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Im Jahr 1969 öffneten die Behörden das Dachgeschoss einer Synagoge im Londoner East End. Dabei stießen sie auf die Kammer des Synagogendieners David Rodinsky, der spurlos verschwunden war. Zwanzig Jahre blieb der Raum unberührt - und doch wurde er so hinterlassen, als beabsichtigte der Bewohner, jeden Augenblick zurückzukommen. Fasziniert von seinen rätselhaften Schriften und Habseligkeiten macht sich Rachel Lichtenstein auf die Suche nach dem alten Juden und seiner Geschichte. Ihre Spurensuche führt sie nach Israel und Polen und auch in das Dickicht ihrer eigenen Vergangenheit.

Produktbeschreibung
Im Jahr 1969 öffneten die Behörden das Dachgeschoss einer Synagoge im Londoner East End. Dabei stießen sie auf die Kammer des Synagogendieners David Rodinsky, der spurlos verschwunden war. Zwanzig Jahre blieb der Raum unberührt - und doch wurde er so hinterlassen, als beabsichtigte der Bewohner, jeden Augenblick zurückzukommen. Fasziniert von seinen rätselhaften Schriften und Habseligkeiten macht sich Rachel Lichtenstein auf die Suche nach dem alten Juden und seiner Geschichte. Ihre Spurensuche führt sie nach Israel und Polen und auch in das Dickicht ihrer eigenen Vergangenheit.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 05.05.2000

Der große Sehnsuchtsplan
R. Lichtenstein und I. Sinclair entdecken einen seltsamen Heiligen

Mit vierundvierzig Jahren verließ David Rodinsky sein Zimmer im Londoner Vorort Whitechapel und kehrte nicht zurück. Zwanzig Jahre lang betrat kein Mensch den Raum über der alten Synagoge in der Princelet Street 19 A. Als man sein Zimmer 1987 öffnete, waren seine Stiefel mit Staub gefüllt, und das Kissen auf dem Bett trug noch den Abdruck seines Kopfes. In einem babylonischen Durcheinander türmten sich chinesische und arabische Wörterbücher neben Notizbüchern für Jiddisch und Japanisch, einem kabbalistischen Diagramm, einer Einkaufsliste - "zwei Zopfbrote, Eier, Wein für den Kiddusch" - und einem Heft mit irischen Trinkliedern.

Was hatte diese chaotische Hinterlassenschaft zu bedeuten? Wohin war David Rodinsky verschwunden, und vor allem: Wer war dieser Mann? Ein Sprachwunder und Orthodoxer, ein kabbalistischer Weiser und Narr Gottes, ein Zaddik, der Almosen mit beiden Händen verteilte, und ein Hanswurst, der in Cafés auf Löffeln musizierte, hatte Rodinsky diesem Zimmer offenbar sein ganzes Leben hinterlassen.

Nur von ihm selbst fehlte jede Spur. Der Mann hatte sich im Raum aufgelöst. Nachdem die Metropole den Verlust dieses ungewöhnlichen Menschen so lange nicht bemerkt hatte, verstand sie sein Zimmer nun als Symbol für das Verschwinden des alten East London. Whitechapel oder Spitalfields, wie es zu Rodinskys Zeiten hieß, ein Einwandererviertel, dem Bangladeschi, Hugenotten, Iren und Juden ihren Stempel aufgedrückt hatten, war längst zum Problemquartier geworden und stand an der Schwelle zur Sanierung. Bald rankten sich Legenden um den letzten Hausmeister der immerhin zweitältesten Synagoge Englands.

Dass nun nicht nur über das Schicksal des einsamen Gelehrten, sondern auch über die Versuche, seine Geschichte zu vermarkten, ein mitreißendes, anrührendes und erstaunlich beziehungsreiches Buch erschienen ist, verdankt der Leser zwei Menschen, die unterschiedlicher nicht sein könnten: der Künstlerin Rachel Lichtenstein und dem Publizisten Iain Sinclair. Nur in der Begeisterung, mit der sie sich ihrem Thema nähern, sind die beiden Autoren gleich.

Das Interesse Rachel Lichtensteins gilt erstens der Person Rodinskys und zweitens sich selbst. Ihre Nachforschungen sind Versuche einer Anverwandlung. Weil ihre Großeltern in der Synagoge unter Rodinskys Raum getraut wurden und als junges Paar in der Princelet Street lebten, weil Rodinsky in dem Jahr verschwand, als sie selbst geboren wurde, und sie sich, wie er, zur Orthodoxie hingezogen fühlt, glaubt sie sich mit ihm schicksalhaft verbunden: "Ich war überzeugt, dass Rodinsky mich auserwählt hatte, um seine Geschichte zu erzählen."

Mit heiligem Eifer stürzt sie sich in staubige Artefakte, zieht vorübergehend in die leere Synagoge, reist nach Polen und Israel, befragt Zeitzeugen, Freunde, Verwandte. Das alles wirkte naiv, ja lächerlich, würde sie nicht von einem reinen Gefühl getrieben. Ihre Besessenheit von diesem Fremden, die sie jede Grenze zwischen den beiden Leben reflexhaft niederreißen lässt, folgt dem Zwang zur Selbsterkenntnis. In der instinktiven Verschmelzung mit dem toten Gelehrten sucht sie Antworten auf ihre Fragen nach der jüdischen Identität - nach ihrer eigenen Identität.

Der besondere Reiz aber liegt darin, dass diese Suche die Form einer Detektiv-Geschichte annimmt und die Forscherin mit dem Leser bereitwillig Fortschritte und Rückschläge teilt. Manches Rätsel kann sie überraschend schnell lösen, andere nie. Am Ende, als sie das Schicksal des einsamen Hausmeisters aufgeklärt hat und auf dem Waltham-Forest-Friedhof zum letzten Mal das Kaddisch für ihn singt, hat sie noch immer kein Foto von ihm.

Iain Sinclair begleitet Lichtensteins Suche gleichsam aus der Luft. Während der Geist des verwirrten Eremiten in die junge Jüdin hineinfährt wie ein Dibbuk und sie sich bei ihrer Spurensuche immer tiefer in sein Leben gräbt, bewahrt der Journalist Abstand zu Rodinsky, zu Lichtenstein - "eine Regiegehilfin, die auf das Eintreffen des Hauptakteurs wartet" - und zu all den anderen Rodinsky-Forschern, die sich nun in Whitechapel einfinden. In dieser Biographie, die in Wahrheit eine Autobiographie ist, nimmt Sinclair die Rolle des Kommentators, des "Meta-Biographen" (Anthony Rudolf) ein.

Die von ihm geschriebenen Kapitel sind in mancherlei Hinsicht das Gegenteil der Lichtenstein-Passagen. Der Ton ist distanziert, beißend, ja zynisch. Der Mensch Rodinsky lässt ihn kalt. Sinclair fasziniert der Raum. Auratisch, ja mythisch erscheint ihm der Ort, der das Leben eines Mannes absorbiert hat. "Niemand, der die Schwelle übertritt, ist ungezeichnet", notierte er nach seinem ersten Besuch und meint damit vor allem die Grenzüberschreitung auf dem Immobilienmarkt, wo Whitechapel von Immobilien-Maklern als Nostalgie-Viertel im "koscheren georgianischen Stil" vermarktet wird: "Mit der imaginativen Wiederentdeckung des Gebietes - dem Bedürfnis, ihren hochgestochenen Prospekten eine Nimmerwelt aus Hugenotten, tanzenden Chassidim und hübsch finsteren Serienmördern aus dem Freimaurermilieu zu unterlegen - wurde Rodinsky ans Licht gezerrt."

Es ist Sinclairs Verdienst, dass er Rodinskys "Entdeckung" als clevere Vermarktung entlarvt und das Raunen um versunkene Welten in die Planung eines künstlich patinierten Stadtraumes einordnet. Die Idee zu einem gemeinsamen Buch stammt von ihm, doch nicht als Erfüllung ferner Prophezeiungen, sondern als bewusste Teilhabe an der Legende. Auch dieses Buch und seine Autoren stellen sich in den Dienst des großen Sehnsuchtsplanes, der den Namen Rodinskys trägt. Denn wie bei allen Legenden funktioniert auch die Verklärung Rodinskys nicht von selbst. Sie brauchte den besonderen Moment, in dem sich ihre Geschichte als Vehikel für Emotionen und Stimmungen anbietet. "Rodinskys Raum" ist zweifellos eine der präzisesten und offensten Darstellungen über die Verfertigung eines Mythos, die es gibt.

Es folgt der eigentümlichen Logik des Buches - und des Mythos -, dass Rachel Lichtenstein, die ihr Leben gegen das Rodinskys in die Waagschale geworfen hat, das Ende des Kabbalisten rekonstruiert, der offenbar verwirrt und verarmt in einer Anstalt starb. Als sie an seinem Grab steht, hat sie ihren Frieden gefunden. An David Rodinsky aber wird sie ihr Leben lang der Name ihres Sohnes erinnern.

SONJA ZEKRI.

Rachel Lichtenstein mit Iain Sinclair: "Rodinskys Raum". Aus dem Englischen von Monika Noll und Ulrich Enderwitz. Claassen-Verlag, München 1999. 347 S., geb., 44,- DM.

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 14.07.2000

Ins schwarze Loch
Wie ein Roman von Modiano: das Sachbuch „Rodinskys Raum”
Wie soll man das beschreiben, wenn man ein Buch immer nur seitenweise in der Trambahn liest, so wie man einen guten Whiskey immer nur in kleinen Schlucken genießt. Wenn man plötzlich den Eindruck hat, man bewege sich lesend in eine andere Welt, eine andere Zeit, ein anderes Leben. Und wenn man eigentlich nicht aufhören oder nach der letzten Seite gleich wieder von vorn beginnen möchte. Ja, wie soll man das beschreiben. . .?
„Rodinskys Raum” ist kein Roman, der uns mit dem Sirenengesang der Identifikation hinabzieht, sondern ein simples Sachbuch, das sich auch noch buchstäblich mit einem Niemand befasst. Nichts an seinem Titelhelden lädt zur Identifikation ein – er ist eine Leerstelle, ein Nichts, ein schwarzes Loch, auf das all unsere Imaginationen zustürzen, um sich in Staub aufzulösen. Dass dieses Zentrum nicht greifbar ist, macht einen Gutteil seiner Faszination aus. Denn die Autoren selbst müssen sich anstrengen, ihres Helden überhaupt habhaft zu werden. Ihre Suche ist das Thema – und das Ergebnis treibt einem die Tränen in die Augen, obwohl man von Anfang an alles gewusst hat. Wenn man so will, dann ähnelt das Ende dem des Films „Schindlers Liste”, in dem man auch erfahren durfte, welch reinigende Kraft die jüdischen Trauerrituale haben können.
Nochmal von vorne: Irgendwann Ende der sechziger Jahre verschwand ein Mann namens David Rodinsky aus einer Dachstube in einer Londoner Synagoge in Whitechapel, ohne eine Spur zu hinterlassen. Nicht dass irgendwer ihn vermisst hätte, aber als zehn Jahre später jemand auf die Idee kam, das Zimmer zu öffnen, fand man alles unberührt, nur vom Staub der Jahre überzogen. Der Vorfall erregte einiges lokales Aufsehen, der Raum wurde fotografiert, Magazine berichteten, aber niemand konnte damit rechnen, dass eine junge Künstlerin sich Jahre später des Falles annehmen und den Verschwundenen mit einer Verbissenheit suchen würde, als ginge es um ihre eigene Identität. Und das tat es in gewisser Weise ja auch.
Rachel Lichtenstein hieß die junge Frau, die sich in der Dachstube einnistete und versuchte, den Gegenständen – und den Fotos, die von ihnen gemacht wurden – das Geheimnis ihres Besitzers zu entlocken. Wie der Publizist Iain Sinclair, dessen Überlegungen ihre Erlebnisse kontern, anmerkt, war es so, als hätten sich der Verschwundene und sein Raum jemanden gesucht, der seine Geschichte erzählt - und nicht umgekehrt. Aber davon abgesehen hat sich an diesem fait divers die Imagination auf eine Weise entzündet, dass quasi ein ganzes Leben in Flammen stand.
Was die Geschichte so spannend macht, ist die Tatsache, dass der Fall Rodinsky nicht nur Wurzeln schlägt in die Geschichte der Juden in unserem Jahrhundert, sondern dass sich darin auch ein Stück Stadtgeschichte spiegelt. Denn „Rodinskys Raum” ist genauso sehr ein biografisches wie topografisches Unterfangen. Es berichtet auch davon, wie im Londoner East End nach und nach die Spuren jüdischer Tradition beseitigt wurden, wie Immobilienspekulation und Stadtentwicklung eingreifen in das, was wir Erinnerung nennen. So alt sind die Zeugen rund um die Synagoge in der Princelet Street No.  19, dass man mit jeder Seite befürchten muss, dass sie für immer verstummen werden.
So zieht Rachel ihre Kreise rund um das verwunschene Dachstübchen, dessen einstiger Bewohner eine Art missing link zu ihrer eigenen jüdischen Tradition bildet. So wie sie nach dem Tod des Großvaters den Namen Lichtenstein angenommen hat, um sein Erbe nicht sterben zu lassen, so bohrt sie sich in die Vergangenheit dieses Zimmers hinein, obwohl es nur eine Art Spiegel ist, in dem sie sich selbst erkennen kann. Es spielt dabei keine Rolle, dass Rodinsky kaum mehr war als ein armer Verrückter, der sich in seinen kabbalistischen Labyrinthen verloren und ein ärmliches Leben als Synagogendiener gefristet hat – er ist eine Metapher für all die jüdischen Schicksale, die im 20. Jahrhundert auf so grauenvolle Weise ausgelöscht wurden. Vielleicht liegt gerade in dieser Vermitteltheit die unglaubliche Kraft dieser Erzählung: Dass das, was sich jeder Beschreibung entzieht, hier darstellbar wird – über den Umweg von tausend Spiegeln.
So bewerkstelligt dieses Buch eines jener topografischen Wunder, die sonst nur den Romanen des Franzosen Patrick Modiano gelingen: dass ein toter Raum eine Geschichte in Bewegung bringt, die sich einer umfassenderen Historie entgegen spannt. Und man hat mehr denn je den Eindruck, dass in der Geschichte des jüdischen Volkes der Schlüssel zu allen Geheimnissen unserer Zeit liegt. Und man kann hier erfahren, wie viel Kraft und wie viel Leben investiert werden muss, um letztlich von einem schwarzen Loch verschlungen zu werden. Der Rest sind Tränen.
MICHAEL ALTHEN
RACHEL LICHTENSTEIN, IAIN SINCLAIR: Rodinskys Raum. Aus dem Englischen von Monika Noll und Ulrich Enderwitz. Claassen Verlag, München 1999. 360 Seiten, 44 Mark.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Ein offensichtlich überaus seltsames und faszinierendes Buch hat die Rezensentin Sonja Zekri da gefunden. Es erzählt, wenn man ihr glaubt, aus zwei ganz unterschiedlichen Perspektiven die Geschichte des Hausmeisters der zweitältesten Synagoge Londons, David Rodinsky, der 1969 im Alter von 44 Jahren veschwand. Ein Kabbalist sei er gewesen, ein "Narr Gottes" und Sprachgenie. Er wohnte über der Synagoge - und erst im Jahr 1987, zwanzig Jahre nach seinem Verschwinden, öffnete man seinen Raum voller Wörterbücher und kabbalistischer Diagramme. Rachel Lichtenstein, so skizziert es Zekri nähert sich Rodinsky mit heiligem Eifer an. "Von einem reinen Gefühl getrieben" lasse sie die Leser an ihren Recherchen über den rästselhaften Mann teilhaben. Der Journalist Iain Sinclair dagegen schreibe in einem fast zynischen und sachlichen Ton. Ihn interessiere nicht Rodinsky, sondern der Raum, "in dem er sein ganzes Leben hinterlassen" hat. Er wird für Sinclair auch für eine Chiffre für die Romantisierung des Whitechapel-Viertels, in dem die Immobilienmakler die Legende von Rodinsky dazu benutzen, den "Stadtraum künstlich zu patinieren".

© Perlentaucher Medien GmbH