15,00 €
inkl. MwSt.
Versandkostenfrei*
Sofort lieferbar
payback
0 °P sammeln
  • Gebundenes Buch

1 Kundenbewertung

Rousseaus Werk und seine Existenz repräsentieren alle Hoffnungen, alle Nostalgien und alle Widersprüche des modernen Bewusstseins. "Er ist unser aller Vater", schreibt Claude Lévi-Strauss: Revolution und Restauration, liberaler Rechtsstaat und populistische Diktatur, antiautoritäre Pädagogik und Totalitarismus berufen sich auf ihn.
Aller Streit um den »wahren« Rousseau ist vergeblich. Für jede Verirrung Rousseaus gibt es auch eine Kritik, die sich bei Rousseau selbst findet.
Das spätmoderne Individuum wurde schon von Rousseau unnachsichtig entlarvt. Und dennoch stilisierte sich der »arme
…mehr

Produktbeschreibung
Rousseaus Werk und seine Existenz repräsentieren alle Hoffnungen, alle Nostalgien und alle Widersprüche des modernen Bewusstseins. "Er ist unser aller Vater", schreibt Claude Lévi-Strauss: Revolution und Restauration, liberaler Rechtsstaat und populistische Diktatur, antiautoritäre Pädagogik und Totalitarismus berufen sich auf ihn.
Aller Streit um den »wahren« Rousseau ist vergeblich. Für jede Verirrung Rousseaus gibt es auch eine Kritik, die sich bei Rousseau selbst findet.

Das spätmoderne Individuum wurde schon von Rousseau unnachsichtig entlarvt. Und dennoch stilisierte sich der »arme Jean-Jacques« wie kein Zweiter vor oder nach ihm als zerrissene Persönlichkeit. Diesen fundamentalen Widersprüchen im Denken Rousseaus und seiner Persönlichkeit geht Robert Spaemann auf den Grund. Rousseau wurde zum Vorläufer des modernen Menschen, der auch das 21. Jahrhundert bestimmen wird.
Autorenporträt
Spaemann, Robert
Robert Spaemann, geboren am 5. Mai 1927 in Berlin, studierte Philosophie, Romanistik und Theologie in Münster, München und Fribourg. Von 1962 bis 1992 lehrte er Philosophie an den Universitäten in Stuttgart, Heidelberg und München, wo er 1992 emeritiert wurde. Robert Spaemann hatte zahlreiche Gastprofessuren inne, erhielt mehrere Ehrendoktorwürden und war 2001 der Träger des Karl-Jaspers-Preises der Stadt und der Universität Heidelberg. Robert Spaemann, einer der führenden konservativen Philosophen im deutschsprachigen Raum, starb am 10. Dezember 2018.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 15.10.2008

Unser ungewollter Geburtshelfer
Robert Spaemann erkennt im Scheitern Rousseaus an den eigenen Idealen eine radikale Form des Beisichselbstseins / Von Henning Ritter

Zu den fundamentalen Lehren Rousseaus gehört die These, dass der Mensch eine "totale Entfremdung" durchmachen müsse, um sich in einen Bürger - im Sinne von Citoyen - zu verwandeln, und dass diese Verwandlung unter modernen Bedingungen, also nach dem Sieg des Christentums über die Antike, nicht mehr restlos gelingen könne. Der moderne Bourgeois sei hin und her gerissen zwischen seinem Menschsein und dem Wunsch, Bürger zu sein. Diese Lehre Rousseaus, die im "Gesellschaftsvertrag" ausdrücklich formuliert wird, macht auch den dunklen Fond seines umfangreichen übrigen Werks aus. Wenn er beispielsweise sein berühmt gewordenes Erziehungsbuch "Émile" schreibt, so sind die vielen hundert Seiten allein darauf angelegt, einen Zögling in einer künstlichen Zone von Natürlichkeit heimisch zu machen.

Der Gegensatz von Homme und Citoyen wird spürbar auch dort, wo von ihm nicht die Rede ist. Alles, was Rousseau gesagt hat, ist eine Antwort auf das ursprüngliche Dilemma, die Spannung von Natur und Gesellschaft, als Verhaltensideal gefasst. So verherrlicht Rousseaus erster Discours das politische Ideal und scheint eine Wiederbelebung der antiken Tugend für möglich zu halten, während sein zweiter Discours wenig später die Karte der Natur ausspielt, freilich im Interesse des politischen Ideals. Da aber alle Kompromisse zwischen den beiden Idealbildern ebenso unmöglich sind wie ein Überideal, in dem sie verschmelzen könnten, durchkreuzt der zweite Discours die Erwartungen, die der erste geweckt hatte.

Rousseaus Werk gehörte in den vergangenen Jahrzehnten zweifellos zu den am intensivsten interpretierten Werken der Philosophie des achtzehnten Jahrhunderts. Nachdem die These seiner "Schuld" an der Französischen Revolution - "c'est la faute à Rousseau" - in den Hintergrund getreten war und die Linie, die von ihm zu Marx führt, an Interesse verloren hatte, trat eine Interpretation hervor, die den Zusammenhang seiner Ideen in der Struktur seines Werks aufsuchte. Robert Spaemann stand mit seinem frühesten Aufsatz von 1962 bei diesem Orientierungswechsel sozusagen in vorderster Linie. Die sozialistische Aufhebung der Selbstentfremdung ist ihm als ein rousseausches Erbe noch geläufig, und Rousseaus Philosophie erscheint in den dramatischen Bewandtnissen seiner Lebensgeschichte als eine Vorform des existentialistischen Gestus.

Was Rousseau für Robert Spaemann seinerzeit so anziehend machte, war die Entschiedenheit, mit der dieser das uneinholbare Novum des Christentums in der Alten Welt außer jeden Zweifel stellte und die Unvereinbarkeit in den Gestalten von Sokrates und Jesus hervorhob: der eine ein Mensch, der andre ein Gott. Rousseau hielt das Christentum für die schlechthin wahre Religion, die "Religion des Menschen", mit deren Auftreten alle Politik sich änderte, da nun die totale Entäußerung an die Gemeinschaft nicht mehr möglich war. Die politischen Institutionen trafen nun überall auf den Vorbehalt der christlichen Gemeinschaft der Gläubigen und ihres Halts im Jenseits. Seitdem kann es keine Identität des Citoyen mit der politischen Institution mehr geben. Diese Frage hat sich erledigt und in eine andere transformiert: Die einzige denkbare Identität des Menschen ist die mit sich selbst.

Dieser Gedankengang, den Spaemann zustimmend akzentuiert, wird freilich von jenen Theoriestücken gleichsam unterlaufen, mit denen Rousseau als Vorläufer der Revolution gelten konnte. Trotz aller Versicherung, dass sein historisch greifbarer Einfluss geringfügig gewesen sei, behält das Zeugnis der Revolutionäre wie Robespierre sein Gewicht. Mit Blick auf die Französische Revolution darf man wohl sagen, dass Rousseau sein Christentum, das er als einzig wahre Religion feierte, auf dem Altar der politischen Utopie des "Contrat social" geopfert hat. Denn die "religion civile", die dort als letzter Halt den politischen Institutionen aufgesetzt wird, ist zweifellos, wie auch immer es um christliche Elemente darin bestellt sein mag, nicht jene universalistische Religion des Menschen, als die Rousseau das Christentum gefeiert hat.

Allenfalls handelt es sich um eine Säkularisierung des Christentums, wie die Revolution sie auch sonst vollzog: Aus dem Christentum machte die revolutionäre "Erklärung der Rechte des Menschen und Bürgers", wie Karl Löwith prägnant hervorgehoben hat, eine Humanitätsreligion, das Geschöpf im christlichen Verständnis wurde zum natürlichen Menschen, die Freiheit des Christenmenschen wurde zur bürgerlichen Freiheit im Staat und schließlich das religiöse Gewissen zum freien Austausch der Gedanken und Meinungen. Die universale Religion des Menschen, so hatte Karl Löwith befunden, sei wahr, aber unnütz, die partikularen heidnischen Staatsreligionen dagegen seien nützlich, aber nicht wahr.

Weil das Christentum eine Vermittlung zwischen den beiden Polen von Natur und Gesellschaft nicht leistet, bleibt nur ein immer wiederholter Pendelausschlag zwischen Natur und Gesellschaft und ihren Forderungen, der sich in den Schwankungen des Rousseauschen Werks darstellt. Die bedeutendste Einsicht, die sich im Lauf der Zeit kristallisiert - Robert Spaemann nennt es Rousseaus Entdeckung des Hervortretens der Subjektivität aus den geschichtlichen Bedingungen der fortgeschrittenen Zivilisation - dürfte die Rechtfertigung der Außenseiterexistenz und damit einer Gesellschaft sein, die die Subjektivität in ihrer abgründigen Unberechenbarkeit freisetzt.

In jedem seiner hier gesammelten Aufsätze zitiert Spaemann einen bemerkenswerten Satz aus "Naturrecht und Geschichte" von Leo Strauss, in dem diese Form der Rechtfertigung einer Gesellschaft durch das, was sie aus sich entlässt, ohne es wieder integrieren zu können, meisterhaft formuliert ist: Die höchste Rechtfertigung der bürgerlichen Gesellschaft sei für Rousseau die Tatsache, "dass diese Gesellschaft es einem bestimmten Typ von Individuen erlaubt, das höchste Glücksgefühl durch den Rückzug aus der Gesellschaft, das heißt durch ein Leben an ihrem Rande zu genießen".

Es ist das Leben des "solitaire", des Eremiten, des Fremden in der Gesellschaft (man denke an Rousseaus letzte Lebensjahre, als er anonym in Paris lebte). Der Philosoph des Gesellschaftsvertrags und der Liebhaber von dichtgeknüpften Banden der Geselligkeit entdeckte, nach wiederholten Fluchterfahrungen, diese Einsamkeit in der Gesellschaft erst spät, dann aber wurde sie für ihn zur fundamentalen Erfahrung. Es war aber nicht nur die solitäre Existenz, die der alternde Rousseau entdeckte - für sie gab es viele Beispiele in der Geschichte, von den stoischen Weisen bis zu manchen christlichen Heiligen -, sondern die Einsicht, dass sein Naturideal der Autarkie sich nicht in der Natur verwirklichen ließ oder eine neue Welt hervorbrachte, sondern dass man am Rande der Gesellschaft und ohne Verbindlichkeit für andere den Naturgesetzen gemäß leben, ihnen in Meditationen gemäß und als "Naturmensch" existieren kann.

Robert Spaemann sieht hierin eine Art epochaler List der Vernunft: Auf diesem Wege über den Außenseiter und Künstler, der bei der politischen Realisierung des Naturideals notwendig scheitern musste, kommt es zur Anerkennung einer radikalen Form des Beisichselbstseins, die in der Welt der antiken Staaten nicht möglich war und nur im Durchgang durch das Christentum verwirklicht werden konnte. Dass Rousseau, der die Suche nach an die Gemeinschaft entäußerten Existenzmöglichkeiten so weit getrieben hatte wie kaum ein anderer Philosoph, in seinem ungewollten Solipsismus verharrte, ist eine der bleibenden Irritationen dieses Werks.

Diese nur an einzelnen Individuen hervortretende Existenzform sei, so meint Spaemann, die Vorform einer neuen geschichtlichen Epoche, in der es sogar eine Politik der Subjektivität geben und die Politik sogar als deren Garant verstanden werden kann: die Ära des modernen Liberalismus, etwa eines Benjamin Constant, der die moderne subjektive Freiheit übrigens ausdrücklich rousseaukritisch begründet. Rousseau würde dann ungewollt zum Geburtshelfer der liberalen bürgerlichen Gesellschaft. Grundsätzlich erklärt Spaemann in diesem Sinne auch, dass die "Natur" überhaupt ein "Spätprodukt" sei.

Die hier wieder gesammelten Aufsätze wurden in der Zeit einer starken, ja exzessiven philosophischen Betonung der Geschichtlichkeit des Menschen geschrieben. Der Versuch, Rousseau in diese Bewegung der Geschichtlichkeit einzubinden, ist dabei weniger ergebnisreich als Spaemanns Freilegung der unteleologischen Naturauffassung Rousseaus, die die Geschichte zum Reich des Zufalls macht. Rousseau zufolge ist die Kultur nicht in der Natur angelegt, nicht aus ihr entwickelt. Man kann auch umgekehrt sagen: Der Mensch schuldet der Natur keine Kultur. Angesichts heutiger Bestrebungen, eine darwinistisch aufgefasste Kontinuität von Natur und Kultur herzustellen - "darwinizing culture" heißt die Devise -, ist Rousseaus Auffassung des Verhältnisses beider von einer geradezu brutalen Nüchternheit. Es ist dieser unbestechliche zivilisationspessimistische Denker Rousseau, der die seitherigen philosophischen Moden überdauert hat.

Robert Spaemann: "Rousseau - Mensch oder Bürger". Das Dilemma der Moderne. Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2008.156 S., geb., 14,90 [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
…mehr

Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension

Christian Schlüter freut sich über den philosophisch-politischen Nachschub aus der essayistischen Feder von Robert Spaemann, der wie nur wenige die kurze Form als argumentative "Intervention"  beherrscht, so der Rezensent. Daher stellen die vier, bisher zum Teil in alle Winde verstreuten Aufsätze über Rousseau, denen gemeinsam ist, dass sie den Franzosen, um mit dem Autor zu sprechen, als "exemplarische Existenz" der Moderne begreifen, auch eine "Fundgrube" dar. Spaemann stellt die Frage nach der Modernität an den Widersprüchen und Überempfindlichkeiten Rousseaus und seiner Zivilisationskritik, in der die Natur über allem steht und sie zugleich nicht mehr zielgerichtet ist. Somit sind sowohl der Revolution wie der Restauration Tür und Tor geöffnet, die "moderne Subjektivität", die sich in Rousseau vereint, "findet durch ihn auch ihre unnachsichtige Entlarvung", wie Schlüter zitiert. In ihm fallen Anfang und Ende der Moderne zusammen, insofern gilt: "Rousseau steht uns also noch bevor", so der Rezensent.

© Perlentaucher Medien GmbH