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Die Moderne erzählt sich selbst ihre Geschichte immer wieder: Seit die Religion überwunden ist, glaubt die angeblich aufgeklärte, humane, liberale Menschheit an den Fortschritt. Sie glaubt an Veränderung, an ihre Vervollkommnung und ihre Güte. Mit dem Aufkommen der modernen Wissenschaft weitete sich der Blick - eine Verbesserung schien jederzeit möglich. Das wachsende Wissen ermöglichte es dem Menschen, sein Schicksal selbst in die Hand zu nehmen, so das Credo des liberalen Humanismus. Ihn und alle Fortschrittsphantasien unterzieht John Gray in seiner Tour dHorizon einer grandiosen wie vernichtenden Kritik. …mehr

Produktbeschreibung
Die Moderne erzählt sich selbst ihre Geschichte immer wieder: Seit die Religion überwunden ist, glaubt die angeblich aufgeklärte, humane, liberale Menschheit an den Fortschritt. Sie glaubt an Veränderung, an ihre Vervollkommnung und ihre Güte. Mit dem Aufkommen der modernen Wissenschaft weitete sich der Blick - eine Verbesserung schien jederzeit möglich. Das wachsende Wissen ermöglichte es dem Menschen, sein Schicksal selbst in die Hand zu nehmen, so das Credo des liberalen Humanismus. Ihn und alle Fortschrittsphantasien unterzieht John Gray in seiner Tour dHorizon einer grandiosen wie vernichtenden Kritik.
Autorenporträt
John Gray, geboren 1948, ist Professor für Europäische Ideengeschichte an der London School of Economics. Durch zahlreiche Sendungen für die BBC wurde er weltweit bekannt, wie auch als Autor herausragender Bücher gefeiert: 'Die falsche Verheißung. Der globale Kapitalismus und seine Folgen'; ferner der Weltbestseller 'Straw Dogs'; dt. 'Von Menschen und anderen Tieren'.
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 10.03.2015

Endloses Zerfleischen
Für John Gray ist der Mensch das Lebewesen, mit dem etwas nicht
stimmt, alle die Ideale und Besserungsabsichten sind Wahnvorstellungen.
Doch der wuchtige Anti-Humanismus widerspricht sich selbst
VON GUSTAV SEIBT
Die Natur ist böse, sagt John Gray, der Ideenhistoriker und populäre Pessimist aus England: „Wir sehen selten die Knochen des Schmerzes, die über dem grünen Sommertag hängen. Die Wälder und Felder und Gärten sind Orte endlosen Erstechens, Zerquetschens und Zerfleischens. Wir sehen nur, was an die Oberfläche tritt: die Farbe, den Gesang, den Nestbau und das Füttern.“ Doch gerade dieses, das Füttern, setzt eine Todesmühle in Gang, und wenn hübsche Dompfaffen Knospen abbeißen oder wenn ein edler Wanderfalke einem kleineren Vogel das Genick bricht, dann hört man sie knirschen, als Grundlaut der Reproduktion, des Kreislaufs der Natur. „Ich glaube nicht“, so Gray, „dass wir einen klaren Blick in die Tierwelt ertragen könnten.“
  Und dann erst die Menschenwelt! Auch die Weltgeschichte ist eine einzige Todesmühle. Selbst oder gerade die Aufschwünge zum Besseren führen zu vervielfachten Schrecken, zum Despotismus der Freiheit in den revolutionären Regimen, zur totalen Unterwerfung der Seelen in totalitären Diktaturen, zur Entfesselung der Verfolgungswut durch das angebliche Recht auf Selbstbestimmung, das man Völkern zubilligt, die sich erst als solche konstituieren müssen, bevor sie darangehen, ihre Nebenvölker abzuschlachten.
  All das geschieht im Zeichen des „Fortschritts“. Der Export der Zivilisation durch Kolonialismus führte direkt ins Herz der Finsternis, das jeden Kannibalismus der angeblich Wilden übertrumpfte, und die Ungleichheit in den USA heute ist, so glauben Sozialhistoriker, größer als die in der spätrömischen Sklavenhaltergesellschaft. Das Amalgam von Zivilisation und Bestialität ist noch furchtbarer als die natürliche Bestialität des Fressens und Gefressenwerdens. Grausamkeit ist Bestialität mit Bewusstsein und Überlegung, also etwas genuin Menschliches. Alle Ideale, alles Streben nach Glück, so setzt Gray seine stammesgeschichtliche Argumentation fort, sind illusionär. Der Mensch bleibt das Lebewesen, „mit dem etwas nicht stimmt“, es hat eine Sehnsucht zum Besseren, die so verkehrt ist, wie die Hoffnung von Fischen, die davon träumen würden, endlich in die Luft fliegen zu können, anstatt ewig im Wasser zu paddeln. Das eigentlich Diabolische an diesem verkehrten Ideal aber ist der Umstand, dass es tatsächlich Fische gibt, die für ein paar Sekunden über die Wasseroberfläche springen können, mutmaßlich heftig nach ihrem heimischen Element schnappend, aber immerhin. Und doch macht das Ideal am Ende nur unglücklich, weil es, jedenfalls in geschichtlich überschaubaren Zeiträumen, unerreichbar ist.
  Was bleibt einem so beredten, wenn auch nicht besonders gedankenreichen Pessimisten? Einsicht, Ergebung, der Versuch einer existenziellen Selbstbeschränkung, die aus philosophischer Relativierung überspannter Ideale kommt. „Anti-Humanismus“, so nennt Gray sein Programm, als Lebensweisheit, die möglicherweise eine ebenso intensive gedankliche Anstrengung erfordert wie der Atheismus auf dem Feld des Glaubens: nicht einfach eine zweifelnde Abwesenheit des Gottglaubens, sondern der intensive Glaube, dass kein Gott sei.
  Wer das Streben nach Glück und menschlicher Verbesserung aufgibt, gewinnt eine kleine neue Glückschance, die aus Enttäuschungsfreiheit und einer entspannenden Reduktion von Anstrengungsanforderungen erwächst, um es so nüchtern wie möglich auszudrücken. Einer der Gewährsleute Grays ist Sigmund Freud, der nicht Heilung für seine Patienten anstrebte, sondern stabile Zustände der Existenz mit dem im Kern Unversöhnbaren.
  Solches behelfsweises Lebenlernen mit den heillosen Bedingungen der Existenz führt Gray mit vielen Zitaten aus moderner englischsprachiger Lyrik vor, aber auch mit dem Leben des Ornithologen J.A. Baker, der in einer langen Übung des Beobachtens seine Wahrnehmung ins Vogelartige verwandelte – dabei werden auch die Zeugnisse menschlicher Zivilisation, asphaltierte Straßen oder sogar der nistplatzreiche Großbau des Britischen Museums zu Naturphänomenen, nicht unterscheidbar von Stränden oder gezackten Felsen. Wenn Vögel Nester bauen, dann die Menschentiere eben Straßen und Häuser.
  Dieser wuchtige Anti-Humanismus, der nicht nur die Möglichkeit von Heilung und historischer Verbesserung leugnet, sondern auch die Sonderstellung des Menschen im System der Natur, kommt allerdings an logische und moralische Grenzen, die auch Grays beredte Darlegung nicht übersehen lässt. Die logische Grenze ist ihr performativer Widerspruch: Wer die Sonderstellung des Menschen mit allerbesten Gründen bestreitet, beweist eine Fähigkeit zur Selbstrelativierung, von der wir bei anderen Lebewesen nichts wissen. Die Unheilbarkeit einer Existenz, „mit der etwas nicht stimmt“, ist Folge eines Bewusstseins, das Gray gering schätzt, das aber der Ausgangspunkt von Geschichte wird, mit allen ihren Katastrophen. Die moralische Grenze besteht in der Frage nach dem Einverständnis, dem Sich-Zufriedengeben. Wem bei Betrachtung der Bestialität unwohl wird, der hat den Schritt aus dem Kreislauf des Schreckens hinaus schon getan.
  Es gibt einen sarkastischen und einen mitfühlenden Zweifel am Humanismus, die man mit den Namen des Marquis de Sade (der bei Gray nicht erscheint) und Schopenhauers (den er zitiert) bezeichnen kann. Und kennt nicht auch die stumme Natur Spuren von Zuwendung, Hilfe und Verbundenheit? Das moralische Minimum sozialer Ideale mag vom „Fortschritt“ absehen, von allen Hoffnungen eines künftigen Gleichgewichts sowieso, aber darf es Verzicht tun auf das ganz leiblich begründbare Streben nach Freiheit von Schmerz und Angst?
Selbstbeschränkung statt
überspannter Hoffnungen – das
verheißt Gewinn an Glück
Mit dem Unbehagen angesichts
der Bestialität beginnt der
Austritt aus dem Schreckenskreis
  
  
  
  
John Gray: Raubtier Mensch. Die Illusion des Fortschritts. Aus dem Englischen von Hans Freundl. Verlag
Klett-Cotta, Stuttgart 2015. 205 Seiten, 19,95 Euro.
John Gray glaubt nicht, dass wir einen
klaren Blick in die Tierwelt ertragen würden, in den Kreislauf von Fressen und
Gefressenwerden.
Foto: Mary Evans / Natural History Museum
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension

Sehr elegant fertigt Gustav Seibt den schwarzen Prinzen der modernen britischen Philosophie ab. Sein Anti-Humanismus sei wuchtig, aber nicht gedankenreich, schreibt er. Wortreich beschwöre Gray die Schwärze des Universums, in das wir mit unserem Unglück, geboren zu sein, hineingeworfen sind. Den Fortschritt fertigt er ab wie nur einer, dem noch nie ohne Betäubung im Zahn gebohrt wurde. Alles ist Gray grässlich, glaubt man Seibts Resümee. Unter blühenden Frühlingswiesen sieht er nur das Gemetzel der Nahrung mordenden Tiere, und der Mensch ist in diesem Universum auch nur Marionette dunkler Triebe. Für Gray bleibt am Ende nur ein ermüdetes Arrangement mit dem Gegebenen, diagnostiziert Seibt, der Gray en passant auf ein paar Denkfehler aufmerksam macht, etwa den, dass der Mensch, anders als die Tiere, sich per Selbstrelativierung eines Besseren besinnen kann.

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