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Wie der Mensch sich als Kulturwesen entdeckt . Von den Anfängen der menschlichen Emanzipation.
Die antiken Theorien zur Entstehung und Entwicklung der Kultur zeigen die menschliche Kreativität im Wechselspiel mit biologischen, ethnischen, geographischen und historischen Bedingungen. Bei diesen frühen Formen der Anthropologie und Kulturtheorie schafft das Nachdenken über Fortschritt und Niedergang der kulturellen Entwicklung auch enge Beziehungen zur Geschichtsphilosophie. Von Hesiod und Homer geht die Zeitreise über die Sophistik und Vorsokratik, Platon und Aristoteles, Poseidonios und…mehr

Produktbeschreibung
Wie der Mensch sich als Kulturwesen entdeckt . Von den Anfängen der menschlichen Emanzipation.
Die antiken Theorien zur Entstehung und Entwicklung der Kultur zeigen die menschliche Kreativität im Wechselspiel mit biologischen, ethnischen, geographischen und historischen Bedingungen. Bei diesen frühen Formen der Anthropologie und Kulturtheorie schafft das Nachdenken über Fortschritt und Niedergang der kulturellen Entwicklung auch enge Beziehungen zur Geschichtsphilosophie. Von Hesiod und Homer geht die Zeitreise über die Sophistik und Vorsokratik, Platon und Aristoteles, Poseidonios und Lukrez bis in die römische Kaiserzeit. Ausblicke bezeugen die Rezeption der antiken Gedanken in der Renaissance, der Aufklärung und der Gegenwart.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 18.03.2003

Väter verbrennen
Ein neues Gesamtbild antiken Denkens: Reimar Müllers große Lebensleistung wird Debatten entfachen / Von Kurt Flasch

Die Antike sieht in jedem Jahrzehnt ein wenig anders aus. Das Bild der antiken Philosophie und Kultur verschiebt sich, meist langsam, manchmal ruckweise. Die älteste Vorstellung des antiken Denkens, die heute in kulturellen Rückzugsgebieten noch nachwirkt, rühmt ihm nach, es habe die moderne Naturwissenschaft ermöglicht; die ältesten griechischen Philosophen heißen daher "die jonischen Naturphilosophen". So steht es in veralteten Lehrbüchern. Dieses Bild war nicht völlig falsch, denn tatsächlich kannten diese Denker nicht die nach-kantische Trennung von Philosophie und Naturwissen. Sie waren auch Astronomen und Biologen; sie trieben Geographie und studierten Verfassungen.

Dieses Bild wurde überlagert zunächst durch Nietzsches grandioses Gemälde vom tragischen Zeitalter der Griechen. Jetzt standen die vorsokratischen Denker als einsame Heroen in düsterer Weltnacht; erst Sokrates habe den Vernunft-Aberglauben aufgebracht, mit Denken ließe sich das menschliche Leben verbessern. Sokrates als Zäsur - Heideggerianer sprachen von ihm als dem Beginn der Seinsvergessenheit. Sie hatten kaum begonnen, das akademische Bild der antiken Philosophie zu bestimmen, da warf der große Philologe Werner Jaeger die These in den Ring, die frühen griechischen Denker seien nicht "Naturphilosophen", sondern philosophische Theologen gewesen. Dieser Entwurf hatte einen Vorzug: Er schlug die Verbindung von Parmenides über Platon zu Plotin und zum christlichen Neuplatonismus. Demnach hatte das vorsokratische Denken eine europäische Zukunft, die sich zu Hegel und Schelling hinzog; Sokrates/Platon bedeuteten nicht mehr den verderblichen Bruch. Die Vorsokratiker behielten ihre paradigmatische Rolle, aber sie waren nicht mehr tragisch umwölkte Grübler, sondern Seelen, von denen ein Kirchendenker sagte, sie seien von Natur aus christlich.

All diesen Auffassungen stellt nun Reimar Müller ein anderes Gesamtbild des antiken Denkens gegenüber: Von Homer bis Seneca sieht er die antiken Denker als Anthropologen und Entdecker der Kultur. Reimar Müller, ebenfalls ein guter Philologe, zeigt an einer kontinuierlichen Kette antiker Texte, wie die Menschen allmählich begreifen lernten, daß sie durch Denken und Dichten, durch Handwerk ("Künste") und Politik aus der Allmutter Natur heraustreten. Wie kamen die Menschen dazu, zu erfassen, daß ihre "Natur" nicht festgelegt war, daß sie Kultur als "zweite Natur" sich zulegen konnten? Fernhandel und Entdeckungsreisen zeigten an den Rändern der antiken Zivilisation ältere geschichtliche Entwicklungsstufen; Philosophen und Dichter entwarfen Zeitalterlehren, geordnet nach Gold, Silber und Blei, die es erlaubten, die Verschiedenheit kultureller Lebensformen wahrzunehmen, ohne sie nur der primitiven Zweiteilung von "Barbaren" und "Hellenen" zu unterwerfen. Die Macht der Zeit und die menschliche Bedeutung von technischem, politischem und kulturellem Fortschritt wurden damit zum Thema.

Statt sich im "tragischen Zeitalter" zu wissen, begründeten vorsokratische Philosophen ein neues Selbstvertrauen in die Möglichkeiten des Menschen; sie gaben ihm ein "Könnensbewußtsein". Erfindungsgeist, "List" und Feuergebrauch blieben nicht länger Frevel oder Makel. Xenophanes, "der erste große Aufklärer der griechischen Philosophie" (um 570 bis 480 v. Chr.) habe den "Grundgedanken eines evolutionistischen Weltbildes" gefaßt: Nicht von Anfang an wiesen die Götter den Sterblichen alles zu, sondern sie, die Sterblichen, fanden mit der Zeit Besseres. Reimar Müller gestattet gar, Anaxagoras (um 500 bis 428 v. Chr.) die "Auffassung von einer in der Evolution wirksamen Gesetzlichkeit" zuzuschreiben.

Tatsächlich war vom fünften vorchristlichen Jahrhundert an die Relativität der Kulturen, ihrer Weltbilder und Werte, nicht mehr zu übersehen. Philosophen untersuchten politische Ordnungen, ethische Haltungen und fromme Gebräuche, ob sie "von Natur" oder durch Verabredung bestünden. Der Geschichtsschreiber Herodot belegt den Kulturrelativismus mit folgender Geschichte: Der Perserkönig Dareios habe sich gewundert über die Verschiedenheit menschlicher Sitten. Um klarer zu sehen, habe er sowohl Griechen als auch Inder einbestellt und ihnen die Frage vorgelegt, ob es besser sei, verstorbene Väter zu verspeisen oder zu verbrennen. Jede der beiden Parteien habe mit Leidenschaft ihren Landesbrauch verteidigt. Herodot folgert, offenbar sei jedes Volk davon überzeugt, seine Lebensformen seien die besten.

Mit Texten dieser Art belegt Müller sein Bild des antiken Denkens als Kulturphilosophie und Fortschrittsbewußtsein. Diese Aufklärungsbewegung habe gegen konservativen Widerstand menschliche Selbstgestaltung und sogar die Arbeit als Wert entdeckt. Sie entwickele eine Vielfalt von Ansätzen, die sich nicht schematisch zusammenfassen ließen. Markant sei das Auseinandertreten zweier anthropologischer Konzepte: Einige Denker sahen den Menschen als "Stiefkind der Natur", als "Mängelwesen", und ließen in kausaler Betrachtung durch Werkzeuggebrauch und Sprache seine Institutionen und überhaupt Kultur entstehen, während andere Philosophen - teleologisch, zuweilen theistisch denkend - die Natur für den Menschen geschaffen sein lasse, so daß der Mensch nicht gezwungen sei, seine Form erst zu schaffen. Die Ansätze zu einer historisch-genetischen Anthropologie waren in der Antike oft gestört durch die Überzeugung von der Ewigkeit der Welt. Allerdings entwickelten einige Philosophen, darunter Aristoteles, ingeniöse Versuche, die Theorie von der ewigen Dauer des Kosmos mit Lehren vom Welt-Zusammenbruch und Wiederaufbau der Kulturen zu verknüpfen.

Müllers Buch setzt in der Auffassung des antiken Denkens einen kräftigen Akzent. Klar entfaltet es die Geschichte der antiken Dichtung, Philosophie und Historiographie. Es versteht sich, daß in seiner genetisch-anthropologischen Konzeption Demokrit und Lukrez größer herauskommen als in tragizistischen, fundamentalontologischen oder religionsphilosophischen Bildern der Antike. Xenophon, den unsere philologischen Lehrer als banal ansahen, wird nun erstaunlich positiv bewertet. Überzeugend verbindet Müller die Geschichte der Philosophie mit der Geschichte der antiken Dichtung. Er stellt in gut ausgewählten Zitaten, die moderat modern übersetzt sind, die Entwicklung des antiken Denkens und Dichtens vor Augen. Er berücksichtigt philologische Kontroversen zu einzelnen Texten, verliert sich aber nie in sie. Kurz: Man könnte fast sagen, er habe ein gelungenes Lese- und Denkbuch geschrieben.

Bei allem Respekt, den eine solche Lebensleistung verdient - es drängen sich Einwände auf. Sie betreffen vor allem die philosophische Begrifflichkeit, die so wenig differenziert gehalten ist, daß sie eine umstandslose Annäherung antiker Theorien an die französische Aufklärung des achtzehnten Jahrhunderts ermöglicht. Müller orientiert sich an zwei Fixpunkten: an der als Aufklärung gedachten Antike - und an Rousseau. Er schreibt griechischen Denkern eine "genetisch-historische" Analyse zu, als habe es seit Rousseau nicht eine neue, qualitativ andere Art der Historisierung der Welt gegeben. Er sagt zwar, er wolle die Diskontinuität im Entwicklungsgang des Wissens und Wertens genauso beachten wie die Kontinuität, aber seine Tendenz geht auf geschichtsüberlegene Annäherung. Dadurch kommt es zu unausgeglichenen Äußerungen über das Verhältnis von Antike und Neuzeit. Der Autor ist zu klug zu behaupten, "Aufklärung" sei eine überzeitliche Konstante, aber seine historiographische Praxis führt dahin. Er gebraucht Schüsselbegriffe wie "dialektisch", die er wertend ins Spiel bringt, ohne sie irgend zu historisieren.

Bewunderungswürdig sind Müllers Textkenntnis und sein menschfreundlicher, antitragizistischer Ansatz. Dieses Buch wird noch lange Diskussionen auslösen. Man wird fragen, warum es die Spätantike ausspart. Methodisch bedenklich bleiben die Sprünge von Seneca zu Maupertuis, als sagten diese Autoren dann schließlich doch dasselbe. Und warum bekommt Rousseau so außerordentliches Gewicht, nicht aber Voltaire oder Tocqueville? Der neuzeitliche Pfeiler in Müllers historiographischer Brückenkonstruktion ist zu schwach; er wirkt wie zufällig, aus nur biographischen Umständen gewählt. Und bei einem Buch mit diesem hohen geschichtsphilosophischen Anspruch, das niemand als kulturelle Altlast aus der DDR-Zeit bewerten wird, darf man ja wohl die Frage stellen, was, nach Ansicht des Autors, die Menschheit zwischen Seneca und Rousseau gemacht hat. Gewiß erwähnt Müller aus der Zwischenzeit gelegentlich Machiavelli und Giordano Bruno. Aber dies geschieht tonlos, offenbar ohne die Vertrautheit, die sein Umgang mit antiken Texten zeigt. Noch nicht einmal Pico della Mirandola wird erwähnt, der in dieses Buch gehört hätte, weil er vom Menschen sagt, er habe kein festes Wesen, damit er es sich selbst geben könne.

Man legt dieses Buch mit dem Gefühl aus der Hand, es lasse mehr offen als der Autor offen lassen wollte. Insofern regt es zur Weiterarbeit an. Insofern ist es ein markantes, ein ausgezeichnetes Buch.

Reimar Müller: "Die Entdeckung der Kultur". Welt- und Menschenbild der Antike. Artemis & Winkler Verlag, Düsseldorf 2003. 460 S., geb., 39,90 [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 30.06.2003

Nicht Tier noch Gott
Die Antike als erste Moderne
Aufklärung und Fortschritt sind aus der Mode gekommen. Wer heute die großen Begriffe im Munde führt, sieht sich schlimmen Verdächtigungen ausgesetzt: Er denke, schallt es dem Idealisten entgegen, eher an das eigene Fortkommen als den allgemeinen Fortschritt, will eher Aufschluss über sein Ich gewinnen als die Aufklärung der Massen vorantreiben. Doch den Außenseiter unter den Außenseitern, den Altphilologen unter den Geisteswissenschaftlern, ficht solche Rede nicht an. Er beugt sich über Sophokles, Euripides, Protagoras, hält seinen Rousseau liebevoll daneben und klatscht in die Hände: Vor 2500 Jahren begann die Aufklärung, und der zivilisatorische Fortschritt war fortan nicht zu stoppen.
Aus einer fernen Welt dringt Reimar Müllers kluges Buch zu uns, den Verdächtigern und Besserwissern. Da hat ein Mensch in seines Lebens letztem Drittel wieder und wieder die wohlvertrauten Gedankengänge durchwandert, hat die alte Frage den älteren Autoren gestellt: Was ist der Mensch? Mehr noch: Wann, warum und wie begann der antike Mensch, diese ernste Frage seinem Leben zuzumuten? Schon die thebanischen Greise, die Sophokles aufbot, wussten schließlich: „Viel Ungeheures ist, doch nichts / So Ungeheures wie der Mensch. ” Schon Theseus lobte laut Euripides die „nach dem Chaos und der Wildheit unsrem Dasein aufgeprägte Ordnung”, und Protagoras nahm das 18., das Jahrhundert der zweiten Aufklärung vorweg, indem er den Menschen als ein technisches Lebewesen deutete, dessen Kunstfertigkeit Ausdruck seiner Vernunft sei.
All dies geschah im fünften vorchristlichen Jahrhundert, zur Zeit der attischen Aufklärung, für Reimar Müller der Anbeginn des Nachdenkens über den Menschen und dessen Kultur. Gefasst in das Begriffspaar von technai und nomoi, von Künsten und Bräuchen, fand vor 2500 Jahren die „anthropologische Wende” statt: Der Mensch begriff sich als Schöpfer seiner Umwelt, als Sonderwesen eigenen Rechts, verschieden von Tier und Gott gleichermaßen, und „niemals zuvor wurden Grundfragen des politischen, moralischen und religiösen Lebens mit solcher Offenheit und Tiefe erörtert”.
Müller will indes seine grandiose, nur mitunter umständlich formulierte Darstellung fruchtbar machen für die Gegenwart. Cassirer, Gehlen, Levi-Strauss seien die legitimen Nachfolger der attischen Denker. Und indem Müller die Bedingungen der ersten Aufklärung analysiert, gibt er zu verstehen, woran es dem 21. Jahrhundert gebricht: an Urbanität, an Demokratie, an öffentlichen Debatten und allgemeinen Normen.
ALEXANDER KISSLER
REIMAR MÜLLER: Die Entdeckung der Kultur. Antike Theorien über Ursprung und Entwicklung der Kultur. Patmos, Düsseldorf 2003. 520 S., 39,90 Euro.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension

Reimar Müllers "Die Entdeckung der Kultur" hat Rezensent Alexander Kissler rundum überzeugt. Wie Kissler berichtet, versteht Müller die Antike als Beginn des Nachdenkens über den Menschen und dessen Kultur, deutet sie als "erste Moderne". Mit der "anthropologischen Wende" vor 2500 Jahren, erklärt Kissler, habe der Mensch begonnen, sich als Schöpfer seiner Umwelt zu verstehen, als Sonderwesen eigenen Rechts, gleichermaßen unterschieden von den Tieren und von Gott. Die Grundfragen des politischen, moralischen und religiösen Lebens, referiert er, seien "niemals zuvor" mit solcher "Offenheit und Tiefe" diskutiert worden. Kissler hebt hervor, dass Müller seine Darstellung für die Gegenwart fruchtbar machen möchte, wenn er etwa Cassirer, Gehlen und Levi-Strauss zu den legitimen Nachfolger der attischen Denker zählt. Zudem gebe Müller in seinem "klugen Buch" zu verstehen, woran es dem 21. Jahrhundert mangle, erklärt der Rezensent: an Urbanität, Demokratie, öffentlichen Debatten und allgemeinen Normen.

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