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Wer wahrnimmt, weiß, wie es ist, ein Wahrnehmender zu sein. Dieses besondere Wissen des Menschen um seine eigene Lage ist das Thema einer Phänomenologie, die den Versuch wagt, um der sicheren Erkenntnis willen auf jede Modellbildung zu verzichten. Gerade wenn sich die traditionellen Modelle der Wahrnehmung als Mythen erweisen, muß die Erfahrung des Wahrnehmens selbst zum Thema werden. Diese Erfahrung erlaubt nicht länger, das Ich der Wahrnehmung in den Mittelpunkt zu rücken und Wahrnehmung als Produkt des Subjekts zu denken. Sie verlangt vielmehr, die Abhängigkeiten umzukehren und die Folgen…mehr

Produktbeschreibung
Wer wahrnimmt, weiß, wie es ist, ein Wahrnehmender zu sein. Dieses besondere Wissen des Menschen um seine eigene Lage ist das Thema einer Phänomenologie, die den Versuch wagt, um der sicheren Erkenntnis willen auf jede Modellbildung zu verzichten. Gerade wenn sich die traditionellen Modelle der Wahrnehmung als Mythen erweisen, muß die Erfahrung des Wahrnehmens selbst zum Thema werden. Diese Erfahrung erlaubt nicht länger, das Ich der Wahrnehmung in den Mittelpunkt zu rücken und Wahrnehmung als Produkt des Subjekts zu denken. Sie verlangt vielmehr, die Abhängigkeiten umzukehren und die Folgen der Wirklichkeit der Wahrnehmung für das Subjekt zu beschreiben. Nicht das Ich, das die Wahrnehmung hervorbringt, wird thematisiert, sondern die Wahrnehmung, die mich hervorbringt und in der Welt sein läßt. Dieses Mich der Wahrnehmung gilt es zu beschreiben: Zu welchem Dasein, zu welcher Art der Weltpartizipation zwingt mich meine Wahrnehmung? Und inwiefern erlaubt etwa die Bildwahrnehmung eine Pause von dieser Partizipation? Das sind Grundfragen eines philosophischen Entwurfs über den Menschen, dem es über das Thema der Wahrnehmung hinaus um die Möglichkeit des phänomenologischen Philosophierens geht: um die Möglichkeit einer Philosophie ohne Modell.
Autorenporträt
Lambert Wiesing, geboren 1963, ist Professor für Philosophie und Inhaber des Lehrstuhls für Bildtheorie und Phänomenologie an der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Von 2005 bis 2008 war er Präsident der Deutschen Gesellschaft für Ästhetik. 2015 wurde er für sein Werk mit dem Wissenschaftspreis der Aby-Warburg-Stiftung ausgezeichnet.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 10.09.2009

Die Höflichkeit der Bilder

Von Präsenzpflicht, Wahrnehmungsstress und Pausen an der Weltteilhabe: Lambert Wiesing philosophiert von Grund auf.

Schlaf und Bilder haben, folgt man Lambert Wiesing, etwas gemeinsam. Beide befreien von den Zumutungen des üblichen Wahrnehmens mit all seinen Unverfügbarkeiten. Während aber der Schlaf eine Unterbrechung des Wahrnehmens darstellt, wird es beim Betrachten von Bildern "in entlasteter Form fortgesetzt". Man macht dann gleichsam eine Pause, darf etwas anschauen, ohne direkt involviert sein zu müssen. Bilder entbinden von "leiblicher Teilnahme"; sie erlösen den Betrachter von der "anstrengenden Daueranwesenheit in der wahrgenommenen Welt". Man könnte auch sagen: Bilder sind das Höflichste, was Menschen widerfahren kann.

Bildtheoretische Erörterungen bilden den Schlussteil - auch die Schlusspointe - von Lambert Wiesings wahrnehmungsphilosophischer Studie, mit welcher der in Jena lehrende Philosoph dem phänomenologischen Denken eine eindrucksvolle Renaissance beschert. Mit dem Untertitel "Eine Autopsie" erhebt er den Anspruch, "selbst zu sehen, um zu sehen, wie man selbst ist". Nicht der Wahrnehmende, sondern die Wahrnehmung selbst bildet dabei die Basis von Wiesings Reflexionen, könne man doch deren Realität - ebenso wenig wie die Realität der eigenen Gedanken oder Schmerzen - nicht bezweifeln.

Dass seinem an Gewissheiten orientierten Impetus etwas Unzeitgemäßes anhaftet, ist Wiesing durchaus bewusst. Doch das scheint ihn zu anzuregen. So ist der erste Teil seines Buchs eine fulminante Abrechnung mit vorherrschenden Strömungen der Philosophie, mit diversen Formen von Repräsentationalismus und Interpretationismus. Ihnen allen sind höchst vage Annahmen über das Verhältnis von Subjekt und Objekt gemeinsam; sie entwickeln also lediglich - jeweils bezweifelbare - Vorstellungen und Konzepte davon, wie sich Wirklichkeit im Wahrnehmenden konstituiert. Damit jedoch, so Wiesings Vorwurf, machen sie nichts anderes als die Vertreter der Wissenschaften, die auf ihren Feldern ebenfalls mit mehr oder weniger brauchbaren, letztlich aber immer austauschbaren Modellen operieren. Das sei jedoch ein Verrat an der Philosophie, die nichts als selbstverständlich voraussetzen dürfe.

Wiesings vorbildlich klare Analyse, die Schritt für Schritt Hypothesen dekonstruiert und zur Selbstreflexion animiert, schafft ein Bewusstsein für das "Mich der Wahrnehmung", das dem Buch seinen Titel gibt. Wer von der Wahrnehmung als dem Gewissen und Primären ausgeht, dem erscheint das Subjekt als ein "nachgängiges" Objekt. Statt von einem "Ich", das wahrnimmt, spricht man dann davon, dass die Wahrnehmung ein Subjekt - mich - "macht"; dies allerdings nicht als Tätigkeit, sondern in der Weise, in der ein Kind einen Mann zum Vater macht. Die Wahrnehmung verleiht mir also die Gewissheit, dass es mich gibt, während sie über die Substanz eines Ich nichts auszusagen erlaubt.

Dieses "Mich" ist aber auch dazu gezwungen, Subjekt seiner Wahrnehmungszustände zu sein. Und ebendas kann als Zumutung erfahren werden. Wiesing spricht vom "phänomenologischen Schicksal", das darin besteht, dass jede Wahrnehmung für ihr Subjekt "mit einer gnadenlosen persönlichen innerweltlichen Präsenz- und Partizipationspflicht verbunden" sei. Sich von der eigenen Wahrnehmung zu distanzieren oder gar zu dispensieren ist nicht möglich. Nur jene bereits erwähnten Partizipationspausen kann man sich gönnen: wenn man Bilder betrachtet. Wiesing spricht von Bildern als einer "physikfreien Zone", was zugleich heißt, dass der Betrachter an dem Geschehen, das auf ihnen zu sehen ist, weder teilhaben muss noch teilhaben kann.

Indem er Bilder als grundsätzlich nichtimmersiv ausweist, setzt sich Wiesing klar von einer Mode ab, die in den letzten Jahren grassierte. Um ihre eigene Legitimation und Bedeutung zu erhöhen, waren nämlich viele Bildwissenschaftler darum bemüht, Bilder gerade als besonders mächtig und wirkungsvoll darzustellen, ihnen also die Fähigkeit zu unterstellen, den Betrachter ganz zu vereinnahmen. Wäre das jedoch der Fall, würde der Rezipient glauben, einem realen Geschehen beizuwohnen: Das Spezifische des Bildes, eben seine Nur-Sichtbarkeit, wäre preisgegeben. Folgt man Wiesings Argumentation, sind statische Bilder noch entlastender als etwa ein Kinofilm, stellt dieser doch insofern noch eine Zumutung dar, als er dem Rezipienten vorgibt, was zu welchem Zeitpunkt gesehen werden muss.

Überhaupt wäre es lohnend, Wiesings Theorie für verschiedene Bildformen zu differenzieren und auszuloten, was es heißt, dass nur Bilder - oder allgemeiner Formen des Fiktionalen - Pausen vom Stress der Weltteilhabe ermöglichen. Eine Philosophie der Pause wäre also das nächste Buch, das man sich von diesem Autor wünscht.

WOLFGANG ULLRICH

Lambert Wiesing: "Das Mich der Wahrnehmung". Eine Autopsie. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2009. 228 S., br., 17,80 [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 11.12.2009

Mühe der Anwesenheit
Ohne Wahrnehmung kein Subjekt, sagt Lambert Wiesing
Zu Anfang des 20. Jahrhunderts gibt Rilke in den „Duineser Elegien” einen Zustandsbericht der „conditio humana”, der seine Bitterkeit über die Deformationen des modernen Bewusstseins zeigt: „Dieses heißt Schicksal: gegenüber sein und nichts als das und immer gegenüber.” Die „Wende zum Subjekt” in der Kunst und Philosophie der Moderne wie auch sein anschließendes Begräbnis in den postmodernen Diskurs- und Zeichendelirien erzeugen in ihrer Entgegensetzung denselben Effekt: Sie schließen den Menschen grundsätzlich von dem, was eigentlich „da draußen” ist, aus.
Mit einem phänomenologischen Begriffsinstrumentarium und in der Konzentration auf die Wahrnehmung wagt der Jenaer Philosoph Lambert Wiesing in seinem Buch „Das Mich der Wahrnehmung. Eine Autopsie” nun einen Neuanfang. Denn laut Wiesing ist es bereits die Idee eines „Zugangs” des Subjekts zur Wirklichkeit, die revidiert werden muss: Wo die Notwendigkeit eines Zugangs betont wird, setzt das Denken einen Dualismus voraus, den es durch den Zugang zu überbrücken gilt. Folglich arbeiten alle Philosophien, die einen – unmittelbaren oder mittelbaren, naturalistischen oder konstruktivistischen – Zugang des Menschen zur Wirklichkeit zu begründen suchen, auf der Basis einer prinzipiellen Weltlosigkeit des Menschen.
Wiesings Pointe ist es nun, im Raum der Wahrnehmung als dem ursprünglichsten Weltbegegnungsmedium des Menschen eine „inverse Transzendentalphilosophie” zu entwerfen: nicht das Subjekt ist der Grund seiner Wahrnehmung – die Wahrnehmung ist der Grund des Subjekts und seiner Wirklichkeit. Der archimedische Punkt ist das Gegebensein von Wahrnehmungen: das unerklärliche Faktum, dass wir Wesen mit Wahrnehmungsvollzügen sind, durch die allein uns eine unzweifelhafte Realität unseres Selbst und der Wirklichkeit unmittelbar bekannt ist. Hinter diesen Umstand gibt es kein Zurück, und die Frage einer Philosophie des Realen darf nicht lauten, durch wen, wie oder warum unsere Wahrnehmungen erzeugt werden, sondern wen und was sie da sein lassen.
Das Fazit des Autors lautet: wir können gar nicht anders, als uns im Rahmen unserer wahrnehmenden Weltbegegnung unserer Weltverbundenheit und der Realität der Wirklichkeit, wie sie sich uns gibt, sicher zu sein. Wir sind Wesen der Anwesenheit; durch die Wahrnehmung sind wir uns in einer Gegenwart unseres Selbst und unserer Umwelt gegeben, deren Bezweiflung schlicht keinen Sinn hat. Wiesings Herleitung, Entwicklung und Begründung dieses Zentralgedankens ist dabei von bestechender Klarheit und gedanklicher Breite sowie großer argumentativer Stringenz; ganz nebenbei erhält der Leser auch noch brillante Miniaturen der Theoriegeschichte – von der Wahrnehmungsphilosophie bis zur Bildtheorie – und eine veritable Einführung in die Phänomenologie.
Im Rahmen der gegenwärtigen Philosophie der „Präsenz”, die vor allem durch Hans Ulrich Gumbrecht angestoßen wurde, markiert Wiesings Entwurf auch in anderer Hinsicht eine neue Option. Weg von der hymnischen Feier unserer Gegenwärtigkeit und Weltverbundenheit zieht in Wiesings Philosophie ein neuer existentieller Ton in den Präsenz-Realismus ein. Wiesing betont immer wieder die „Zumutung” unserer Präsenz in der Wirklichkeit für uns. Gegen alle postmodernen Entwirklichungs- und Simulationsphantasien wird die Mühe und die Last der Anwesenheit zu einem Leitmotiv seiner Untersuchung. Wiesings Buch ist deshalb auch anthropologisch außergewöhnlich: weil es die physische Zudringlichkeit unserer Wirklichkeit ins Bewusstsein ruft und das „Ich” das sein lässt, das nur in diesen Zumutungen erfahrbar wird.
Neue Philosophie aus Jena
Wo Ich bin, stoße ich mich immer schon an den Kanten der Anwesenheit von Wahrnehmungsobjekten; Ich bin der blaue Fleck dieser Bedrängnisse. Wolfgang Welsch arbeitet in Jena derzeit an einer ähnlichen Reaktivierung eines fundamentalen Realismus in der Philosophie, allerdings mit den Mitteln von Evolutionsdenken und Hegelianismus; vielleicht könnte Jena nach 200 Jahren gar wieder zum Geburtsort eines philosophischen Paradigmas werden . . . Lambert Wiesings Buch jedenfalls lässt sich lesen als neue Grundlagentheorie unseres Selbstverständnisses als wahrnehmende Wesen, denen keine Unübersichtlichkeit oder Wirklichkeitsskepsis prinzipiell etwas anhaben kann und die gerade in der Zumutung ihrer selbst und ihrer Umwelt bei sich zu Hause sind. JAN URBICH
LAMBERT WIESING: Das Mich der Wahrnehmung. Eine Autopsie. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2009. 228 Seiten, 17,80 Euro
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.sz-content.de
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Sehr eingenommen ist Rezensent Wolfgang Ullrich von Lambert Wiesings wahrnehmungsphilosophischer Studie, die für ihn eine "eindrucksvolle Renaissance" des phänomenologischen Denkens darstellt. Im Zentrum der Überlegungen sieht er nicht den Wahrnehmenden, sondern die Wahrnehmung selbst, deren Realität nicht bezweifelbar ist. Überzeugend findet er die kritische Auseinandersetzung des Autors mit den dominierenden Strömungen der Philosophie in ihren diversen Formen von Repräsentationalismus und Interpretationismus, die unterschiedliche Konzepte davon entwickeln, wie die Wirklichkeit im Wahrnehmenden konstruiert wird. Ullrich attestiert Wiesing eine "vorbildlich klare Analyse", wenn dieser von der Wahrnehmung als dem Primären ausgeht, das das Subjekt als "nachgängiges" Objekt "macht". Überaus anregend scheinen ihm zudem die bildtheoretischen Reflexionen des Autors.

© Perlentaucher Medien GmbH