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Philologie ist seit mehr als zwei Jahrtausenden die Beschränkung auf die Pflege historischer Texte gewesen, wie sie für die eher bescheidenen Nachgeborenen von "großen Epochen" in der westlichen Kultur typisch war. Philologie konzentriert sich auf das Sammeln, Restaurieren, Rekonstruieren und Kommentieren von Texten aus meist entlegenen Vergangenheiten.
Sieht man von wenigen, eher anekdotischen Ausnahmen ab, so hat Philologie als historische Textpflege nie einen Hauch von politischer Macht besessen. Fern von aller Politik liegt die Macht der Philologie vielmehr in einem Potential ihrer
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Produktbeschreibung
Philologie ist seit mehr als zwei Jahrtausenden die Beschränkung auf die Pflege historischer Texte gewesen, wie sie für die eher bescheidenen Nachgeborenen von "großen Epochen" in der westlichen Kultur typisch war. Philologie konzentriert sich auf das Sammeln, Restaurieren, Rekonstruieren und Kommentieren von Texten aus meist entlegenen Vergangenheiten.

Sieht man von wenigen, eher anekdotischen Ausnahmen ab, so hat Philologie als historische Textpflege nie einen Hauch von politischer Macht besessen. Fern von aller Politik liegt die Macht der Philologie vielmehr in einem Potential ihrer Praktiken, mit dem sie - oft ganz gegen Selbstverständnis und Intention der Philologen - deren Begierden und Körper gegenwärtig werden läßt. Hinter dem Sammeln von Texten zum Beispiel steht die Begierde, sich diese einzuverleiben; hinter dem Restaurieren von Texten der Wunsch, sie zu verkörpern; hinter dem Kommentieren von Texten die Sehnsucht nach einer Materialisierung unbegrenzter Wissensfülle. Und sobald die Macht der Philologie die Präsenz der Körper heraufbeschworen hat, erlaubt sie es den Philologen, dem Tod den Rücken zuzukehren und sich einer schier unendlichen Komplexität des Erlebens durch Texte zu öffnen.

In seinem neuen Buch bezieht Hans Ulrich Gumbrecht eine prägnante Position zwischen den neuen, durch stetige Expansion vom Konturenschwund bedrohten Kulturwissenschaften und der Tradition einer selbstgenügsamen Konzentration allein auf Texte; eine Position auch zwischen der so leicht ins Predigen geratenden Interpretation (samt ihrer philosophisch-hermeneutischen Absegnungen) und der längst zu einem kanonisierten Verfahren abgestumpften Dekonstruktion.
Die Anerkennung der Macht der Philologie gleicht dem Genuß eines sprengenden und faszinierenden, eines wunderschönen und intellektuell herausfordernden Feuerwerks mit all seinen special effects.
Autorenporträt
Gumbrecht, Hans UlrichHans Ulrich Gumbrecht wurde 1948 in Würzburg geboren. Er studierte Romanistik, Germanistik, Philosophie und Soziologie in München, Regensburg, Salamanca (Spanien) und Pavia (Italien). Nach seiner Habilitation 1974 war er von 1975-1982 Professor in Bochum und von 1983-1989 an der Universität in Siegen. Von 1989 bis 2018 hatte er den Lehrstuhl für Komparatistik an der Stanford University inne. Gegenwärtig ist er ständiger Gastprofessor an der Université de Montréal, am Collège de France sowie an der Zeppelin Universität in Friedrichshafen. Für sein Werk erhielt er zahlreiche Auszeichnungen, zuletzt 2015 den Kulturpreis der Stadt Würzburg.

Schulte, JoachimJoachim Schulte ist Autor mehrerer Bücher über Ludwig Wittgenstein und Mitherausgeber der Kritischen Editionen von Wittgensteins Hauptwerken.
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 24.05.2003

Die Ränder mit
Gelehrtheit füllen
Hans Ulrich Gumbrecht über
das philologische Vergnügen
Die gelehrten Spezialisten reden gerne von ihren Reisen in die Vergangenheit. Aber was machen sie, wenn sie dort angekommen sind? Der Humanist Pomponio Leto, Professor für Rhetorik in Rom und Leiter der päpstlichen Accademia, stieg 1464 mit seinen Kollegen hinunter in die antiken Katakomben. Er tat das nicht nur, um den Toten nahe zu sein, sondern auch, um den eigenen Namen in die spätantiken Inschriften und Malereien einzuritzen, sich in die Vergangenheit einzuschreiben im Wortsinn.
Um diese Libido der Philologen geht es in Hans-Ulrich Gumbrechts neuem Buch, und es spricht in vergnügtem Plauderton und mit Verve davon. Die Philologie, wörtlich: „Begeisterung für das Wort”, hat eine ehrwürdige Geschichte, die zu den Humanisten und den Kirchenvätern zurückreicht, von den romantischen Nationalphilologien des 19. Jahrhunderts ganz zu schweigen. Gumbrecht geht es allerdings weniger um ihre Historie, sondern um die literaturwissenschaftliche Arbeitspraxis der Gegenwart. Seine „Macht der Philologie” handelt von der Begeisterung der Gelehrten für das Fragment. Er beschreibt das Edieren als den Wunsch des Herausgebers, den toten Autor selber buchstäblich zu verkörpern und sich in seinen Text einzuschreiben. Er beschreibt die Praxis des Kommentierens als unaufhörliches gelehrtes Vollschreiben der Ränder und verbindet das mit sanft ironischen Bemerkungen über die heroische Pose der Dekonstruktivisten, die sowohl Primärtext wie dessen unabschliessbaren Kommentar gleichzeitig verkörpern wollen. Die Historisierung schließlich, bemerkt Gumbrecht, erschaffe die Texte als so zusagen sakrale Objekte, die Distanz herstellen und so den Wunsch nach Berührung (wie bei Pomponius Leto) und, etwas boshaft gesagt, nach nachträglicher Erlösung produzieren.
All das wird mit Fußnoten und vielfachen Anspielungen versehen, eine gelehrte Reise von Dilthey und Gundolf bis Gadamer und Greenblatt, von Weber und Wilamowitz bis zu ihm selbst (denn dieser Autor schreibt nicht nur über Präsenz, er ist gleichzeitig gedoppelt in Text und Fußnoten ab- und anwesend). Seine Heuristik ist die des Abenteuers. Die Macht der Philologie, meint er, bestehe darin, nicht funktionalisierbares Begehren aus dem alten Zeug herauszuholen oder zumindest als Versprechen sichtbar zu machen. Gelehrtes Lesen sei vergnügliche und zugleich schmerzhaft mühsame Übung. Er wendet sich gegen die Krisenwahrnehmung des eigenen Fachs. Niemand, so Gumbrecht mit plötzlicher Schärfe, könne etwas mit den Sonntagsreden von den Geisteswissenschaften als „Kompensation” oder „Orientierung” anfangen, als angebliche Garanten der Aufklärung oder als Barrieren gegen „Remythisierung”. Nicht Kürzungspläne der Ministerien, sondern der eigene Ennui der Akademiker sei der Geisteswissenschaften schlimmster Feind.
Böse Briefe aus dem Kerker
Wer will da widersprechen? Gumbrecht liefert schöne Aperçus über die Nationalphilologien als imaginierte Vorgeschichten und kluge Einsichten in die unterschiedliche Traditionen der Aneignung klassischer Texte, mit Deutschland und Frankreich auf der einen Seite und den unromantischen Adaptionen in Großbritannien und den USA auf der anderen. Und er liefert eine schöne Verteidigung der verlangsamten Zeit, die Konzentration auf komplexe Texte eben mit sich bringt: ein Privileg, für das man durchaus Geld verlangen kann, findet er.
Wovon er freilich nicht spricht, sind die Institutionen, in denen Philologen arbeiten, nämlich die Universitäten selbst. Denn die Gelehrten sind auf ihren intensiv beackerten Textplantagen stets sowohl Produzenten wie Konsumenten. Ihre Personae kommen bei Gumbrecht schlicht nicht vor. Der ehrgeizige Assistent, der charismatische Großprofessor als Impresario der Arbeit anderer Leute, der autistische Platzhirsch, der melancholische Privatdozent, allesamt miteinander verbunden in Netzen von Patronage, Abhängigkeit, Klientelbeziehungen und mit dem guten alten Klebstoff kollegialen Neides ... – denn so ganz abstrakt und uneigennützig- gelehrt geht es auf dem Planeten Accademia auch nicht immer zu.
Dazu hätte man gern etwas gelesen, zumal US-amerikanische Verhältnisse sich in dieser Hinsicht von deutschen oder italienischen ziemlich deutlich unterscheiden. Wie eng die Geschichte der Philologie verbunden ist mit dem Kampf um Posten, mit bösen Nachreden, ausgetragen mit der Waffe der „emendatio”, der Textverbesserung, hat Anthony Grafton unlängst in seinem schönem Buch über Leon Battista Alberti dargestellt. Wissen wird nur einmal in Institutionen mit begrenzten Budgets legitimiert, im 15. wie im 21. Jahrhundert.
Vielleicht schreibt Gumbrecht darüber einmal eine Fortsetzung. Sein älterer Philologenkollege Pomponio Leto hat sich jedenfalls seines hohen Amts in der päpstlichen Accademia nicht lange erfreuen können. 1468 wurde er auf Anstiften neidischer Konkurrenten als angeblicher Sodomit und Verschwörer verhaftet. In den unterirdischen Kerkern der Engelsburg hat er neben bösen Briefen gegen die Kollegen auch eine Grammatik geschrieben.
VALENTIN
GROEBNER
HANS ULRICH GUMBRECHT: Die Macht der Philologie. Über einen verborgenen Impuls im wissenschaftlichen Umgang mit Texten. Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2003. 137 S., 14,90 Euro.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
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Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 31.05.2003

Tu mir weh, du toller Text!
Berühren und Berührtwerden: Hans Ulrich Gumbrecht erweist sich als gelehrter Liebhaber der Philologie

Philologen gelten als "trockene Schleicher", die "am Buchstaben haften und grammatischen Haarspaltereien nachhängen". Dieses Klischee aber war einmal Koketterie eines Machtbewußten. Es stammt von Ulrich von Wilamowitz-Moellendorf, dem berühmtesten Altphilologen der wilhelminischen Epoche, der zutiefst von der sittlichen Bedeutung der antiken Kultur überzeugt war. Seine popularisierenden Übersetzungen der griechischen Tragiker erreichten immense Auflagen, so daß sich der Professor als Souverän und Volkserzieher verstehen konnte. Heute ist er fast vergessen, mit dem Bildungsbürgertum traten auch die Kathederfürsten ab. Wer heute Klassiker ediert, weiß sich von der Macht, der Öffentlichkeit und allem pädagogischen Eros entfernt.

Die Mutter des amerikanischen Romanisten Hans Ulrich Gumbrecht pflegte Grundschullehrer Philologen zu nennen, was vermutlich nicht nett gemeint war. Aber auch an den Universitäten scheint sich nach Gumbrechts Eindruck der Begriff dermaßen verlaufen zu haben, daß nun die Chance besteht, den Philologen neu zu erfinden. Gumbrecht sieht ihn als Virtuosen der "historischen Textpflege", dessen Grundtätigkeiten die "Identifizierung von Fragmenten, die Herausgabe von Texten und das Verfassen historischer Kommentare" sind. Das klingt zunächst nicht gerade aufregend, vielmehr, wie sich die medizinisch ausgebildete Mutter vielleicht gesorgt hätte, nach trockenem Hals und Staublunge.

Aber die Philologie hat Gumbrecht zufolge eine "verborgene lebendige Seite". Philologie ist sogar geil, sie steckt voller Wünsche und Vitalkräfte, sie strebt nach einer "physischen und räumlich vermittelten Beziehung zu den Dingen der Welt". Diese Bestimmung läuft auf die Wiedergeburt des romantischen Philologen hinaus, der sich gemäß Johann Georg Hamanns Einheit von Geist, Seele und Sinnlichkeit als leidenschaftlicher Liebhaber verstand. Nach dem Zerfall der überkommenen Ordnungsvorstellung wollte er sich im Verstehen neu mit der Welt und ihrer Geschichte verbinden.

Gumbrecht entkleidet nun die Geliebte ganz und erfreut sich an ihrem sinnlichen Körper. Philologie ist ihm Wunsch nach Berührung und Berührtwerden. Gerade das Fragment motiviert das Begehren bis hin zum Einverleiben. Im Zusammenwirken von Imagination und handwerklich gesicherter Sachlichkeit verwandeln sich die Texte "in Objekte der Begierde". So ist der Philologe ein Virtuose der Hingabe ans Objekt und zugleich "an die Illusion, man könne die Toten dazu bringen, mit uns zu reden". Wie alle Lust will also auch die des Philologen Ewigkeit.

Das Fragment motiviert das Begehren, die Edition erzeugt einen "geistigen Raum der Pluralität", in dem man sich mit Takt zu bewegen hat. Dem Herausgeber obliegt, Autoren- und Editorenrollen als Schwäche oder Stärke, als Hingabe oder Überwältigung ins Verhältnis zu setzen. Vielleicht wird es in einer künftigen Philologie sogar "genderspezifische Editorenrollen" geben. Den Traum von höchster Lust aber findet bewußt oder unbewußt der Philologe im historischen Kommentar. Zwar steht der seinem Wesen nach am Rande, aber Ränder vollschreiben macht Spaß, es erzeugt "Fülle" und Verweisung. Daher ist der Kommentar der Ort, an dem der Wunsch nach Verbindung raumzeitlich Form bekommt. Der Kommentator schreibt sich in eine Tradition ein und wird zugleich der Zukunft teilhaftig. Auch die Poesie der Philologie besteht in der Zeitekstase von Erinnerung und Ahnung. In der Dialektik von Zurücktreten und Aneignen, von Lassen und Festhalten, verwandelt sich Ferne in Nähe, Fremdheit ins Bekannte und Geliebte, Totes in Lebendiges. Der Philologe - ein Pygmalion.

Konsequent verzichtet der philologische Genießer daher auf alle Wichtigkeitsfloskeln, die zur Legitimation der Geisteswissenschaften gehandelt worden sind. Die Aufgabe der akademischen Lehre besteht für Gumbrecht in romantischer Tradition in einer prozessualen Bildung, die "geistige und persönliche Selbständigkeit" hervorbringen soll. Lehre ist vor allem "Produktion von Komplexität", die Erleben von "Präsenz" ermöglichen soll. Wer sich nicht "auf der Schwelle des Augenblicks" niederlassen kann, dem ist Philologie noch nicht leibhaftig begegnet. Sie hat daher keine Resultate zu vermitteln, sie erzeugt lediglich Aufmerksamkeit und Genußfähigkeit. Die Akademie findet aber nur in den Propyläen statt, sie führt "vor Türen, in die man nicht eintritt". Der Sinn der Institution besteht nicht in ihren Resultaten, sondern in der "Erzeugung von Überschußzeit", wie sie zu aller Liebe und zum Selbstsein nötig ist. Die Lehre soll die Studenten nicht auf den gesellschaftlichen Zeittakt trimmen, vielmehr für die Dauer des Studiums in die Situation der "Unzeitgemäßheit" versetzen, in die Distanz zu aller Zweckrationalität.

Humboldt kam nur bis Stanford, romantischer Enthusiasmus muß unter kalifornischen Himmel flüchten. Wer sich hierzulande davon anstecken ließe, würde ein unglücklicher Liebhaber und armer Tor. Denn Gumbrechts Bildungsideal steht im Widerspruch zu allem, was die idiotische deutsche Bildungspolitik derzeit anrichtet. Namentlich dient die neueste halbamerikanische Reformattrappe des Bachelorstudiums der Vernichtung der verbliebenen Reste von Überschußzeit. In verkürzten, "entrümpelten" und standardisierten Studiengängen wird angebliches Wissen effizient und agenturüberwacht abgeprüft. Präsenz schlägt sich in der Anwesenheitsliste nieder, und wenn einen der Junggesellen noch die Lust am Text befallen sollte, muß er sie im Kämmerlein befriedigen. So wird der Bachelor of Arts vielleicht bald wieder als Philologe bezeichnet werden, aber nicht nach Wilamowitz, denn für grammatische Haarspaltereien wird das Werkzeug fehlen. Schon gar nicht im Sinne Gumbrechts, denn in deutschen Hörsälen gilt für Lust ein Numerus clausus von plusminus Null.

Hans Ulrich Gumbrecht: "Die Macht der Philologie". Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2003. 137 S., br., 14,90 [Euro].

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Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension

Nichts geringeres als einen ausgeprägten, durchaus psychoanalytisch zu erläuternden Willen zur Macht, genauer vielleicht: Bemächtigung, wittert Hans Ulrich Gumbrecht im - wie der Rezensent Michael Adrian formuliert - "vermeintlich so staubtrockenen" Geschäft des Philologen. Jeder philologische Kommentar, überspitzt gesagt, ein "Begehren nach Präsenz", der Wunsch, sich an die Stelle dessen zu setzen, den man kommentiert. Die Kehrseite dieses Verlangens ist der notwendige Entzug des Textes, der es erst ausgelöst hat, was das ganze zu einer, so Adrian, "eigentlich perversen Tätigkeit" mache. Bis dahin scheint der Rezensent Gumbrecht beinahe folgen zu wollen - macht dann aber seine grundsätzlichen Bedenken deutlich. Das alles nämlich laufe bei Grumbrecht auf einen erstaunlichen Traditionalismus hinaus, etwa im Bemühen, die Autorenintention als Kohärenzgarantie zu rehabiliteren. Was bei der Imagination des direkten Kontakts des Forschersubjekts mit einem Autorensubjekt verschwindet, so die Warnung des Rezensenten, ist dann das für die Philologie doch eigentlich Entscheidende: der Text.

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