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Am Ende seiner Wanderung an der Glatt entlang ist Franz Hohler um eine Erfahrung reicher. Eines Morgens hatte er sich vorgenommen, so lange an dem Fluß entlangzugehen, bis er dessen Mündung in einen größeren Fluss erreicht, doch als er dort endlich ankommt, steht er vor dem Eingang zu einem Tunnel, und seine romantischen Vorstellungen gleiten mit der Glatt hinweg in ein Staubecken, das deren Wasser auffängt und an den nächsten Wasserwirtschaftsweg weitergibt, genannt Rhein. Unterwegs ist in seinen Erzählungen nicht nur Franz Hohler, unterwegs sind auch die eigenwilligen Typen, denen er…mehr

Produktbeschreibung
Am Ende seiner Wanderung an der Glatt entlang ist Franz Hohler um eine Erfahrung reicher. Eines Morgens hatte er sich vorgenommen, so lange an dem Fluß entlangzugehen, bis er dessen Mündung in einen größeren Fluss erreicht, doch als er dort endlich ankommt, steht er vor dem Eingang zu einem Tunnel, und seine romantischen Vorstellungen gleiten mit der Glatt hinweg in ein Staubecken, das deren Wasser auffängt und an den nächsten Wasserwirtschaftsweg weitergibt, genannt Rhein. Unterwegs ist in seinen Erzählungen nicht nur Franz Hohler, unterwegs sind auch die eigenwilligen Typen, denen er begegnet. Ein alter, hagerer Bassist mischt sich unter die Gäste bei der Geburtstagsfeier einer Frau, die mit einem Bassisten, der vor Jahren gestorben ist, verheiratet war, und verschwindet wieder. Ein feixender Mann mit langen grauen Haaren läuft nackt um den Kölner Dom. In einem Berliner Lokal fragt ein Mann, wo er sich befinde, und als ihm gesagt wird, in Kreuzberg, steht dieser Mann auf un d sagt: Dann gehe er wieder zurück nach Spandau. Einige Menschen in Franz Hohlers Geschichten von Leben und Tod sind tatsächlich am Ende ihres Lebens angelangt, wissen das und sind dennoch auf eine ganz grundlose Weise fröhlich. Dieses Gefühl kennt auch der Autor, als er nach der Besteigung des Eigers, einer Herausforderung, der er sich ohne ersichtlichen Grund gerne gestellt hat, auf dem Weg zurück über einen Abgrund hinwegspringen und mit seinen Füßen auf einem winzigen Absatz im Fels gegenüber landen muss: Wie leicht ist ihm dieser Sprung gelungen, und wie sehr hatte er sich davor gefürchtet.
Autorenporträt
Franz Hohler, geboren am 1.3. 1943 in Biel (Schweiz), wuchs auf in Olten, machte 1963 in Aarau das Abitur und begann in Zürich, Germanistik und Romanistik zu studieren. Der Erfolg seines ersten Soloprogramms "pizzicato" veranlaßte ihn, sein Studium nach fünf Semestern abzubrechen. Mit verschiedenen Ein-Mann-Programmen gastierte er in vielen Ländern West- und Osteuropas, in Kanada, Marokko, Tunesien u.a.. Franz Hohler lebt als Kabarettist und Schriftsteller in Zürich. Seine Gedicht, Theaterstücke und Erzählungen wurden mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet. 2002 erhielt er den Kasseler Literaturpreis für grotesken Humor, 2005 den Kunstpreis der Stadt Zürich, 2013 den Solothurner Literaturpreis und im Jahr 2014 den Johann-Peter-Hebel-Preis.
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 06.06.2000

Literatur
Vom Rand der Zeit
Franz Hohlers neue Erzählungen:
„Zur Mündung”
Die fernöstliche Weisheit, dass nur, wer gegen den Strom schwimmt, zur Quelle gelange, hat den Schweizer Autor Franz Hohler seit den sechziger Jahren gegen die westliche Zivilisation und die von ihr angerichteten Flurschäden und Flächenbrände zu Felde ziehen lassen. Kunstvoll wie kaum ein anderer tobte er vom Bildschirm, aus dem Lautsprecher, von der Bühne und auf Papier gegen jene, die sich die Welt kaufen wollten, und jene, die ruhig dabei zusahen.
Frei von aller Ideologie, doch nicht wertfrei, bediente sich der wortgewandte Moralist theatralischer, filmischer und literarischer Mittel. In einer fernen Zeit, als Martin Walser noch mit DKP-Broschüren am Bodensee posierte und für kommunistische Verlage „Stationen Vietnams” notierte, veröffentlichte Franz Hohler seinen ersten Prosaband „Das verlorene Gähnen”. Schreibend stürzte er das Normale ins Skurrile oder kehrte Vertrautes ins Phantastische. Seine Bücher und Kabarettprogramme brachten hinter der Idylle die Apokalypse zum Vorschein.
Der Furor ist dahin, Walser und Hohler sind älter geworden – wie ihre Leserschaft. Doch während es Martin Walser immerhin zum deutschen Nationalschriftsteller gebracht hat, blieb Franz Hohler ein Außenseiter der Literatur, ein leidenschaftlicher Humanist mit Neigung zum Sentiment. Sein neuer Erzählband „Zur Mündung” trägt den Untertitel „37 Geschichten von Leben und Tod”. Welches Buch erzählt nicht „Geschichten von Leben und Tod”? Spätestens seit dem Gedichtband „Vierzig vorbei” wussten Hohlers Leserinnen und Leser, dass es auch einen Hohler gibt, der zur Rührseligkeit neigt und Lebensängste formuliert, ohne dabei die Empfindung selbst und ihre Folgen für die Handlung pointiert ins Groteske zu treiben. Wer erwartet, in der Titelgeschichte des neuen Erzählbandes passiere auf dem Weg „zur Mündung” des Flüsschens Glatt etwas Außergewöhnliches und daher Erzählenswertes, der irrt. Eine Busfahrt durch Zürich, Banktempel, Flugzeuglärm und irgendwann fließt die Glatt in ein Wasserkraftwerk. Das war’s. Rückfahrt mit Bus und Bahn.
Warum Passanten in Köln der Dom weniger interessiert als ein davor flanierender Exhibitionist, auch diese Frage aus „Ein nackter Mann” bewegt manche Leser weit weniger als den Autor. Am ehesten erinnert noch die braune Schreckensvision vom „Griff in den Schrank” an frühere Kurzgeschichten. Immer wieder kreuzt Gevatter Tod Hohlers jüngste Prosa, der friedliche und der aus dem Kosovo. Das macht betroffen, weckt Erinnerungen an eigene Erfahrungen und Fernsehbilder, doch literarisch überzeugt es „nicht wirklich”. Zuviel ist in den neuen Texten wirklich, zu wenig unwirklich. Er selbst thematisiert den Dualismus seiner Tages- und Nachtexistenz in „Ein Doppelleben”. Leider erzählt zu oft der gurgelnde, frühstückende, einkaufende Hohler, nicht der nächtliche Wanderer. Mr. Hyde ist immer interessanter.
Hohlers Sprache in diesem Band ist solide und schön, aber nicht aufregend. Fern einstiger Abgründe reiht der Autor Satz an Satz, Episode an Episode. „Zur Mündung” ist, wie vor dreißig Jahren „Idyllen”, ein Reisebuch. Abermals wurde aus Situationen in verschiedenen Orten, aus Erfundenem und Erlebtem, Literatur. Was den neuen Geschichten allerdings fehlt, ist der erzählerische Coup. Wie dem Ich-Erzähler einmal der Wind die Mütze vom Kopf gerissen hat und wie er sie vor einer Front wartender Autos trotz Rotlicht holen musste, das ist bestenfalls Lektüre für Lesezirkel stillender Mütter in Freiburg. Vielleicht hätte Hohler einfach das Flüsschen Glatt zur Quelle und nicht zur Mündung hin entlang gehen sollen. Da die Moral derzeit in der Krise steckt, braucht die Literatur moralische Geschichten „von Leben und Tod”, aber solche, die das Buchregal erzittern lassen.
MICHAEL BAUER
FRANZ HOHLER: Zur Mündung. 37 Geschichten von Leben und Tod. Luchterhand Literaturverlag, München 2000. 124 Seiten, 29,80 Mark.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
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Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 04.08.2000

Letzte Worte im Bergtheater
Franz Hohler folgt verborgenen Wasserläufen

Für Franz Hohler, der seit bald vierzig Jahren als Kabarettist auftritt, ist die Rede vom Welttheater keine leere Floskel. Die 37 Geschichten seines jüngsten Prosa-Bandes spielen auf verschiedenen Bühnen. Der Domplatz in Köln wird zum Schauplatz für den Auftritt eines anmutigen nackten Passanten; am schweizerischen Fahrkartenschalter entwickelt sich zwischen der Verkäuferin, einem indischen Reisenden und dem Erzähler ein Dreipersonenstück, das offen läßt, ob es sich um eine Farce oder eine Tragödie handelt. Eine Besteigung des Eiger schließlich führt direkt zu den Logenplätzen nicht des Burg-, sondern des "Bergtheaters". Der aufmerksame Beobachter Hohler offenbart sich als Regisseur, der mit geübtem Blick die großen und kleinen Inszenierungen unseres Alltags durchschaut und sie im Erzählen neu arrangiert.

"Geschichten von Leben und Tod" ist die Sammlung überschrieben, und so schildern diese Miniaturen - manche umfassen gerade eine Druckseite - denn auch immer wieder Grenzsituationen. Von den Mühen des Sterbens ist die Rede, von heiklen Operationen und gefährlichen Ausflügen, aber auch von geheimnisvollen Verbindungen zwischen der Welt der Lebenden und dem Reich der Toten, das als surrealer Wartesaal erscheint. Und wer weiß, ob der fremde Bassist auf einer Geburtstagsfeier nicht doch ein Bote aus dem Jenseits ist?

Allerdings erliegt Hohler nicht der Gefahr, sich in metaphysischen Spekulationen zu verlieren. Viel zu sehr empört ihn die irdische Gewalt, deren allgegenwärtige Spuren er als aufmerksamer Zeitzeuge nicht übersehen kann. Die Zufallsbegegnung mit einem kleinen Jungen stellt ihm das Elend der Kosovo-Flüchtlinge vor Augen; der Besuch im Wiener Stephansdom, begonnen auf den literarischen Spuren Adalbert Stifters, endet mit beklemmmenden Betrachtungen über den Holocaust. Ein Ausweichen in die Idylle ist nicht möglich, denn in diesen Geschichten hängt alles mit allem zusammen. Die kunstvolle Komposition des schmalen Bandes offenbart sich nur schrittweise: Häufig sind die einzelnen Abschnitte durch scheinbar nebensächliche Stichwörter miteinander verflochten, so daß eine feingesponnene Kette entsteht, die immer wieder die kleine Schweiz mit der großen Welt verknüpft.

Die kalkulierte Schlichtheit erinnert an die Kalendergeschichten von Hohlers berühmtem alemannischen Kollegen Johann Peter Hebel, der in seinem "Schatzkästlein" musterhaft vorgeführt hat, daß sich vermeintlich komplizierte Wahrheiten in einfachen Worten ausdrücken lassen. Freilich beschränkt sich Hohler nicht auf die Rolle des väterlichen Hausfreundes, der die Leser an seinen Erfahrungen teilhaben läßt. Ein Kabinettstück hintergründigen Humors ist der kurze Bericht über die Ehrung einer Hundertjährigen: Befragt nach ihrer schönsten Erinnerung, setzt die greise Jubilarin alle Anwesenden in Verlegenheit. Munter plaudernd erzählt die alte Dame von lustvollen Erlebnissen, die ihr wohl niemand zugetraut hätte. Es dürfte schwerfallen, dem heiteren Charme zu widerstehen, mit dem hier Vorstellungen über "würdiges" Altern unterlaufen werden.

Mit Betrachtungen über das labile Verhältnis von Natur und Zivilisation kehrt Hohler zu einem Thema zurück, das ihn schon lange beschäftigt. Die Titelgeschichte berichtet von dem vergeblichen Versuch, einem kleinen Fluß bis zu seiner Mündung zu folgen. Was zunächst nach dem skurrilen Einfall eines Gelegenheitsspaziergängers klingt, entpuppt sich zunehmend als Parabel über die weitreichenden Eingriffe des Menschen in seine Umwelt. Am Ende seiner Wanderung muß der Erzähler einsehen, daß das Unvorstellbare eingetreten ist und die natürliche Koordination nicht mehr gilt: Die Mündung des Wasserlaufs wurde durch ein Flußkraftwerk regelrecht annulliert.

Hohlers Zutrauen in die elementaren Kräfte der Natur ist jedoch zu groß, als daß er nur die Folgen der Umweltzerstörung beklagen könnte. Schon 1981 hatte er in der Erzählung "Rückeroberung" die allmähliche Metamorphose der Bankenstadt Zürich in einen undurchdringlichen Dschungel ausgemalt; jetzt beschreibt er minutiös die Rückverwandlung des ehemals kultivierten Maggaitals in ein grün wucherndes "Mayareich". Die letzte Geschichte öffnet den Blick in kosmische Dimensionen: Das Erlebnis einer Sonnenfinsternis - unschwer ist das gefeierte Großereignis des vergangenen Sommers zu erkennen - führt den Bergsteiger in 4500 Meter Höhe zu apokalyptischen Ahnungen. Im Mondschatten, fröstelnd zwischen Himmel und Erde, bleiben auch dem pointensicheren Kabarettisten nur noch ernste Worte für die conditio humana.

SABINE DOERING

Franz Hohler: "Zur Mündung. 37 Geschichten von Leben und Tod". Luchterhand Literaturverlag, München 2000. 126 S., geb., 29,80 DM.

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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension

Mit staunen, zuhören, hinhorchen, "selbst nachschauen" und " - vielleicht - berichten" umschreibt Bruno Steiger die "Lebensdevise" von Franz Hohler, die er zugleich als dessen Schreibmaxime propagiert. Die sich selbst zurücknehmende Haltung des Staunens, die Steiger in allen Sätzen und Texten Hohlers auszumachen vermeint und in einen "sprach- und erkenntniskritischen Kontext" rücken läßt, macht für den Rezensenten die besondere Qualität von Hohlers Kurzprosa aus, die der Autor seit nunmehr 30 Jahren vorlegt. Seine neuesten Geschichten sind kleine Beobachtungen und Kommentare zum Tagesgeschehen, in denen wir "Anteil am Allergewöhnlichsten"
"Franz Hohler nimmt in diesen Geschichten Anteil am Allergewöhnlichsten, unter der Hand verwandelt es sich aber in denkbar Ungewohntes, ja Ungeheuerliches ..." Neue Zürcher Zeitung