Marktplatzangebote
13 Angebote ab € 4,24 €
  • Gebundenes Buch

An der Schwelle zum 21. Jahrhundert wirft der Autor den Blick zurück auf ein Jahrtausend ungarischer Geschichte. Eine Geschichte von Unterwerfung und Rebellion, von Teilung, verlorenen Kriegen, Eroberungen und Freiheitskämpfen.

Produktbeschreibung
An der Schwelle zum 21. Jahrhundert wirft der Autor den Blick zurück auf ein Jahrtausend ungarischer Geschichte. Eine Geschichte von Unterwerfung und Rebellion, von Teilung, verlorenen Kriegen, Eroberungen und Freiheitskämpfen.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 06.03.2000

Einsame Überlebenskünstler
Von der Einwanderung eines halbnomadischen Stammeskonglomerats ins Karpatenbecken bis zum Scharren eines Volkes vor der Schwelle der Europäischen Union: Paul Lendvai erklärt die Ungarn

Paul Lendvai: Die Ungarn. Ein Jahrtausend Sieger in Niederlagen. C. Bertelsmann, München 1999. 634 Seiten, Abbildungen, 49,90 Mark.

Die staatliche ungarische Fluggesellschaft Malév hat ihren Winterflugplan mit einer besonderen Aufschrift verziert: "1000éves Magyarország" - "Tausendjähriges Ungarn" steht darauf zu lesen. Die Zahl 1000 wurde in goldene Ziffern gesetzt, womit wohl nur gemeint sein kann, dass das zurückliegende Jahrtausend im Ganzen für die Ungarn ein goldenes gewesen sei.

Tatsächlich feiert Ungarn, ganz unabhängig vom kalendarischen Jahrtausendwechsel, während des gesamten Jahres 2000 sein eigenes, sein besonderes magyarisches Millennium. Doch wie bei allen "runden Zahlen" geht es auch beim magyarischen Millennium nicht ganz mit rechnerisch korrekten Dingen zu. König István (Stephan), im Jahre 1083 heilig gesprochen, wurde wahrscheinlich am Neujahrstag des Jahres 1001 von Papst Silvester II. zum König gekrönt. Damit stünde die Tausendjahrfeier eigentlich erst im Jahr 2001 an - oder gar erst 2002. Denn schon die Millenniumsfeiern zum Jahresende 1999 beruhten auf dem zur Konvention erhobenen Rechenfehler, das zweite Jahrtausend schon nach 999 Jahren enden zu lassen, obwohl es doch erst am 31. Dezember 2000 "erfüllt" sein wird.

Am Ende sind solche Spiele um "runde" und andere Zahlen so unwichtig wie eine Entscheidung in dem Disput der Historiker, ob der heilige Stephan wirklich am Neujahrstag 1001 oder doch schon zu Weihnachten des Jahres 1000 gekrönt worden ist. Entscheidend ist, dass die Krönung Istváns, seine Abkehr von den heidnischen Ursprüngen der Magyaren und sein Bekenntnis zum Christentum zum Wendepunkt in der Geschichte Ungarns wurden: die Aufnahme eines halbnomadischen Stammeskonglomerats, das vom fernen Ural ins Karpatenbecken eingewandert war, in die christliche Völkerfamilie. Tausend Jahre später genießt Ungarn im emphatischen Sinne das Recht auf nationale Selbstbestimmung, ist Mitglied der Nato und steht an der Schwelle zur EU. Man kann die Bedeutung dieser zuletzt doch noch glückhaften historischen Wendung für die Ungarn gar nicht hoch genug einschätzen. Denn auf die Versöhnung ihres Wunsches nach Selbstbestimmung mit der Zugehörigkeit zur europäischen Völkergemeinschaft haben die Ungarn buchstäblich Jahrhunderte warten müssen.

Paul Lendvai aus Budapest, Ungar von Geburt und durch Bekenntnis, seit 1957 in Wien lebender Doyen der Berichterstatter aus Mittel- und Osteuropa sowie schließlich Autor von neun Büchern über die Region, hat sich der tausendjährigen Geschichte seines so eigen- und einzigartigen Volkes in Europa angenommen. Schon der scheinbar paradoxe Untertitel seines Buches zeigt, dass auch er das europäische Millennium der Magyaren als ein im Ganzen goldenes betrachtet: "Ein Jahrtausend Sieger in Niederlagen". Lendvai, Jahrgang 1929, ist mit seinem Buch ein Standardwerk gelungen, das stets auf der Höhe der historischen Forschung und dabei doch so gut lesbar, ja unterhaltsam ist, wie es wohl nur ein Journalist aus Leidenschaft mit profunder geschichtlicher Kenntnis zu schreiben vermag. Und das Buch ist zugleich eine grundsätzliche Abhandlung über die Identität der Ungarn - und über ihre Suche danach.

Als Konstante dieser Suche kann die Frage gelten, ob es so etwas wie das echte, das reine Ungarntum gibt, das sich über all die Jahrhunderte hindurch und trotz der Verbindungen und Vermischungen mit benachbarten Völkern, die bald die Ungarn beherrschten, bald von ihnen beherrscht wurden, bewahrt hat. Diese Frage ist nicht nur eine akademische, sondern spielt im Alltagsbewusstsein vieler Ungarn eine wichtige Rolle. Denn mit jedem Wort, das sie in ihrem so sonderbaren Idiom sprechen, wird ihnen ihre gleichsam ontologische Einsamkeit bewusst. Sprachlich und ethnisch haben die Ungarn keine Verwandten in Europa, denn auch die finnisch-ugrische Sprachgemeinschaft hatte sich schon im dritten Jahrtausend vor Christus aufgelöst - also lange vor der Wanderung der nur noch entfernt verwandten Finnen und Ungarn nach Europa. Nicht umsonst haben sich die Magyaren gerne als "das einsamste Volk in Europa" bezeichnet, was Arthur Koestler - auch er Ungar von Geburt und durch Bekenntnis - zu folgender Diagnose über den Magyaren veranlasste: "Vielleicht erklärt sich aus dieser exzeptionellen Einsamkeit die seltsame Intensität seiner Existenz. Ungar zu sein ist eine kollektive Neurose." Diese äußert sich unter anderem in einer offenbar unauslöschlich pessimistischen Lebenseinstellung, weswegen in Ungarn bis ans Ende der Tage die Stimmung schlechter sein wird als die Lage.

Lendvai zeigt überzeugend, dass gerade die ungarische Sprache und die Entscheidung, sich in ihr auszudrücken, identitätsstiftend wirkten. Denn zahlreiche herausragende Gestalten aus Geschichte, Literatur und Wissenschaft waren zum Teil oder ganz deutscher, kroatischer, serbischer, slowakischer oder rumänischer Herkunft. Die ungarische Nationalhymne schrieb der deutschstämmige Komponist Franz (Ferenc) Erkel (1810 bis 1893). Der Nationalheld im Kampf gegen die Türken, Miklós Zrinyi (1620 bis 1664), war ein Kroate namens Nikola Subic Zrinski, der erst als junger Mann Ungarisch lernte. Ungarns vielleicht größter Dichter und Held des Unabhängigkeitskampfes gegen die Habsburger und Russen, Sándor (Aleksander) Petöfi (1823 bis 1849), entstammt einer serbisch-slowakischen Familie und hieß ursprünglich Petrovics. Mit diesen und zahllosen anderen Beispielen zeigt Lendvai, dass Nationalität und nationale Identität keine Frage "des Blutes" und der Herkunft sind, sondern in erster Linie eine Frage des Willens und der Haltung.

Die zweite Grundthese des Buches lautet, dass sich die Ungarn im Ringen um den Erhalt ihrer Identität, im Zwiespalt zwischen Kooperation und Konflikt, zwischen Aufstand und Anpassung im historischen Prozess stets als Überlebenskünstler erwiesen haben: Niederlagen im Krieg vermochten sie im Frieden in Siege zu verwandeln. Welche verheerenden Folgen eine Ideologie mit umgekehrten Vorzeichen haben kann, zeigen die Ereignisse im benachbarten Jugoslawien seit 1991. Weil die nationalistischen Vordenker dem serbischen Volk den Mythos vom "gewonnenen Krieg und verlorenen Frieden" einredeten, taumelten die Serben von einem Krieg in den nächsten, verloren sie sämtlich und machten sich fast alle Völker der Region zu Feinden. Die schlagendsten Beispiele für den entgegengesetzten "ungarischen Sonderweg" dagegen sind: die Niederschlagung des bürgerlichen Unabhängigkeitskampfes 1848/49 durch die Habsburger und den Zaren - und die folgende goldene Epoche des Ausgleichs in der k.u.k. Doppelmonarchie; die von sowjetischen Panzern niedergewalzte demokratische Revolution von 1956 - und die Jahre der vorsichtigen Reformen unter Parteichef János Kádár, auf denen die Erfolgsgeschichte des demokratischen Ungarn seit 1989 aufbaut.

Schließlich kann man sogar die schlimmste Schmach in der ungarischen Geschichte des zwanzigsten Jahrhunderts als Sieg in der Niederlage betrachten: die "Amputation" der ungarischen Nation und das Ende des historischen Ungarn, des fast tausendjährigen Reiches Stephans des Heiligen, durch den Vertrag von Trianon vom Juni 1920. Die Siegermächte des Ersten Weltkrieges beschlossen bei ihren Verhandlungen in Versailles, dem geschlagenen Ungarn zwei Drittel seines Territoriums zu nehmen, wodurch das dramatisch verkleinerte Land mehr als die Hälfte seiner Bevölkerung verlor. Die Forderung nach einer Revision von Trianon musste fortan die ungarische Außenpolitik und die Entwicklung im Innern bis in den Zweiten Weltkrieg hinein prägen. Heute kann kein ungarischer Politiker mehr ernsthaft die Veränderung der Grenzen fordern. Stattdessen muss Ungarn in seiner Regionalpolitik die einzigartige Chance nutzen, die magyarischen Minderheiten in der Slowakei, der Ukraine, in Rumänien und Serbien zu unterstützen und den Nachbarländern zugleich als Brücke auf deren Weg nach Europa anzubieten.

Lendvais Buch beschönigt und verschweigt nichts. Auch die Epoche der nationalen Verblendung und der aggressiven Magyarisierung der Nachbarvölker im neunzehnten Jahrhundert wird beleuchtet. Und der organisierte Massenmord an mehr als einer halben Million ungarischer Juden nach dem Einmarsch der Wehrmacht im März 1944 bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges wird ausführlich dargestellt. Schließlich erfährt die eigenartige Tauwetterperiode von 1960 bis zur friedlichen Wende 1989 eine kritische Würdigung. Lendvais Darstellung von tausend Jahren ungarischer Geschichte in Europa ist nicht nur umfassend. Sie ist gerecht.

Ein wenig unorganisch schließt das letzte Kapitel über Genies und Künstler im zwanzigsten Jahrhundert das Buch ab, obwohl sich gerade darin die hübschesten Anekdoten finden. Darin erfährt man, wer von den internationalen Größen in Wissenschaft und Wirtschaft, Film und Malerei, Musik und Literatur, Fotografie und Architektur alles ungarischer Abstammung war. Stattdessen hätte man sich eine ausführlichere "Anwendung" der historischen Erkenntnisse Lendvais auf die Zeitgeschichte seit 1989 gewünscht. Denn der ständige Streit zwischen Nationalen und Liberalen um Interesse und Identität der Nation prägt die politische Auseinandersetzung bis heute. Doch nur wenn die Verbindung von Patriotismus und Liberalismus gelingt, so zeigt der ungarische Europäer Lendvai, können die Ungarn auch im neuen Millennium Sieger bleiben. Vielleicht sogar ohne den Umweg über Niederlagen.

MATTHIAS RÜB

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
…mehr

Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension

Günther Fischer bespricht das Buch zusammen mit "Ungarische Jahrhunderte" von Géza Hagedüs (edition q in der Quintessenz Verlags GmbH) und "Eine kleine Geschichte Ungarns" von Holger Fischer (Edition Suhrkamp).
Seine Besprechung leitet Gü