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Das tägliche Fernsehprogramm mit seinen Talkshows, Nachrichten, Seifenopern verrät es: Überall nimmt ein neuer Leittypus Gestalt an. Seine Gefühlswelt ist gekennzeichnet durch andauerndes Verlangen nach Aufregung, Oberflächlichkeit und theatralischer Inszenierung, in der Gefühle lediglich dargestellt, aber nicht wirklich empfunden werden. In einer subtilen Betrachtung werden die Hintergründe ausgeleuchtet, vor denen das Fernsehen dieses neue Normalitätsmodell in Szene setzt. Und es werden die fatalen Folgen aufgezeigt, den dieser medial modulierte Sozialtypus für die Politik, das Berufsleben,…mehr

Produktbeschreibung
Das tägliche Fernsehprogramm mit seinen Talkshows, Nachrichten, Seifenopern verrät es: Überall nimmt ein neuer Leittypus Gestalt an. Seine Gefühlswelt ist gekennzeichnet durch andauerndes Verlangen nach Aufregung, Oberflächlichkeit und theatralischer Inszenierung, in der Gefühle lediglich dargestellt, aber nicht wirklich empfunden werden. In einer subtilen Betrachtung werden die Hintergründe ausgeleuchtet, vor denen das Fernsehen dieses neue Normalitätsmodell in Szene setzt. Und es werden die fatalen Folgen aufgezeigt, den dieser medial modulierte Sozialtypus für die Politik, das Berufsleben, ja bis in die intimen Verästelungen der Familie hat.

Winterhoff-Spurk benennt die Ursachen für den gesellschaftlichen Wandel und appelliert, den suggestiven Schleichwegen des »heimlichen Erziehers« Fernsehen endlich etwas entgegenzusetzen.

Autorenporträt
Peter Winterhoff-Spurk ist Professor für Psychologie und Leiter der Arbeitseinheit für Medien- und Organisationspsychologie an der Universität des Saarlandes in Saarbrücken. Er gehört zu den »führenden Repräsentanten psychologischer Medienforschung in Deutschland mit einem wachen Interesse an der pädagogischen Medienpraxis« (medien praktisch).
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 19.10.2005

Die Kanäle der dünnen Gefühle
Peter Winterhoff-Spurk über die Neurosen der Fernsehzuschauer

Das deutsche Fernseh-Niveau ist im vergangenen Jahrzehnt konsequent nach unten, unser Konsum desselben dagegen nach oben gepegelt: Dreieinhalb Stunden pro Tag verbringt der Deutsche im Durchschnitt vor dem Kasten, so viel wie nie zuvor. Warum und mit welchen Folgen wir uns das antun, hat der Saarbrücker Medien- und Organisationspsychologe Peter Winterhoff-Spurk untersucht.

Ausgiebig wildert der Wissenschaftler auf den Territorien der Nachbardisziplinen, allen voran der Soziologie und der Pädagogik. Obwohl die Recherche eine Menge hinlänglich bekannter Fakten zutage fördert, bündelt Winterhoff-Spurk seine Funde zu einer überzeugenden These: Fernsehen ist "ein Psychotonikum fürs Volk", eine Art Religionsersatz, der Bindung simuliert und deshalb gerade die bindungsarmen Individuen der Globalisierungsgesellschaft anspricht.

Winterhoff-Spurk sieht einen neuen Sozialtypus auf dem Vormarsch, dessen Lebenserfahrung von Bindungsunsicherheit - im Elternhaus, am Arbeitsplatz, später in der eigenen Familie - gekennzeichnet ist: den "Histrio", eine Fortschreibung des "hysterischen Charakters", den die Psychiater als frauenfeindliches Begriffsmonstrum aus ihrer Nomenklatur entsorgt haben. Auch wenn es sich um einen verkappten Etikettenschwindel handelt, muß man zugeben, daß die Merkmale der hysterisch-histrionischen Spezies weit verbreitet sind. Auf den Mangel an familiärer, betrieblicher und sozialer Bindung reagiert ihresgleichen mit "schnellen und oberflächlichen Gefühlen, egozentrischem Denken, inszeniertem Verhalten".

Paradoxerweise treibt der "Histrio" die Königstugenden der modernen Dienstleistungsgesellschaft - Flexibilität, Mobilität und Selbstdarstellung - auf die Spitze: "Individualität meint heute eher inszenierte Singularität, gekonnte Dekoration ersetzt intensive Charakterbildung." Die Folgen sind emotionale und kognitive Verarmung, eine Vergletscherung des Gefühls, die der Fernsehkonsum nicht mildert, sondern im Gegenteil verschärft.

Ein Milieu ist es vor allem, das Winterhoff-Spurk als ideale "Laichplätze der Histrios" ausgemacht hat: Die Selbstverwirklicher, jene Gruppe der heute Dreißig- bis Sechzigjährigen, die an der "chronischen Unbehaustheit der Nachkriegsgeneration" leiden und deshalb lebenslänglich auf allen möglichen Trips unterwegs sind. Sie sind die Vorreiter, geben den Ton an für drei andere und jüngere Peergroups, die karrierebewußten "modern performers", die experimentierfreudige Lifestyle-Avantgarde und die Hedonisten, deren Eltern zumeist selbst begeisterte Unterhaltungs- und Showfreaks gewesen sind.

Das Fernsehen trifft die meisten Mitglieder dieser heterogenen Fangemeinde am empfindlichsten Punkt: Es macht ein Beziehungsangebot, das Verläßlichkeit, Sicherheit und Verfügbarkeit vorgaukelt. Es entwirft eine Scheinwelt, in die der gelangweilte Zivilisationsmensch eintauchen kann, weil sie seine Vorlieben bedient: "Dramatisierung, theatralisches Verhalten, Aufregung, oberflächliche und labile Affektivität und Sexualisierung" sind, wie Winterhoff-Spurk herausarbeitet, die Konstanten, die das Programmschema prägen, und zwar quer durch alle Sparten und Kanäle, die ausgesprochenen Kultursender ausgenommen.

Selbst die Nachrichten- und Informationssendungen haben im letzten Jahrzehnt, wie der Autor empirisch nachweist, ihr Aussehen geliftet. Politische Sachverhalte werden nur noch als Hahnenkämpfe wahrgenommen, die Akteure als streitsüchtige Krawallschachteln porträtiert; Bilder extremer Gewalt sind über die Boulevardmagazine bis in die "Tagesschau" eingesickert. Auf die Dauer entsteht eine "Dramatisierungsspirale", die nach neuen Sensationen giert.

Am anderen Ende der TV-Skala rangieren jene Semiprominenten und "instant stars" vom Schlage eines Daniel Küblböck, die vor allem Jugendliche als Rollenmodelle anziehen. "Attraktiv, selbstbewußt und gelegentlich mit Problemen konfrontiert", so sehen die Helden der Seifenopern aus, die das minderjährige Publikum favorisiert. Immerhin besitzen knapp vierzig Prozent aller Drei- bis Dreizehnjährigen hierzulande ein Fernsehgerät und finden beim Einschalten das vor, was sie im Alltag häufig vermissen: klare Verhältnisse, überschaubare Familienkonstellationen, ein Happy-End - und vertrauensvolle Freunde. "Parasoziale Beziehung" nennt die Forschung jene Illusion, die zahllose Zuschauer aller Altersklassen an ihre Lieblingsschauspieler fesselt.

Die industrielle Fabrikation von Träumen bleibt nicht folgenlos. "Kalte Herzen" diagnostiziert Peter Winterhoff-Spurk sowohl vor als auch hinter der Mattscheibe. Während man ihm bei der Besichtigung der Misere gerne folgt, klingen seine Rezepte zur Wiedererwärmung unseres Soziotops einfallslos. Medienerziehung an den Schulen, gezielte TV-Boykotte und vertrauensbildende Maßnahmen in Familien und Unternehmen mögen nicht schaden. Doch daß der sondermüllverdächtige Trash, der sich täglich aus dem Bildschirm über uns ergießt, auf diese Weise im Orkus verschwindet, bleibt zu bezweifeln. Dagegen hilft nur: Einzelfallhilfe, freiwillige Enthaltsamkeit, radikaler Entzug der Droge Fernsehen. Winterhoff-Spurks Buch empfiehlt sich aber als Alternative zum Fernsehabend mit "Christiansen" & Co.

DORION WEICKMANN

Peter Winterhoff-Spurk: "Kalte Herzen". Wie das Fernsehen unseren Charakter formt. Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2005. 270 S., geb., 19,50 [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Die "Fakten", die Peter Winterhoff-Spurk in seinem Buch über die deutschen Fernsehkonsumenten und die Folgen aufbietet, sind laut Dorion Weickmann zwar "hinlänglich bekannt". Die These aber, die der Autor daraus gewinnt, weckt durchaus das Interesse des Rezensenten. Der Medien- und Organisationspsychologe Winterhoff-Spurk analysiert den Fernsehkonsum unter Einbeziehung von Soziologie und Pädagogik als "Religionsersatz" und konstatiert eine fortschreitende aus dem Fernsehen resultierende "emotionale und kognitive Verflachung", erklärt der Rezensent. Auch den vom Autor herausgearbeiteten "neuen Sozialtypus", der durch "Bindungsunsicherheit" gekennzeichnet ist und sich im Fernsehen scheinbare Verlässlichkeit und Sicherheit" holt, überzeugt Weickmann. Nur was die Lösungen der Fernseh-Misere angeht, ist der Rezensent nicht recht zufrieden, die findet er eher "einfallslos". Immerhin aber, so Weickmann, "empfiehlt" sich das Buch als brauchbare "Alternative zum Fernsehabend".

© Perlentaucher Medien GmbH