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Kaum jemand glaubt, dass sich physische Gewalt aus der Welt schaffen lässt. Staat und Gesellschaft können Gewalt nur bändigen, wenn sie selbst Gewalt anwenden. Unter diesem Aspekt setzt sich Norbert Axel Richter mit Carl Schmitts und Jürgen Habermas' Theorien zum Verhältnis von politischem Handeln und politischer Ordnung auseinander und bringt sie in Beziehung zu Foucaults Analytik der Macht und Plessners politischer Anthropologie. Daraus entwickelt er ein Konzept des erfindungsreichen politischen Konflikthandelns, in dem er ein gewaltminderndes Potenzial sieht.

Produktbeschreibung
Kaum jemand glaubt, dass sich physische Gewalt aus der Welt schaffen lässt. Staat und Gesellschaft können Gewalt nur bändigen, wenn sie selbst Gewalt anwenden. Unter diesem Aspekt setzt sich Norbert Axel Richter mit Carl Schmitts und Jürgen Habermas' Theorien zum Verhältnis von politischem Handeln und politischer Ordnung auseinander und bringt sie in Beziehung zu Foucaults Analytik der Macht und Plessners politischer Anthropologie. Daraus entwickelt er ein Konzept des erfindungsreichen politischen Konflikthandelns, in dem er ein gewaltminderndes Potenzial sieht.
Autorenporträt
Norbert Axel Richter ist Philosoph und promovierte an der Universität Potsdam.
Rezensionen

Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Norbert Axel Richters Versuch, eine neue politische Anthropologie zu entwerfen, betrachtet Rezensent Wolfgang Kersting als gescheitert. Er hält Richter eine anthropologische Universalisierung des Politikbegriffs vor, die ihn aus aller politikphilosophischen Reichweite rücke. Die Auseinandersetzung Richters mit Carl Schmitts und Jürgen Habermas' Theorien des politischen Handelns und der politischen Ordnung bringen für Kersting nichts Neues. Nur das Kapitel über Plessners philosophische Anthropologie findet er "sehr lesenswert". Generell aber erscheint ihm Richters Politikbegriff, der um die Konzepte des Möglichkeitssinns, der Ironie, der Unergründlichkeit, des konjunktivischen Mehrwerts und des stets unartikulierten Artikulationsrests gewirkt sei, für die Zwecke politischer Theoriebildung und damit auch für die politische Praxis unbrauchbar. Die Beispiele, die Richter bringt, überzeugen den Rezensenten jedenfalls nicht.

© Perlentaucher Medien GmbH

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 19.10.2005

Ein wenig Aufrauhung der Institutionen gefällig?
Auf Deutschland sollte man ihn nicht loslassen: Mit Norbert Axel Richter ist kein Staat zu machen / Von Wolfgang Kersting

Bismarck meinte, daß Politik die Kunst des Möglichen sei. Norbert Axel Richter will eine neue politische Anthropologie entwickeln, die dem Musilschen Möglichkeitsmenschen, der in einem "Gespinst von Dunst, Einbildung und Träumerei" lebt, eine philosophische Grundlage verschafft und das Leben im conjunctivus potentialis als anthropologische Selbstverständlichkeit versteht und Vorbehaltlichkeit als elementaren menschlichen Existenzmodus ausweist.

Der Experte, der diesem Unternehmen Erfolg bescheiden soll, ist Helmut Plessner. Um aber nicht nur deutlich zu machen, wie politisches Handeln richtig zu verstehen ist, sondern auch, welche Irrtümer es bei seiner Erfassung zu vermeiden gilt, stellt Richter seinem Foucault- und Plessner-Kapitel ein Kapitel über Carl Schmitt und Jürgen Habermas voran. Das Abschlußkapitel versucht dann, die systematische Ernte dieser vier ideengeschichtlichen Durchgänge einzubringen.

Schmitt und Habermas in einem Atemzug zu nennen bringt schon kaum mehr Aufmerksamkeitsgewinn. Für Richter präsentieren beide ein gleichermaßen reduktionistisches Konzept politischen Handelns. Dieser Reduktionismus ist die Konsequenz einer Orientierung des Handlungsverständnisses an dem Typus der Ordnungsstiftung, der Überführung des Chaotischen, gefährlich Ungeregelten und Vieldeutigen in Wille, Norm und Gesetz. Daß diese Ordnungsstiftung das eine Mal (Schmitt) dezisionistisch ausgelegt wird und sich an der Setzungswillkür des absoluten Gottes der Hochscholastik orientiert, das andere Mal (Habermas) durch Geltungsdiskurse getragen wird und in rechtsstaatliches Gesetzeswerk einmündet, ist für Richter ohne Belang. In beiden Fällen wird das Politische, für den Verfasser das Biotop des Menschlichen schlechthin, unterdrückt, einmal durch einen ordnungsobsessiven Staat verdunkelt, das andere Mal durch das rechtsstaatliche Repressionssystem der Verfassungsdemokratie überlagert.

Schmitt wie Habermas betrachten den Menschen als Ordnungsrisiko, das - sei es durch unwiderstehliche Entscheidungsmacht, sei es durch die Zustimmungszwänge der kommunikativen Vernunft - gebändigt werden muß. Beide wollen unbegrenzte Ordnung und verabsolutieren ihre taxonomischen Mittel, die Dezision und die Rationalität. Alle Unbestimmtheitsreste werden bei Habermas getilgt. Idealisierungen unterstellen eindeutige Identitäten, vollständige Artikulation, verwandeln den Demokraten in einen gläsernen Menschen, der durch die Verallgemeinerungsmangel gedreht wird und sich ohne Vorbehalte veröffentlicht. Diese Vorstellung einer rechtlich stillgelegten Lebenswelt und diskursiv vollständig artikulierter Bürger muß jedoch als Illusion durchschaut werden. Und wenn das Paradigma der Ordnungsstiftung derartige rationalitätstheoretische Verzeichnungen fördert, gar fordert, dann muß politische Philosophie, so meint der Verfasser, sich eben von der Aufgabe, die Bedingungen menschlicher Ordnung zu benennen, distanzieren.

Hatten wir das nicht alles schon? Aufstand der Wirklichkeit gegen den Begriff, Kritik des Vernunfttotalitarismus, Lob des Nichtidentischen, Verteidigung der Vorbehaltlichkeit - kennen wir das nicht von den verschiedenen Spielarten politischer Lebensphilosophie? Immerhin beschert Richters Entschluß, die rationalitätstheoretischen Glättungen des Menschen dialektisch aufzurauhen, dem Leser ein sehr lesenswertes Plessner-Kapitel. Denn in der philosophischen Anthropologie Plessners findet er die Grundlagen für seine "paradoxale Artikulationstheorie politischer Subjektivität", die nach dem Vorbild der bekannten Plessnerschen paradoxalen Undverbindungen all das in die menschliche Tatsächlichkeit zurückbringt, was der cartesisch-kantisch-habermasschen kognitiven Halbierung des Menschen zum Opfer gefallen ist.

Freilich büßt Richters Studie durch diese Hinwendung zum Integriert- und Allgemeinmenschlichen beträchtlich Kohärenz ein. Denn während die Politikbegriffe Schmitts und Habermas sich immerhin noch auf vergleichbare Problembestände kollektiven Handelns beziehen, erfährt der Plessnersche und damit auch der Richtersche Politikbegriff eine anthropologische Universalisierung, die ihn aus aller politikphilosophischen Reichweite rückt. Politik ist laut Richter "die Praxisform der Unbestimmtheitsrelation", eine vom "Prinzip der Unergründlichkeit" geprägte Machtpraxis. Der Mensch ist hier nicht ein politisches Lebewesen, sondern er ist als Lebewesen politisch. Dieses Politikkonzept gehört aber nicht mehr zur Begriffsgeschichte, sondern nur noch zur Wortgeschichte der Politik. Seine anthropologische Formalisierung macht ihn für die Zwecke politischer Theorie unbrauchbar.

Und es bleibt darum auch unerfindlich, was Richters um die konzeptuellen Kerne des Möglichkeitssinns, der Ironie, der Unergründlichkeit, des konjunktivischen Mehrwerts und des stets unartikulierten Artikulationsrests herumgesponnene Theorie politischen Handelns nun für das wirkliche politische Handeln bedeuten mag. Daß politisches Handeln sich nicht dem Ernstfall, sondern dem Spielerisch-Inventiven öffnen soll, daß es nicht um Authentizität und Selbstbehauptung, sondern um Bedeutungsexperimente und freie Selbstmächtigkeit gehen soll, ist ja nicht sonderlich aufschlußreich. Auch ist nicht klar, was es hinsichtlich des ja nun wirklich nicht obsoleten Legitimationsproblems politischer Herrschaft heißen soll, wenn die transzendentale Entschlossenheit der Diskursethik zugunsten eines offenen, sich der Vorbehaltlichkeit, der anthropologisch schicksalhaften Ironizität bewußten Handlungsmodells aufgegeben werden soll.

Und wie sieht es mit der Realität aus, dem Ort, an dem sich politisches Handeln zu bewähren hat? Wie sieht richtiges politisches Handeln nach Richter aus? Im Buch finden sich zwei Beispiele. Das erste berichtet zustimmend von einem phantasievollen polizeilichen Konfliktmanagement während der Berliner Maikrawalle 2003. Die Polizei habe sich auf den agonalen Charakter der Situation eingelassen, auf die Instrumente der Rechtsdurchsetzung verzichtet und eine gewaltminimierende Deeskalierungsstrategie verfolgt. Das könnte zur Vermutung Anlaß geben, daß ein demokratischer Rechtsstaat, der eine derart undogmatische Polizeiarbeit erlaubt, das zivilgesellschaftliche Differenzpotential nicht repressiv glättet, sondern mit ihm spielt, eine begrüßenswerte Ordnungsform wäre und auch die Zustimmung einer nichtreduktionistischen politischen Anthropologie finden müßte. Doch für Richter ist dieses politikanthropologisch mustergültige Verhalten eher eine Inkonsequenz gewesen, mit der Repressionslogik des Rechtsstaats nicht vereinbar.

Als zweites Beispiel dient das coffin display des israelisch-palästinensischen Parents Circle, eine mit den Fahnen beider Konfliktparteien geschmückte Sarginstallation, mit der zivilgesellschaftliche Akteure sich zu Wort melden, um die politisch monopolisierten Situationsdefinitionen zu modifizieren und die tradierten Handlungsmuster aufzubrechen.

Freilich ist der Beweiswert dieser beiden Beispiele unkonventionellen, einen wachen Möglichkeitssinn bezeugenden politischen Handelns nicht recht deutlich. Um den Deeskalierungswillen der Polizei zu begrüßen und das Engagement des Parents Circle wertzuschätzen, muß man nicht zur Richterschen Artikulationstheorie überlaufen. Das Lob läßt sich in beiden Fällen auch mit den dürftigen begrifflichen Mitteln der Common-sense-Anthropologie vortragen. Auch ist nicht einzusehen, warum ein diskursethischer Rechtsstaatstheoretiker nicht ebenfalls in beidem vorbildliche Handlungsweisen erkennen sollte, die überdies mühelos mit seiner politischen Anthropologie in Übereinstimmung zu bringen sind. Aber einen so erklärten Freund des Paradoxalen wie Richter wird dieses doppelte Non sequitur nicht sonderlich betrüben.

Norbert Axel Richter: "Grenzen der Ordnung". Bausteine einer Philosophie des politischen Handelns nach Plessner und Foucault. Campus Verlag, Frankfurt am Main 2005. 251 S., br., 29,90 [Euro].

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Philosophisches Jahrbuch: "Das Buch ist nicht nur in der Sache anregend und überzeugend, sondern (...) auch noch ein intellektuelles Vergnügen."
"Das Buch ist nicht nur in der Sache anregend und überzeugend, sondern (...) auch noch ein intellektuelles Vergnügen." (Philosophisches Jahrbuch)