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Eine abgelegene Hütte in den verschneiten Wäldern Nordamerikas. Der alte Jack hat sich hierher zurückgezogen, mit seinem Hund. Ein Ofen, eine Pfeife, ein abgegriffenes Magazin mit seiner Lieblingsgeschichte - das ist das Inventar von Jacks Existenz. Bis er eines Nachts einen nackten, blutig geprügelten Mann vor seiner Tür findet. Dick, der bald wieder auf die Beine kommt, erweist sich als wenig angenehmer Zeitgenosse: ein Großmaul, befehlsgewohnt - und faszinierend. Ein karges Gespräch entwickelt sich, ein Machtspiel, eine Probe auf die Existenz, der wir mit angehaltenem Atem folgen. Es geht…mehr

Produktbeschreibung
Eine abgelegene Hütte in den verschneiten Wäldern Nordamerikas. Der alte Jack hat sich hierher zurückgezogen, mit seinem Hund. Ein Ofen, eine Pfeife, ein abgegriffenes Magazin mit seiner Lieblingsgeschichte - das ist das Inventar von Jacks Existenz. Bis er eines Nachts einen nackten, blutig geprügelten Mann vor seiner Tür findet. Dick, der bald wieder auf die Beine kommt, erweist sich als wenig angenehmer Zeitgenosse: ein Großmaul, befehlsgewohnt - und faszinierend. Ein karges Gespräch entwickelt sich, ein Machtspiel, eine Probe auf die Existenz, der wir mit angehaltenem Atem folgen. Es geht um Frauen, um Freunde, um einen möglichen Job für Jack, um das Scheitern. Dick will zurück in die Stadt, widerstrebend willigt der Alte ein, ihm den Weg zu zeigen. Sie brechen auf - es wird ein Aufbruch ins Ungewisse, ein Marsch in die Erschöpfung. Fast scheint es, als sei Jack seinem Todesengel begegnet.

Eine einfache, vielschichtige Erzählung. Einsamkeit und Zivilisation, Wille zur Macht und Selbstbeschränkung, Herr und Knecht - Raymond Kennedys Text enthält all dies. Und ist doch mehr: ein unvergeßlicher literarischer Entwurf, aufgetragen auf das Weiß des Schnees, der den Vergleich mit den großen Autoren der Moderne herausfordert.
Autorenporträt
Hans-Ulrich Möhring, geboren 1953, hat so unterschiedliche Autoren wie Zora Neale Hurston, J.R.R. Tolkien, James Hamilton-Paterson und William Blake übersetzt. Er lebt in Niederkleveez.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 07.04.2007

Der Todesengel, der sich aufführt wie ein freches Kind
Raymond Kennedys unheimliche Ostererzählung

Von Ingeborg Harms

Je häuslicher der Stoff einer Novelle ist, desto unheimlicher kann sie geraten. Raymond Kennedys "Am Rand der Welt" beginnt in einer Hütte, weit weg vom Getriebe der Welt. Ein alter Mann namens Jack, der sich dort seit langem eingerichtet hat, kontrolliert das neue Schloss an seiner Tür. Draußen liegen Eis und Schnee, doch Jack verbarrikadiert sich gegen andere Feinde. Er ist vor kurzem von einem jungen Burschen durch einen bösen Tritt verletzt worden. Wo er ihm begegnet ist, erfahren wir nicht, aber wir lesen, dass unlängst ein Auto mit dubiosen Insassen auf der einsamen Straße vor seiner Hütte anhielt.

Die Sorge schlüpft durch jedes Schlüsselloch, und so beschäftigt sich Jack weiter intensiv mit dem Draußen. Als er zum zweiten Mal in der Nacht Geräusche hört, hält er es nicht länger aus und entdeckt im Straßengraben einen splitternackten, übel zugerichteten Fremden. Dem imponiert es nicht im geringsten, daß Jack ihn mit Whisky und warmen Decken zum Leben erweckt. Wie ein Pascha kommandiert er seinen Samariter herum und lässt durchblicken, dass er gewöhnlich ein bedeutendes Leben mit zahlreichen Untergebenen führt. Noch verwirrender als sein Betragen ist, dass Jack zuvor zwar Geräusche, aber kein Auto gehört hat, auch von entsprechenden Spuren ist nicht die Rede.

Sobald der Tag anbricht, verlangt Dick nach Kleidern und Jacks Begleitung, überzeugt davon, daß "sie" wiederkommen. "Hältst du das vielleicht für ein Spiel?", fragt er seinen Gastgeber: "Willst du, dass sie hier eindringen, dich verprügeln, alles entzweischlagen - dich wahrscheinlich umbringen?" Jack ziert sich wie ein halbherzig Verführter, während Dick ihn mit der ruppigen Direktheit eines alten Bekannten behandelt, doch sein seltsamer Charakter hat noch andere Seiten. In der Einsamkeit liest Jack immer wieder in einer alten Zeitschrift. Besonders liebt er die Erzählung von einem Transvestiten und seiner Frau. Dicks schamlos paradierende Nacktheit, von Jack verstohlen gemustert, erhält vor diesem Hintergrund erotische Valeurs. Dass sein Bauch "wie eine pralle Frucht" vorsteht, spielt gar mit der Idee einer Schwangerschaft. Dick ist ein Hybridwesen, das sich mal wie eine zickige Frau, mal wie ein verzogenes Kind aufführt. Jack vergleicht ihn mit einem Putto, doch Dick ähnelt eher einem Todesengel, hat sein Fleisch doch "das weiche Weiß von Sachen, die unter feuchtem Laub wachsen" - die Farbe einer Leiche.

Als er in den abgelegten, viel zu weiten Anzug seines Gastgebers schlüpft, wird er zur Verkörperung eines Jacks aus besseren Tagen, eines Jacks, der selbst ein ziemlicher Gauner gewesen ist. Ganz nebenbei erklärt Dick ihm denn auch, dass er Jack "das Urteil der Welt" mitzuteilen habe: "Er beugte sich dicht an das Ohr des Alten heran. ,Wir brauchen dich nicht', flüsterte er." Letztlich ist dieser Herr Welt alles zugleich, ein Konglomerat aus gelebtem Leben und ungelebten Wünschen.

Diese seltsame Romanze der beiden Männer liest sich wie ein Todestanz und die Choreographie eines Kampfes. In einer atemberaubenden Engführung wird Jack von seinem Gast zugleich belebt und vernichtet. Seine Hoffnungen und seine Ängste verdichten sich in Dicks strotzender Leiblichkeit. Die Krise, die er in Jack auslöst, wird von Anzeichen einer neuen Existenz begleitet, nicht zuletzt, weil Dick seinen Retter kurzerhand in Teddy umtauft. Halb eingeschüchtert, halb amüsiert, ist Jack seinem Besucher zu Willen und hängt sich ihm an die Fersen, denn er traut Dicks Orientierungssinn nicht viel zu. Und doch bleibt am Ende Jack erschöpft im Schnee liegen, während Dick mit ausgreifenden Schritten einen vereisten Fluß überquert und bedenkenlos verschwindet.

Dies ist die letzte der überraschenden Wendungen. Nachdem sich der Leser mit dem Gedanken vertraut gemacht hat, dass die Novelle auf bizarre Weise von Jacks letzter Reise handelt, ist es indessen Dick, der unverwüstliche Optimist, der ins Jenseits übersetzt. Spätestens jetzt beginnt man zu begreifen, warum Jacks Hüttenkalender die Osterwoche anzeigt. Dieses Martyrium handelt nicht nur vom Enden, sondern auch von jenem Neuanfang, den ein absurdes Vertrauen über die Ufer trägt. Dass Jack den Fremden hereinholt, wäscht und vom Blut befreit, hat etwas von einer Kreuzabnahme, doch es gleicht auch einer Geburt. Indem er in Dick sein Alter Ego zur Welt bringt, fängt er sich den Tod wie eine Befreiung ein. Wenn der Sommer kommt, wird man Jacks sterbliche Überreste im feuchten Laub finden, doch was darunter wächst, hat sich aus dem Staub gemacht.

- Raymond Kennedy: "Am Rand der Welt". Novelle. Aus dem Amerikanischen übersetzt von Hans-Ulrich Möhring. Verlag Klett-Cotta, Stuttgart 2006. 91 S., geb., 12,- [Euro].

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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Fasziniert zeigt sich Ingeborg Harms von Raymond Kennedys Novelle "Am Rand der Welt". Sie liest diese Geschichte einer merkwürdigen Begegnung zweier Männer in einer verschneiten Hütte weit ab der Zivilisation als "unheimliche Ostererzählung". Entsprechende Motive wie das der Kreuzabnahme oder das vom Tod, der nicht das Ende, sondern ein Neuanfang ist, findet sie in dem Text einige. Die Begegnung des alten Jack und des jungen Dick hat für sie etwas von einer "seltsamen Romanze". Gerade Dick erscheint ihr dabei wie ein Hybridwesen zwischen Zicke, verzogenem Kind und Todesengel. Die Romanze zwischen beiden kommt ihr vor wie ein "Todestanz" und die "Choreografie eines Kampfs". Kennedys Beschreibung dieses Kampfs, in dem Dick Jack zugleich belebt und vernichtet, scheint ihr geradezu "atemberaubend".

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