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Kann ein Turbanträger Bürger sein? Eine Sozialgeschichte der Muslime von Delhi im 19. Jahrhundert.
Delhi, die alte Hauptstadt der Moghuln, hatte im kolonialen 19. Jahrhundert trotz seines politischen Niedergangs immer noch eine starke kulturelle Ausstrahlungskraft. Es bildete sich ein muslimisches Bürgertum heraus, dessen Aufstiegsstrategie nicht Säkularisierung, sondern demonstrative Frömmigkeit war. Welche Bedeutung hatte die Religion für die Selbstdefinition des muslimischen Bürgertums? Diese Frage behandelt Margrit Pernau und verfolgt damit die Einflüsse und Ausprägungen des Islam in…mehr

Produktbeschreibung
Kann ein Turbanträger Bürger sein? Eine Sozialgeschichte der Muslime von Delhi im 19. Jahrhundert.

Delhi, die alte Hauptstadt der Moghuln, hatte im kolonialen 19. Jahrhundert trotz seines politischen Niedergangs immer noch eine starke kulturelle Ausstrahlungskraft. Es bildete sich ein muslimisches Bürgertum heraus, dessen Aufstiegsstrategie nicht Säkularisierung, sondern demonstrative Frömmigkeit war. Welche Bedeutung hatte die Religion für die Selbstdefinition des muslimischen Bürgertums? Diese Frage behandelt Margrit Pernau und verfolgt damit die Einflüsse und Ausprägungen des Islam in ihrem historischen und sozialen Kontext. Sie zeigt, für welche Gruppen und zu welcher Zeit sich religionsübergreifend plurale Identitäten entwickelten und wo sie die Religion prägten und von ihr geprägt wurden.

Inhaltsverzeichnis:
I. Einleitung

1. Vom Vergleich zur entangled history
2. Plurale Identitäten
3. Forschungsstand, Quellenmaterial und Aufbau der Arbeit

II. Briten und Moghuln

1. Die Errichtung der britischen Herrschaft
1.1. Mächte und Bündnisse: Nordindien zu Beginn des 19. Jahrhunderts
1.2. Die Eroberung Delhis und die Moghuln
1.3. Der Aufstand von 1807: Herrschaftslegitimation, Öffentlichkeit und Informationspolitik
2. Religion und Frömmigkeit
2.1. Der mystische Islam: die Sufis des Chishti Ordens
2.2. Reformbewegungen im Sufismus: der Naqshbandi Orden
2.3. Die Schule von Shah Abd ul Aziz
3. Familie und Abstammungsgemeinschaft
3.1. Die Repräsentation sozialer Gruppen
3.2. Von der indirekten Herrschaft zur bürokratischen Landverwaltung
3.3. Drei Fallstudien: der Fürst, der Arzt und der Rechtsgelehrte
4. Das Ende der Weißen Moghuln und der Beginn einer neuen Öffentlichkeit
4.1. Sir Edward Colebrooke: »Friendly intercourse with the natives«?
4.2. William Fraser: Ermordung eines Weißen Moghuln
4.3. Das Delhi College: Stätte der Begegnung zwischen Ost und West?
4.4. Vereine und Zeitungen
5. Adlige Damen, Kurtisanen und die Reform der weiblichen Sitten
5.1. Der britische Kampf gegen die Macht hinter dem Schleier
5.2. Geliebt und verachtet: die Kurtisanen
5.3. Wider die schamlosen Sitten: die islamische Erziehung der Frauen
6. Religionsgemeinschaften in der Auseinandersetzung
6.1. Mission, jihad und Emigration
6.2. Kuhschlachtung: die Definition einer Tradition
6.3. Sunniten und Schiiten: Muharram und das Verfluchten der Kalifen

III. Der Aufstand von 1857

1. Die traditionelle Ordnung: dem Untergang geweiht?
2. Meuterei, Restauration oder Revolution?
3. Die Niederschlagung des Aufstandes und der Kampf um seine Interpretation

IV. Hochblüte des britischen Empires

1. Adel und Bürgertum
1.1. Bewahrung des traditionellen Adels?
1.2. Die Panjabi Händler auf dem Weg zum Wirtschaftsbürgertum
1.3. Ein »bürgerlicher Wertehimmel« über Delhi?
2. Religiöse Identitäten zwischen Säkularisierung und Reislamisierung
2.1. Die Ausdifferenzierung der Hochschulen
2.2. Ahl-e hadis und Sufis in Delhi
2.3. Die »Laien« und die Selbstverwaltung der religiösen Institutionen
3. Bildung: koloniales System und Kulturnationalismus
3.1. Der Kampf um die staatliche Patronage
3.2. Die Ausweitung der Bildung und die Anglo Arabic School
3.3. Der Kampf um das kulturelle Erbe: Medizin und die Ausbildung der Ärzte
4. Zivilgesellschaft und koloniale Stadtverwaltung
4.1. Druckereien: Geschäft und Zentren der öffentlichen Meinung
4.2. Die Entwicklung der Vereinskultur
4.3. Die koloniale Stadtverwaltung
5. Die neue Frau
5.1. Romane und Erzählungen für bürgerliche Frauen
5.2. Religiöse Ratgeber für fromme Frauen
5.3. Die Stimme der Frauen
6. Die Politisierung der Gemeinschaften: Kommunalismus und Nationalismus
6.1. Der Kampf um die neue »community«: Homogenisierung und Abgrenzung
6.2. Nationalismus: Auf der Suche nach einer Identität für alle Inder
6.3. Die Khilafatbewegung

V. Schlussbetrachtung

1. Zylinder, Turban und Fez
2. Bürgertum im Okzident und Orient: entangled history oder Vergleich
3. Bürgertum und Religion

VI. Quellen- und Literaturverzeichnis
Autorenporträt
PD Dr. Margrit Pernau ist Senior Researcher am Forschungsbereich Geschichte der Gefühle am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung in Berlin.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 01.10.2008

Der Zylinder macht den Bürger nicht

Margrit Pernau führt in einer exzellenten Studie vor Augen, wie man den Begriff des Bürgertums mit Blick auf eine muslimische Gesellschaft erproben und erweitern kann.

In den vergangenen Jahren hat die Beschäftigung mit der außereuropäischen Geschichte in Deutschland an Schwung gewonnen. Noch immer gibt es allerdings bei manchen Historikern Asiens, Afrikas und Lateinamerikas die Tendenz, sich in der eigenen Nische zu bewegen und unter Gleichgesinnten die Ignoranz des Mainstreams zu beklagen. Die Indien-Spezialistin Margrit Pernau geht hingegen mit Verve in ein Feld hinein, das die deutschsprachige Historiographie über viele Jahre umfassend beackert hat: die Bürgertumsforschung. In ihrer ambitionierten und empirisch dichten Studie fragt die inzwischen am Berliner Max-Planck-Institut für Bildungsforschung tätige Historikerin, wie sinnvoll es ist, bestimmte muslimische Gruppen in Delhi im neunzehnten Jahrhundert als Bürger zu untersuchen.

Delhi, die alte, überwiegend muslimisch geprägte Hauptstadt des Moghulreiches, befand sich seit der Etablierung britischer Kolonialherrschaft zwar politisch im Niedergang, verfügte aber weiterhin über beträchtliche kulturelle Ausstrahlungskraft. Pernau analysiert facettenreich die Entstehung eines muslimischen Bürgertums in dieser Stadt. Dabei bildete das für die Kolonialherren traumatische Erlebnis der "Mutiny", des großen Aufstandes von 1857/58, eine wichtige Zäsur. Mit dem Scheitern der Erhebung ging das Ende des gesellschaftlichen Führungsanspruchs des Adels einher. Gruppen, die unter den Moghuln noch zahlreiche Privilegien genossen hatten, stiegen aufgrund der britischen Landreform ökonomisch und sozial ab, vor allem muslimische Händler profitierten von den sich verändernden politischen Konstellationen. Neben Kaufleuten und Handeltreibenden zählt die Autorin zum neuen muslimischen Bürgertum vornehmlich Personen, die ihren Lebensunterhalt durch den Einsatz ihrer Bildung verdienten, etwa Verwaltungsfachkräfte, Juristen und Ärzte - insgesamt also Individuen, "die im deutschen Kontext als Wirtschafts- und Bildungsbürger bezeichnet würden". In der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts existierte in Delhi, so ein zentrales Ergebnis der Studie, eine Gruppe, "die sich sowohl nach oben wie auch nach unten abgrenzte, ähnliche Berufsgruppen umfasste wie das deutsche Bürgertum und sich durch ein Gemeinschaftsgefühl, durch eine gemeinsame Identität auszeichnete".

Die Religion deutet Pernau als treibende Kraft der Verbürgerlichung. Bürgerlichkeit und reformierte islamische Frömmigkeit verstärkten sich gegenseitig. Der Weg aufsteigender Gruppen in das muslimische Bürgertum Delhis hing von ihrer praktizierten Religiosität ab. Zugleich war die reformierte Religion ein wesentliches Element der Abgrenzung des Bürgertums gegen den Adel und gegen die Unterschichten. Für viele muslimische Händler, denen ein direkter Aufstieg in die Kategorie der ashraf, der Respektablen, verwehrt blieb, erwies sich die Patronage der islamischen Reformbewegung als gangbarer Weg für die Transformation von Reichtum in soziale Ehre. "Nicht länger demonstrativer Konsum, sondern demonstrative Frömmigkeit wurde zum langfristig Erfolg versprechenden Zeichen sozialen Kapitals." Pernau verweist in diesem Zusammenhang mit Nachdruck darauf, dass die Spielräume, die Religion für die Gestaltung des eigenen Lebens eröffnete, wesentlich vom Geschlecht abhingen.

Die neuen Formen der Frömmigkeit, zu denen Frauen verstärkt angehalten wurden, drängten sie sukzessive in die private Sphäre des Haushalts zurück. Zugleich entstand eine Fülle von normativen Texten, in denen sich Männer untereinander austauschten, wie Frauen sind und wie sie sein sollten. Damit verbunden war der Versuch, dieses "Wissen" den Frauen zu vermitteln und sie so zu erziehen, dass sie dem neuen Idealbild möglichst nahe kamen. Pernau konstatiert, dass die Entwicklung weiblicher Berufstätigkeit von Musliminnen als Lehrerinnen, Anwältinnen oder Ärztinnen ohne die religiöse Reformbewegung nicht denkbar gewesen wäre.

Pernau nimmt es in ihrer Untersuchung mit einer zentralen Problematik der gegenwärtigen Geschichtsschreibung auf. Es geht ihr darum, die "Kompartementalisierung von europäischer und außereuropäischer Geschichte" zu überwinden, indem Ersterer globale Perspektiven und Letzterer ein Weg aus ihrem "Getto-Dasein" eröffnet werden. Grundvoraussetzung dafür sei, dass sich die europäische Historiographie von ihrem Selbstverständnis verabschiede, "gewissermaßen der Hausherr und Gastgeber" zu sein, "der andere einladen könne - oder ihnen eben auch aufgrund des Fehlens gewisser Voraussetzungen das Gastrecht entziehen kann". Doch allein der Hinweis darauf, die europäische und außereuropäische Geschichte seien miteinander verflochten, reiche noch nicht aus. Wie genau aber lassen sich diese Verflechtungen erfassen?

Diese Fragen erörtert das Buch am Beispiel der Kategorie Bürger. Deutlich wird dabei, dass es nicht darum gehen kann, einen auf Europa bezogenen Bürgerbegriff als Maßstab zu setzen und Entwicklungen in Nordindien als - defizitäre - Abweichungen zu interpretieren. Ebenso wenig vielversprechend erscheint der Autorin, ausschließlich mit lokalen Begrifflichkeiten wie khawas oder ashraf zu operieren, wenn nicht nur eingeweihte Kollegen angesprochen werden sollen. Ihr gleichsam pragmatischer Ansatz besteht darin, den Begriff "Bürger" beizubehalten mit dem Ziel, "das Universum der inneren Bilder, die mit ihnen verbunden sind, jedoch zu erweitern". Und es gelingt ihr überzeugend, den Bürgerbegriff so weiterzuentwickeln, dass nach Lektüre des Buches ein Bürger eben nicht nur mit Zylinder, sondern auch mit Turban vorstellbar wird.

Lediglich skizzenhaft thematisiert Pernau am Ende, auf welche Weise Forschung zu indischen Muslimen auch Anregungen für die deutsche Geschichte bereitstellen könnte, etwa in Bezug auf die Frage der Grenzen zwischen den Religionsgemeinschaften. Hier eröffnet dieses Buch ein weiteres großes Feld und deutet an, dass sich ein Vergleich indischer und deutscher Geschichte auf der Grundlage von Konzepten, die zunächst für den indischen Fall erarbeitet wurden, für beide Seiten als fruchtbar erweisen kann. Eine reflektierte und differenzierte Verflechtungsgeschichte, wie sie Pernau in ihrer Studie bietet, birgt demnach auch die Möglichkeit einer wahrhaft "verflochtenen Historiographie".

ANDREAS ECKERT

Margrit Pernau: "Bürger mit Turban". Muslime in Delhi im 19. Jahrhundert. Verlag Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2008. 404 S., geb., 49,90 [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 18.11.2008

Das Bürgertum ist kein deutsches Patent
Hut oder Turban? Margrit Pernaus Studie zu den Muslimen in Indien ist ein preisgekrönter Beitrag zur Globalgeschichte
Die Berliner Historikerin Margrit Pernau hat für ihre Studie „Bürger mit Turban” den diesjährigen Habilitationspreis des Deutschen Historikerverbandes erhalten, eine der bedeutendsten Auszeichnungen der Zunft. Das Urteil der Jury, das traditionell als ein Indikator besonders innovativer Forschung gilt, signalisiert in diesem Jahr vor allem eines: Außereuropäische Geschichte, die hierzulande über Jahrzehnte ein Nischendasein fristete, befindet sich auf dem Weg ins Zentrum der Geschichtswissenschaften.
Pernau untersucht die Entstehung eines muslimischen Bürgertums in Delhi, der Residenzmetropole der Moguln während des 19. Jahrhunderts, und verbindet dabei die in der europäischen und vor allem deutschen Historiographie angewandte soziale Kategorie des Bürgertums mit der Geschichte des kolonialen Indiens. Analog zum damaligen Deutschland bestand diese Klasse aus Wirtschaftsbürgern, darunter Kaufleuten und Händlern, ebenso wie aus Bildungsbürgern, also denjenigen, die ihren Lebensunterhalt durch den Einsatz von Bildung bestritten, etwa Verwaltungsbeamte, Anwälte, Ärzte oder Journalisten.
Die Entstehung dieser Schicht begann mit dem wirtschaftlichen und sozialen Aufstieg der muslimischen Händler in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Profil gewann sie jedoch erst in Folge der legendären Revolte gegen die britische Krone im Jahr 1857. Die Kolonialmacht schlug den Aufstand blutig nieder, jagte den letzten Großmogul nach Birma und wandelte die bisher indirekte in eine direkte Kolonialherrschaft um. Durch den endgültigen Sturz der Mogul-Herrschaft und eine Landreform verloren die alten Eliten nun all ihre Privilegien. Profiteur ihres sozialen Abstiegs war das muslimische Bürgertum, deren gemeinsame soziale Identität sich in der Folgezeit herausbildete.
Den Wertehimmel und die Lebenswelten der neuen Klasse veranschaulicht Pernau unter anderem in den Bereichen der Bildung, der Literatur und der Presse, ebenso wie am Vereinswesen, das vor allem nach britischem Vorbild organisiert wurde. Ein besonderes Kriterium, das über die Zugehörigkeit zum Bürgertum entschied und es von anderen gesellschaftlichen Schichten abgrenzte, war eine demonstrative Frömmigkeit. Die Religiosität der Muslime diente, so Pernau, gar als Triebfeder der Gemeinschaftsbildung. Islamische Reformbewegungen ermöglichten dabei allen Angehörigen des neuen Standes gleichermaßen, soziales und kulturelles Ansehen zu gewinnen, und gestatteten Musliminnen zudem den Eintritt in die Berufstätigkeit. Religiosität war hier keinesfalls ein Zeichen vormoderner Zeiten, sondern ging mit dem Prozess der Moderne einher.
Das große Verdienst dieses Buches ist es, dass es nicht nur einen hervorragenden Beitrag zur indischen Geschichte leistet, sondern auch die Bürgertumsforschung insgesamt bereichern dürfte. Denn obwohl in kaum einem anderen Feld der Sozialgeschichte in den vergangenen Jahrzehnten mehr Studien entstanden als in dem der Bürgertumsforschung, haben Historiker „Bürgertum” bisher fast ausschließlich als europäisches und hierzulande häufig als deutsches Phänomen untersucht. Ihr Interesse galt Fragen des Aufstiegs und Niedergangs der bürgerlichen Gesellschaft in Deutschland und dem deutschen Sonderweg. Dabei wagte man bestenfalls einen Vergleich von „drei bürgerlichen Welten” – der englischen, französischen und deutschen.
Zum mangelnden Interesse an der übrigen Welt trug das Bild einer genuin westlichen Moderne bei, die sich von der restlichen, als vormodern wahrgenommenen, Welt grundlegend unterschied; eine Vorstellung, die in den vergangenen Jahren jedoch relativiert wurde. Jüngere Studien legen nahe, dass sich im 19. Jahrhundert tatsächlich auch jenseits Europas vielerorts differenzierte Gesellschaften herausbildeten, mit mittleren Berufsgruppen, die sich von Unterschichten und Adel gleichermaßen abgrenzten. So fragte etwa der Konstanzer Historiker Jürgen Osterhammel nach der Ausdifferenzierung der chinesischen Gesellschaft, während seine Berliner Kollegin Ulrike Freitag die Gesellschaften in der arabischen Welt unter die Lupe nahm und uns auf die „Arabischen Buddenbrooks in Singapur” aufmerksam machte. Im Vergleich der Lebenswelt und des Selbstverständnisses des europäischen und deutschen Bürgertums mit dem Delhis weist Margrit Pernau auf erstaunliche Ähnlichkeiten hin, ohne dabei die Verschiedenheiten zu ignorieren. So unterschieden sich politische Ziele und die Möglichkeit politischer Partizipation unter britischer Kolonialherrschaft entscheidend von denen Westeuropas. Ebenso verschieden war der Rechtsstatus des Bürgers, der sich in Europa in einem jahrhundertelangen Prozess entwickelt hatte. Auch bildete sich in Delhi keine vergleichbare Industriebourgeoisie heraus.
Diese und andere Unterschiede möchte die Autorin jedoch nicht als Defizite, gemessen an europäischen Standards, interpretieren. Anstatt das europäischen Bürgertums-Modell dogmatisch auf außereuropäische Geschichte anzuwenden schlägt sie vor, dieses selbst zu hinterfragen und wo nötig zu erweitern.
Die Herausforderung, flexibel mit dem Begriff des Bürgertums umzugehen, ohne ihn dabei unnötig zu verwässern, gelingt der Autorin durchaus überzeugend. Gewöhnen wir uns also ruhig daran, uns den Bürger des 19. Jahrhunderts nicht bloß mit dunklem Filzhut vorzustellen, sondern auch mit einem weißen, um den Kopf gewickelten Tuch. DAVID MOTADEL
MARGRIT PERNAU: Bürger mit Turban. Muslime in Delhi im 19. Jahrhundert. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2008. 404 Seiten, 49,90 Euro.
Indische Muslime in New Delhi beim Gebet zum Ende des Ramadan – ihre Vorfahren begründeten ein muslimisches Bürgertum in Indien. Foto: AFP
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Rezensent Andreas Eckert ist voll des Lobes über Margit Pernaus Studie über das muslimische Bürgertum im Indien des 19. Jahrhunderts. Er sieht hier einen guten Anfang für die Erforschung der Verflechtung von europäischer und außereuropäischer Geschichtsforschung gemacht. Die Historikerin erprobt die Anwendung des Begriffs Bürgertum auf die aufsteigende Klasse der muslimischen Händler und der durch Bildung an Ansehen gewinnenden Muslime in Delhi, deren Religion Teil des steigenden Selbstbewusstseins wird, erklärt der Rezensent interessiert. Ihm imponiert, dass Pernau sich in ihrer Studie nicht einseitig am europäischen Bürgertums-Begriff orientiert, anhand deren sie die Ausprägung des Typs in Delhi dann als "defizitäre Abweichung" interpretiert. Und so fällt es nach der Lektüre dieses herausragenden Buches nicht schwer, sich einen Bürger "auch mit Turban vorzustellen", wie der begeisterte Eckert preist.

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