ist allerdings, wie man's seinem Leser sagt. Pennacchi mutet ihm eine doppelte Askese zu. Loredana und Emmanuel, die Opfer, werden gefunden; die Nachforschungen richten sich nach allen Seiten. Je länger sie dauern, desto weitere Kreise zieht der Fall; die Verdächtigen mehren sich. Mit dem Widerstand des Verbrechens wachsen die Anstrengungen der Aufklärer. Nach den Carabinieri schalten sich die staatliche Polizei ein, die regionale Mordkommission und der Erzähler. Er wird - man weiß nicht, warum und von wem - seinerseits mit der Verfolgung der Wahrheit beauftragt. Er wiederum zieht einen Staatsanwalt a. D. zu Rate, seinen Psychiater, Zeugen, Protokolle, Bewohner - mit dem Ergebnis, daß das Faktum des Mordes in so vielen Widersprüchen aufgeht, daß es ihn eigentlich nicht gegeben haben kann. Die Versuche, den Fall zu lösen, lösen ihn auf.

Dahin wollte Pennacchi den Leser bringen. Aber muß er uns deswegen in ein "Seminar über die Mythologie der historischen Rekonstruktion" schicken? Gut, wir verstehen, daß Wahrheit, wo Menschen im Spiel sind, Fiktion bleibt. Aber das hatte schon Calvino durchgenommen. Immerhin: Pennacchi bleibt dabei nicht stehen. Sind wir, so fragt er, potentiell nicht alle Täter? "Erstaunlich ist nicht, daß hin und wieder jemand mordet, sondern daß die übergroße Mehrheit niemals mordet." Jeder (literarisch) aufgeklärte Mord müßte einen neuen provozieren, weil es ein großes Bedürfnis gibt, über Unerklärliches zu reden (und zu lesen). Das wäre insgeheim ein schönes Plädoyer für die Unwahrheit von Literatur.

Andererseits scheint dies ihn gerade zu einer raunenden Vertiefung des Falles verführt zu haben. Wenn der Mensch ein Tier ist, steht ihm auch eine solide mythische Abstammung zu. In dieser Absicht läßt der Autor im Hintergrund Saturn und Fortuna, Werwölfe, Nero und die ganzen Archetypen des kollektiven Unbewußten paradieren. Die einfache Wahrheit ist nicht zu haben. Hier wird zwar nicht philosophiert, aber auch nicht fabuliert. Der Fall dreht sich um seinen Text; die Unterschiede verschwimmen; die Übersicht schwindet. Auch wenn damit die falsche Selbstgewißheit eines literarischen Mordes abgetötet werden soll - es setzt dem Leser viel trockenes Textbrot vor. Wie gesagt: Pennacchi hatte eine gute Idee.

WINFRIED WEHLE

Antonio Pennacchi: "Eine rote Wolke". Roman. Aus dem Italienischen von Barbara Schaden. Luchterhand Literaturverlag, München 2001. 283 S., geb., 39,90 DM.

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Ein Kriminalroman, der keiner ist. Ja, mehr als das: ein Nicht-Kriminalroman, der Kriminalromane generell unter Verdacht stellt. Weil sie an Logik glauben, gerade da, wo es keine gibt, beim Verbrechen. Und weil sie auflösen, was im richtigen Leben unaufgelöst bleibt. Ein Mord geschieht auch hier, in diesem Buch, mit 184 Messerstichen gar. Eine Klärung freilich findet nicht statt, im Gegenteil. "Nichts ist am Ende gewiss, nicht einmal der Erzähler selbst", resümiert der Rezensent Winfried Wehle. Der Mord und die Ermittlung ziehen so weite Kreise, dass zuletzt alles undurchsichtiger ist denn je. Keine schlechte Idee das ganze, eigentlich, findet Wehle. Die Ausführung aber hat ihm keinen Spaß gemacht. Kriminalromanleser mal vor den Kopf zu stoßen, das ginge wohl noch an. Was Pennacchi stattdessen zu bieten hat, hat dem Rezensenten jedoch nicht recht munden wollen: zuviel Meta-Diskurs und, vor allem, "viel trockenes Textbrot."

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