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'1968 das Jahr, an dem sich bis heute die Geister scheiden. Für die einen bedeutet es Aufbruch, Revolte und Emanzipation, für die anderen Flirt mit dem totalitären Kommunismus, Werteverfall und Geburtsstunde des RAF-Terrors. Was wollten die Achtundsechziger, was haben sie erreicht? Vierzig Jahre danach zieht der Historiker Wolfgang Kraushaar, einer der bestenKenner der 68er-Bewegung, kritisch Bilanz.
'Kraushaar, seit vielen Jahren Mitarbeiter des Hamburger Instituts für Sozialforschung, hat sich als scharfer Kritiker der 68er-Mythen einen Namen gemacht. Ob Internationalismus, antiautoritäre
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Produktbeschreibung
'1968 das Jahr, an dem sich bis heute die Geister scheiden. Für die einen bedeutet es Aufbruch, Revolte und Emanzipation, für die anderen Flirt mit dem totalitären Kommunismus, Werteverfall und Geburtsstunde des RAF-Terrors. Was wollten die Achtundsechziger, was haben sie erreicht? Vierzig Jahre danach zieht der Historiker Wolfgang Kraushaar, einer der bestenKenner der 68er-Bewegung, kritisch Bilanz.
'Kraushaar, seit vielen Jahren Mitarbeiter des Hamburger Instituts für Sozialforschung, hat sich als scharfer Kritiker der 68er-Mythen einen Namen gemacht. Ob Internationalismus, antiautoritäre Erziehung oder sexuelle Befreiung alles stellt er auf den Prüfstand und kommt zu verblüffenden Erkenntnissen. Führenden Köpfen der Bewegung weist er eine problematische Nähe zur Gewalt, antisemitische oder nationalistische Tendenzen sowie ein unausgegorenes Verhältnis zur deutschen NS-Vergangenheit nach. Hinter revolutionär-emanzipatorischer Fassade verbargen sich tiefsitzende Ressentiments aus dem Gepäck der verachteten Vätergeneration. Wer die 68er-Bewegung in ihrer historischen Bedeutung wirklich verstehen will, kommt um dieses Buch nicht herum.
Autorenporträt
Wolfgang Kraushaar, Dr. phil., geboren 1948, studierte Politikwissenschaft, Philosophie und Germanistik an der Universität Frankfurt am Main. Seit 1987 ist er Mitarbeiter im Bereich "Politik und Gesellschaft der alten und neuen Bundesrepublik" am Hamburger Institut für Sozialforschung.
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 18.03.2008

Mehr Rousseau als Marx
Eine differenzierte Darstellung der Achtundsechziger
Wir kennen die Bilder: Teach-ins und Redeschlachten in überfüllten Hörsälen, Demonstrationen, Blockaden, Institutsbesetzungen, Langhaarige in Jeans und Parka, in der einen Hand die Milchtüte, in der anderen das Megaphon, davor die Phalanx der Polizisten und an den Fenstern Männer und Frauen, die verdutzt und indigniert das Treiben der jungen Rebellen betrachten.
Vierzig Jahre ist das her. Und weil 40 eine runde Zahl ist, erinnern wir uns daran, wie wir uns anderer runder Zahlen erinnern: des Kriegsendes oder seines Ausbruchs, des Baus der Berliner Mauer oder ihrer Öffnung, der Mondlandung oder des Reaktorunglücks von Tschernobyl. Eigentlich, so sollte man meinen, gehört die Studentenbewegung mittlerweile zum Kostümfundus der Republik zusammen mit all den anderen Kuriositäten, die wir dann und wann hervorholen, um den Zeitablauf zu bebildern.
Und doch löst die Chiffre ’68 bei vielen immer noch heftige Reaktionen aus. Für die einen ist die Protestbewegung eine legendenumwobene Heldenzeit, andere erblicken darin nichts als das Zerstörungswerk gelangweilter Wohlstandskinder oder kommunistischer Unterwanderer. Längst ist das Geschehen von 1968 auch Gegenstand geschichtspolitischer Manöver geworden, bei denen es vor allem darum geht, aus der einseitigen Deutung der Vergangenheit parteipolitischen Gewinn zu ziehen.
Da ist es sicher gut, dass sich in Wolfgang Kraushaar nun ein ausgewiesener Kenner der Materie des Themas noch einmal angenommen hat und anhand des Quellenmaterials sine ira et studio eine Bilanz zu ziehen versucht. Er geht dabei von zwei – meiner Meinung nach richtigen – Prämissen aus: Dass die Bewegung der Achtundsechziger nicht ein nationales, sondern ein internationales Phänomen darstellt, und dass sie lange vor 1968 beginnt. Besonders die ausführliche Darstellung der Hippiebewegung, die dem Buch vorangestellt ist, trägt viel zum tieferen Verständnis dessen bei, was dann in den späten Sechzigern überall in Europa die Gemüter erregte.
Romantischer Überschwang
Das gilt zum Beispiel für das, was Kraushaar die Verbindung von Makro- und Mikropolitik nennt: die Tatsache also, dass sich die Protestbewegung gleichzeitig der großen Politik annahm, sich etwa für die Befreiungsbewegungen in der Dritten Welt engagierte und sich mit neuen Erziehungskonzepten, auch mit Drogenexperimenten – später in diversen Psychosekten – der Selbstveränderung der Akteure widmete. Kraushaar belegt an zentralen Texten von Rudi Dutschke und einigen seiner Mitstreiter im SDS, dass dabei auch religiös konnotierte Vorstellungen einer radikalen Umkehr eine nicht geringe Rolle spielen. Zugleich weist er nach, wie, am deutlichsten im Umfeld der Haschrebellen und der RAF, ästhetische Verhaltensmuster wieder auftauchen, die einerseits der romantischen, andererseits der vitalistisch-lebensphilsophischen Tradition entstammen.
Dass romantischer Überschwang einen erheblichen Anteil an der Bewegung hatte, dass für viele führende Achtundsechziger eher Rousseau als Marx der Spiritus Rector war, ist zweifellos richtig. Der neue Mensch, der in der revolutionären Aktion oder im psychologischen oder pädagogischen Selbstexperiment entstehen sollte, wurde von vielen tatsächlich rousseauistisch als der unverdorbene Mensch des Naturzustands begriffen, den es unter dem Zivilisationspanzer freizulegen gelte.
Drei politische Erfolge
Auch was die Wirkungen der Bewegung angeht, ist Kraushaars differenziertes Urteil im Großen und Ganzen einleuchtend. Neben den soziokulturellen Wirkungen, die er nicht allzu hoch ansetzt, notiert Kraushaar vor allem drei politische Erfolge: „ein bislang nur selten eingeräumter Teilerfolg in der Antinotstandsgesetzgebung und ein fast vollständig ignorierter Erfolg in der Bekämpfung der NPD, deren Einzug in den Bundestag im Herbst 1969 scheiterte. Daraus resultiert der dritte Erfolg, zu einer parlamentarischen Mehrheit für die Bildung einer sozialliberalen Koalition maßgeblich beigetragen und auf diese Weise innen- wie außenpolitisch eine reformorientierte Politik ermöglicht zu haben.”
Wenn an dieser Studie etwas zu bemängeln ist, dann die weitgehende Beschränkung auf jene Gruppen, die mit ihrer revolutionären Rhetorik und ihren zum Teil gewaltsamen Aktionen am spektakulärsten in Erscheinung getreten sind. Das ist umso erstaunlicher, als Kraushaar gleich am Anfang zu Recht feststellt, dass die Bewegung der Achtundsechziger „ein Konglomerat ganz unterschiedlicher linker Gruppen und Strömungen gewesen ist”. Auch dort, wo er die Anfang der Siebziger erfolgende „Entmischung” der APO behandelt, betont er zunächst die Pluralität der Bewegung: „Aus der APO waren vier Grundströmungen entstanden, eine, die dem Parlament konstruktiv, eine, die ihm aus taktischen Gründen zustimmend, und zwei, die ihm ablehnend beziehungsweise äußerst kritisch gegenüberstanden . . .” Dennoch spielt die zahlenmäßig stärkste – und wahrscheinlich auch einflussreichste – dieser Strömungen, nämlich die reformistische, in seinem Buch praktisch keine Rolle.
Dadurch entsteht der irreführende Eindruck, erst anlässlich der Gründung der Partei der Grünen Anfang der 80er Jahre hätten sich größere Teile der Achtundsechziger auf den parlamentarischen Weg begeben. Dass viele Tausende antiautoritär gestimmten Jungsozialisten schon Ende der Sechziger diesen Weg gingen und die oben zitierten Erfolge der Bewegung nicht zuletzt auch diesen Reformisten zu verdanken sind, gerät dabei aus dem Blick. JOHANO STRASSER
WOLFGANG KRAUSHAAR: Achtundsechzig. Eine Bilanz. Propyläen, Berlin 2008. 256 Seiten, 19,90 Euro.
Auch ein Erbe von 1968: die Hippiebewegung. Hier zwei Besucherinnen des Open-Air-Festivals auf der hessischen Burg Herzberg, wo (mit Unterbrechungen) seit 40 Jahren das angeblich größte Musikfest Europas stattfindet. Foto: ddp
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Eine Dienstleistung der DIZ München GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 12.03.2008

Der Not gehorchend?
Die 68er mal in kritisch-distanzierter, mal in freudlos-orthodoxer Perspektive / Von Andreas Rödder

Vierzig Jahre achtundsechzig - einmal mehr diskutiert das Land die Bedeutung jenes Zusammenhangs von Ereignissen, Akteuren und Entwicklungen eines ganzen Generationenprojekts der um und nach 1940 Geborenen. Dabei waren nur die wenigsten im engeren Sinne aktiv in den Unruhen zwischen Frühsommer 1967 und Spätherbst 1969, vor allem in den universitären Zentren. Was den Generationszusammenhang aber ausmachte, war die große Zahl gefühlter Aktivisten sowie von emotional und habituell Alliierten im Nachgang der siebziger Jahre - und ebenso die aktive Auseinandersetzung, um die auch die Gegner der 68er nicht herumkamen. In verschiedenen Windungen hat sich dieser "Kulturkampf" um die Deutung bis heute fortgesetzt, massiv verstärkt durch die Selbstbezüglichkeit einer akademisch gebildeten Elite ebenso wie der universitären Wissenschaft, die im Zusammenhang von 1968 wie sonst nie zum historisch-politischen Akteur wurde.

Dabei haben sich die Positionen inzwischen ausdifferenziert und eigentümlich überlagert. Sehen viele Konservative in den 68ern den Urgrund von Leistungs- und Werteverfall, so mahnt der Verfassungsrichter Udo di Fabio, "68" als Teil der Entwicklung zu akzeptieren. Auch unter den 68ern im engeren Sinne hat sich das Spektrum erheblich aufgefächert: Neben traditioneller Nostalgie und Apologie stehen kritisch-distanzierte Auseinandersetzungen aus den Federn von Wolfgang Kraushaar oder Götz Aly, während Altaktivisten wie Bernd Rabehl und Horst Mahler bis ins rechte Extrem gewandert und auch bei Rudi Dutschke (1940-1979) nachträglich erstaunlich nationale Töne vernommen worden sind. Bei Jüngeren stößt sehr vieles von alledem auf Unverständnis, während mit Albrecht von Lucke ein 1967 Geborener zur Apologie der 68er ansetzt. Ambivalenzen sind freilich für das gesamte Thema kennzeichnend.

Auch nach vierzig Jahren, auch nach dem Abtritt der 68er von der politischen Macht und auch nachdem sich ein Großteil der 68er-Lehrer, -Richter und -Journalisten in den Ruhestand verabschiedet hat - das ist neu im Vergleich zu den Debatten von 1988 und 1998 -, hält es Wolfgang Kraushaar für naiv, so etwas wie historische Gerechtigkeit in der öffentlichen Diskussion zu erwarten. Stattdessen setzt sich dieser randständige Aktivist von 1968 und herausragende Kenner des Gesamtzusammenhangs das Ziel einer "ausgewogenen Darstellung". In der Tat enthüllt der unaufgeregt unorthodoxe Autor in seinem zehnten Buch, zugleich seiner dritten Bilanz zum Thema, keine substantiell neuen Einsichten, ist auch von Umschweifen und Redundanzen nicht frei, lohnt aber immer wieder Lektüre und Auseinandersetzung.

Albrecht von Lucke macht sich unterdessen in seinem überblickenden Essay auf die Spur des Wandels der "1968" zugeschriebenen Bedeutung im "Kampf um die Deutungsmacht". Dass er im kursorischen Vorübergehen die meinungsstarke Geschwätzigkeit printmedialer Attributierungen vor Augen führt, leuchtet dabei eher ein als seine neu-alt-linke Philippika gegen die "reaktionären" Zustände in der Bundesrepublik im Zeichen einer "neuen Bürgerlichkeit", die das Private vom Politischen trenne und der er "68" als "Stachel im Fleisch" und "Hoffnungsschimmer" entgegenhält. Dass Bürgerlichkeit beziehungsweise bürgerliche Selbstverantwortung durch einen expandierenden Sozialstaat beeinträchtigt sein könnte, der das Private immer weiter verstaatlicht und der den sozialen Aufstiegswillen derer, die etwas zu gewinnen haben, abwürgt, kommt dieser ebenso festgelegten wie freudlosen orthodox-linken Sichtweise gar nicht in den Blick.

Da ist die unkonventionelle Selbstreflexion der 68er doch erheblich origineller: Götz Alys "irritierter Blick zurück" auf die eigene Vergangenheit etwa. Mehr als Kraushaar ein Aktivist von 1968/69 und der frühen siebziger Jahre, hat sich Aly in den vergangenen Jahren zum enfant terrible einer thesenstarken und öffentlichkeitswirksamen, wissenschaftlich fundierten historisch-politischen Publizistik entwickelt. Auch diese fulminante Polemik beruht neben ihren autobiographischen Grundlagen auf wichtigen Quellen: den deklassifizierten Informationen des Bundesamtes für Verfassungsschutz, den Nachlässen von Ernst Fraenkel und Richard Löwenthal, die in Berlin vergebens Brücken zu den 68ern zu bauen suchten, sowie auf zeitgenössischen Druckschriften, deren Lektüre er als "schwere Selbstprüfung" empfand: "Ungleich leichter lässt sich über die Vergangenheit anderer schreiben."

Geistreich, persönlich und unfair geht Aly mit Sarkasmus stets dahin, wo es weh tut, vor allem seinen alten Gefährten: "An Häuserwänden stand ,High sein, frei sein, Terror muss dabei sein'. Es entstand eine Art Sentimentalstalinismus. In seiner Kurzbiographie schrieb der langsam alternde Revoluzzer: lebt und arbeitet in Berlin. Was immer das bedeuten mochte. Zwischen Kranzler-Eck und Schlesischem Tor etablierte sich bis in die späten achtziger Jahre hinein ein juste milieu von Egomanen." Wo bei Kraushaar noch eine gewisse Nostalgie durchscheint, gießt Aly Kübel voller Spott über die perpetuierte "luxurierende Jugendexistenz" der westdeutschen Dauerachtundsechziger im Idyll der alten Bundesrepublik und ihre Ignoranz gegenüber den Deutschen in der DDR, die sich 1989 immerhin zugutehalten konnten, eine wirklich repressive Obrigkeit zum Sturz gebracht zu haben - und im Ergebnis dem alt gewordenen westdeutschen Privatdozenten noch eine "Last-Minute-Sinekure in Rostock" verschafften. So schreibt der Autor, dem selbst der Sprung auf eine Professur verwehrt blieb. Alles nicht so einfach mit diesen 68ern.

Wie nun ist "68" mit der Erfahrung von vierzig Jahren zeithistorisch zu bilanzieren? Kraushaar unterscheidet zwischen einer politischen und einer sozial-kulturellen Bilanz. Politisch ist zunächst festzuhalten, dass eine Verbindung zu den deutschen Arbeitern nicht gelang und daher niemals irgendein wirklich revolutionäres Szenario entstand. Zwei konkrete Erfolge hält Kraushaar den 68ern zugute: zum einen die Abschwächung der ursprünglich geplanten Notstandsgesetze, ohne jedoch empirische Belege dafür beizubringen, inwiefern die Außerparlamentarische Opposition (APO) beziehungsweise ihre Perzeption konkret auf den Gesetzgebungsprozess einwirkte. Dasselbe gilt für das zweite Aktivum seiner Bilanz: dass nämlich die APO den Einzug der NPD in den Bundestag von 1969 zu verhindern und somit der sozialliberalen Koalition in den Sattel half. Hier schimmert (wie auch bei von Lucke und Aly) eine nostalgische Überhöhung nicht von 1968, sondern des Machtwechsels von 1969 als der Umgründung der Republik, der guten Reform und des guten Kanzlers durch, wie überhaupt die Regierung Brandt zunehmend zum positiven Bezugspunkt einer bundesdeutschen Geschichtsschreibung im Zeichen der Liberalisierung avanciert, in der sich für einen kurzen historischen Moment die Melancholie des linken Traums von einer besseren Welt zu materialisieren schien, den ansonsten das 20. Jahrhundert pulverisiert hat.

In sozial-kultureller Hinsicht sticht der Vergangenheitsbezug der 68er auf den Nationalsozialismus heraus. Er stand allerdings nicht unter originär historisch-moralischen, sondern unter genuin sozialistisch-"antifaschistischen" Vorzeichen. So besaß er in erster Linie eine antikapitalistische und somit zugleich antibürgerliche Stoßrichtung, wie sie für "68" charakteristisch ist. "Bürgerlich" bedeutete dabei in den sechziger Jahren die konkrete Engführung einer in vielem kleinbürgerlich-altfränkischen, hierarchischen Sozialkultur zum einen und ebenso das allgemeine Konzept von Individualität, Freiheit und Pluralismus. Die 68er verfolgten demgegenüber "die Absicht, die als Repressionszusammenhang entlarvte Familie durch andere Kollektivformen zu ersetzen und auf diese Weise mit der Kernzelle der alten Gesellschaft Tabula rasa zu machen" (Kraushaar) - die "experimentelle Erprobung einer neuen Kollektivität" mit dem Anspruch einer neuen Vergemeinschaftung und Vergesellschaftung führte freilich mitten in die Illiberalität einer eben nicht pluralistischen und freiheitlichen Ordnungsvorgabe, in den doktrinären Zwang des "neuen Menschen".

An ebendiesem Punkt lag die totalitäre Versuchung der 68er, und die verbotene Frucht war die der Gewalt. Die RAF war nur der extremste Strang eines stufenweise entgrenzten Prozesses, zu dem nicht zuletzt eine "ausgeprägte ästhetische Selbstinszenierung" von Militanz und Männlichkeit gehörte (Kraushaar) und in dem nicht Mahatma Gandhi, sondern Che Guevara als Idol firmierte. Horst Mahlers Weg von der extremen Linken auf die extreme Rechte etwa folgte, wie Kraushaar herausstellt, einer Spur der Kontinuität von Antiamerikanismus, Antisemitismus und Ablehnung des Rechts- und Verfassungsstaates. Konsequenter noch, wenn auch zu einlinig, zieht Aly diese - schon zeitgenössisch wiederholt angesprochene - deutsche Kontinuität antibürgerlicher Unbedingtheit, wie bereits der provozierende Titel seines Buches andeutet: dass nämlich die 68er "ihren Eltern, den Dreiunddreißigern, auf elende Weise ähnelten. Diese wie jene sahen sich als ,Bewegung', die das ,System' der Republik von der historischen Bühne fegen wollte." Zugleich geht er, auf der Suche nach Erklärungen dann auch wieder nachdenklicher und differenzierter, einen Schritt weiter zur sozialkulturellen Disposition des gesamten, durch Kriege und Katastrophen tief erschütterten Landes, in dem die Auseinandersetzung in weitgehender gegenseitiger Verständnislosigkeit eskalierte: "Die Achtundsechzigerrevolte nahm ihren heillosen Lauf, weil der alten Bundesrepublik der ideelle Kern fehlte, den eine freie Gesellschaft braucht."

Was die Akteure von 1968 in jenem engeren Sinne des Zeitraums zwischen Frühsommer 1967 und Spätherbst 1969 betrifft, so unterscheidet Kraushaar in seinem Bemühen um Differenzierung, wenn auch terminologisch nicht immer ganz konsistent, vor allem zwischen zwei Richtungen: den antiautoritären "Gradualisten" der Gesellschaftsveränderung auf der einen Seite (die freilich auf Rätesozialismus und Anarchismus zielten) und den revolutionären "Maximalisten" auf der anderen, die ihrerseits in eine antiautoritäre und eine autoritäre Richtung zerfielen. Schon dies ist heterogen genug, und ein gemeinsamer Nenner lässt sich kaum finden; selbst die antiautoritäre Zielrichtung stellte nur bedingt ein verbindendes Element dar, galt sie doch von vornherein nicht für die antipluralistischen Marxisten, und auch für den Mainstream um den SDS führte die Reise schnell darüber hinaus, wenn es darum ging, "den Staat abzuschaffen und die bürgerliche Gesellschaft radikal umzuwandeln". Die Unüberbrückbarkeit der unterschiedlichen Positionen trat in aller Deutlichkeit zutage, als mit der Verabschiedung der Notstandsgesetze am 30. Mai 1968 das einigende Band der Opposition zerriss; die Maximalisten setzten zum "Sturmlauf gegen die Einrichtungen von Staat und Gesellschaft" an, der die einen in den Terrorismus führte, während die Gradualisten sich an innergesellschaftlichen Veränderungen abarbeiteten.

Was "68" kennzeichnete, war in erster Linie Ambivalenz, wie Kraushaar deutlich herausstellt: Freiheitsbewegung für eine "subjektbestimmte Modernität" einerseits und antibürgerliche Illiberalität im Zeichen des "neuen Menschen" andererseits. Vor diesem Hintergrund kann nicht einfach von einer "Fundamentalliberalisierung" der Bundesrepublik durch die ohnehin dezidiert antiliberalen 68er (mit der Verbalkeule "Scheißliberale") die Rede sein, wie sie von Lucke so emphatisch führt, und auch nicht von einer Beförderung der "Zivilgesellschaft", mit der die antibürgerlichen "68er" nichts zu schaffen hatten, auch nicht als unintendierte Folge intentionalen Handelns.

Denn dafür gibt es wenig empirische Evidenz. Vielmehr verbanden sich "68" und die Folgen mit einem allgemeinen Wertewandel, der schon in den mittleren sechziger Jahren eingesetzt hatte und der sich nun beschleunigte und verstärkte: einem Wandel von Pflichtwerten und der Akzeptanz des Vorgegebenen hin zu Freiheits- und Selbstentfaltungswerten, in emanzipatorischer ebenso wie in hedonistischer Dimension. Ebendies hat aber auch die bürgerlichen Kreise nicht unberührt gelassen. Individuelle Freiheitsspielräume - ein genuin bürgerlich-liberales Anliegen - haben ebenso zugenommen, wie sich die Geschlechterverhältnisse oder die Standards der Kindererziehung von den Festlegungen der bürgerlichen Gesellschaft in den sechziger Jahren entfernt haben. Auch die hedonistische Komponente hat sich allerorten verbreitet, und nicht selten haben gerade diejenigen, die den Werteverfall seit 1968 beklagen, soeben ihren vierten Jahresurlaub gebucht. Zugleich haben auch dort im Zeichen vordringender staatlicher Rundumregulierung genuin bürgerliche Orientierungen wie diejenige der Selbstverantwortung an Bedeutung verloren, wenn beispielsweise den Familien allenthalben kaum mehr zugetraut wird, die Erziehung und Persönlichkeitsbildung ihrer Kinder besser zu leisten als der Staat. In diesen sozialkulturellen Entwicklungen ebenso wie in der Tradition eines antibürgerlichen Misstrauens, das heute in der Tradition staatlichen Kümmerns daherkommt, liegt das eigentliche Thema 40 Jahre nach 68.

Götz Aly: Unser Kampf. 1968 - ein irritierter Blick zurück. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2008. 253 S., 19,90 [Euro].

Wolfgang Kraushaar: Achtundsechzig. Eine Bilanz. Propyläen Verlag, Berlin 2008. 335 S., 19,90 [Euro].

Albrecht von Lucke: 68 oder neues Biedermeier. Der Kampf um die Deutungsmacht. Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2008. 96 S., 9,90 [Euro].

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Perlentaucher-Notiz zur TAZ-Rezension

Der Debatte um 1968 widmet Stefan Reinecke gleich einen ganzen Stapel Besprechungen. Wolfgang Kraushaars "Achtundsechzig" versinke anders als andere Titeln zum Thema nicht in narzisstischer Selbstbeweihräucherung oder Selbstkritik, lobt Stefan Reinecke. Obwohl Kraushaar selbst eine der handelnden Personen von Achtundsechzig war, habe er sich durch präzise Recherche und Darstellung der Zeit verdient gemacht, und dabei auch ihre weniger appetitlichen Seiten wie die Selbstüberschätzung der Revoltierenden oder den antisemitischen Bodensatz in Teilen der Bewegung aufgezeigt. Im vorliegenden Band fasst Kraushaar allerdings im wesentlichen seine alten Befunde zusammen, berichtet der Rezensent. Kraushaar beschränke sich nicht auf die Betrachtung der von deutschen Achtundsechzigern produzierten Texte, sondern bezieht auch kulturelle Aspekte wie Kinderläden und Psychosekten mit in seine Bilanz ein, lobt er. Letztlich vermisst Stefan Reinecke an Kraushaars Band jedoch eine neue These sowie eine "deutende Richtung".

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